aus telegraph 8/1989
vom 16. November 1989
Am 24. Oktober wurde, wie von der SED vorgeschlagen, von der Volkskammer Egon Krenz mit wenigen Stimmenthaltungen zum Staatsratsvorsitzenden gewählt. Vor der Volkskammersitzung fand eine SED Fraktionssitzung statt. Diese Sitzung wurde von einem Techniker der Volkskammer mitgeschnitten. Beim Anhören des Bandes stellt sich eindrucksvoll das Bild einer führenden Partei dar, die vollständig erledigt ist. Ein Schweriner erzählt lallend, wie er in den fünfziger Jahren plündernde Bauern mit seiner Dienstpistole zurückgeschlagen habe, eine Leipziger Genossin, die das Sentimentale vertritt, glaubt das Vertrauen der Bevölkerung durch die Wiederherausgabe des Kinderbuches „Vorwärts Egon“ neu beleben zu können. Im Folgenden das Statement des damiligen Berliner Parteichefs Schabowsky, das uns besonders interessant erschien. Offenbar muß vorher eine Information des Chefs des Sicherheitsbüros des ZK, Wolfgang Herger, über das ganze Ausmaß der Übergriffe der Sicherheitsorgane erfolgt sein:
„Genossen, zu der Information, die der Genosse Herger hier gegeben hat. Ich glaube, daß das eine ganz aktuelle politische Dimension hat, auch in Zusammenhang mit der Wahl des Staatsratsvorsitzenden. Wenn wir in dieser Frage nicht schnellstens Klarheit schaffen, auch gegenüber der Bevölkerung… Wir können uns ja in diesem Kreis erzählen was wir wollen. Es geht darum, daß wir klare Antworten für die Bevölkerung haben, denn wir wollen ja mit dieser heutigen Wahl weiter voranziehen. Wir wollen ja, daß die Autorität der Partei sich weiter stärkt und daß von der Bevölkerung die politische Konzeption der 9. Tagung des Zentralkomitees besser und tiefer verstanden wird. Wir brauchen uns doch in diesem Kreis nicht davon zu überzeugen, daß die Wahl von Egon Krenz von uns als notwendig empfunden wird. Es kommt darauf an: Wie überzeugend können wir diese Wahl auch draußen vertreten. Und insofern hat die Genossin natürlich völlig recht. Wir machen Politik und keine Selbstbestätigung hier. Wir haben also politische Überlegungen anzustellen. Und insofern muß ich zu der Erklärung des Genossen Herger folgendes sagen: Sie unterscheidet sich für meine Begriffe erheblich von dem Interview, das der Generalstaatsanwalt der DDR vor einiger Zeit im Fernsehen gegeben hat. Und zwar insofern, als Du, Wolfgang, deutlich zum Schluß Deiner Bemerkungen sagst, daß es Übergriffe gegeben hat und daß diese Übergriffe geahndet werden. Wir haben uns in Berlin darüber unterhalten, es betrifft ja auch die politische Situation in Berlin. Und das ist ein Frage, die überall eine Rolle spielt. Und wir müssen verhindern, daß der Mann, den wir an die Spitze unserer Partei gewählt haben, systematisch demontiert wird. (Beifall)
Also persönliche Loyalitätserklärungen für Genossen Erich Krenz nützen niemandem, wenn man sich darauf beschränken wollte. Ich habe also gestern mit dem Oberbürgermeister und mit den Leuten, die diese Demontage bis zu einem bestimmten Grade zu betreiben versuchen, ein sehr intensives Gespräch geführt, nämlich mit den Vertretern der Landeskirche Berlin-Brandenburg. Und Bischof Forck, den hier manche kennen, Werner kennt ihn beispielsweise, ist natürlich ein Mann der verbindlich in der Form aber eisenhart in der Sache ist. Und er hatte dort also weitere Unterlagen mit diesem, sage ich mal, belastendem Material. Ich hatte schon am Vortag zu verhindern versucht durch ein Gespräch mit Stolpe, daß es zu dieser Pressekonferenz kommt (die dann doch stattfand), weil klar war, hier wurde versucht am Vorabend dieser Volkskammersitzung irgendein Eklat zu fabrizieren, um Schatten auf diese Wahl zu werfen. Und Stolpe hat mir zugesagt, daß er alles tut, um diese Pressekonferenz zu verhindern. – Ich sage, Genossen, das ist Politik, Politik! Und stattdessen soll die Sache so gemacht werden, daß das Material uns übergeben wird. Also keine Show, haben wir gesagt, bitteschön, wenn sie um Kooperation bemüht sind, wie sie ja dem Generalsekretär bei ihrem Gespräch versichert haben. Jetzt haben Sie die Möglichkeit zu zeigen, wie ehrlich Sie die Kooperation meinen. Resultat ist: Die Pressekonferenz hat doch stattgefunden. Ich habe ihn daraufhin wieder angerufen und habe gesagt: Ich halte das fast für einen Vertrauensbruch. Daraufhin sagte er, es tut ihm furchtbar leid, der Arm war doch zu kurz. Ich sage: Dann müssen wir das künftig in Rechnung stellen, wenn der Arm der Kirche so kurz ist, dann bedeutet das natürlich eine bestimmte Bewertung oder Umbewertung, die Kirche spielen kann in diesem Land. Ich weiß, daß auch das nur eine rethorische Bemerkung ist, letztlich. Aber man muß ja solche Dinge auch aussprechen.
Also jetzt komme ich zum eigentlichem Anliegen meiner Bemerkung: Damit diese Frage nicht weiter schwelt, und an der Autorität unseres, so hoffe ich, heute gewählten Staatsratsvorsitzenden zehrt, bin ich der Meinung, daß umgehend… Also gestern hat der Berliner Generalstaatsanwalt oder sein Stellvertreter gesprochen in dieser Frage und hat erklärt, die Ermittlungen gehen weiter, die Öffentlichkeit wird unterrichtet. Es ist ja ein Jammerspiel, daß sich seit dem 7. Oktober bis heute diese Ermittlungen hinziehen und alles, was wir zu bieten haben, ist, immer wieder zu vertrösten auf morgen oder übermorgen. Also, daß entweder heute abend – das Timing muß man überlegen: heute abend ist die Wahl des Staatsratsvorsitzenden, also besser morgen abend – der Generalstaatsanwalt von Berlin eine Erklärung darüber abgibt, daß die Ermittlungen vorläufig abgeschlossen sind und daß im Ergebnis dieser vorläufig abgeschlossenen Ermittlungen mitgeteilt werden kann, daß in 100 oder weiß ich wieviel Fällen oder weniger, in 80 oder 70 Fällen, die uns bekannt geworden sind, Aussprachen geführt wurden mit den Betreffenden, bei denen sich herausgestellt hat, daß Sache entweder gegenstandslos geworden ist oder daß die Leute, die das betrifft, zurückgezogen haben. Daß in einigen Fällen, exakt soundsoviel, festgestellt wurde, was Du gesagt hast, Wolfgang, und daß in diesem Falle die entsprechenden juristischen, strafrechtlichen oder sonstigen Konsequenzen gezogen werden oder eingeleitet worden sind. Es bleibt ein Kreis von noch nicht geklärten Fällen, meinetwegen fünf oder acht, exakt! Das ist der Stand der Dinge. Und es wurde ein Vorschlag gemacht, daß das Ergebnis dieser Untersuchungen der Generalstaatsanwaltschaft zu einer Prüfung übergeben wird dem Rechts… (fragend:) Wie heißt der Ausschuß? … Verfassungs- und Rechtsausschuß der Volkskammer. Ich glaube, damit bewegen wir uns absolut im Rahmen unserer Verfassungsorgane und können in diesem besonderen Falle, der ja – das kann man alles in der Erklärung sagen, das müßte man dann mit den Genossen besprechen in der Tat einen einzigen Tag betrifft, den Anfang einer ungemein komplizierten Entwicklung, wenn man so will. Und daß dem allen zugrunde liegt, also allem, was in diesen Punkten zu machen war und wie zu verfahren war… eindeutige Entscheidungen ausschließen. Das heißt, wir reden wirklich und die Untersuchung ist wirklich nur geführt worden über – ich sage das immer so – nicht beabsichtigte Abweichungen in begrenzter Zahl von den verfassungsmäßigen Normen, um nicht mehr. Und dabei kann man selbstverständlich, ich habe jetzt nicht davon gesprochen, genauso auch die anderen Dinge erwähnen, daß also nicht der Eindruck entsteht, darin besteht nämlich die politische Klugheit, daß wir mit einer Anhäufung der anderen Dinge, also nur auf eines zielen, die Dinge wegzudrücken, dann offenbaren wir wieder schlechtes Gewissen und wir tun dem Egon einen schlechten Dienst. So ist die Lage, so ist die Stimmung und aus dieser Lage und dieser Stimmung heraus mache ich diesen Vorschlag. Die Genossen, die dabei mitwirken können, das ist klar. Also wir wären bereit, dabei mitzuwirken, Wolfgang, Du bist sicher auch bereit mitzuwirken. Aber nach meiner Meinung muß spätestens morgen abend dieser vorläufige Abschluß erfolgen mit dem Hintergrund der Kommission. Das scheint mir also wichtig und notwendig zu sein. (Beifall)“
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph