aus telegraph 8/1989
vom 16. November 1989
(Aus „Union“, Tageszeitung der CDU in den Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt, 7.11.89)
Prozeß gegen drei Jugendliche, die an den gewaltsamen Auseinandersetzungen am Hauptbahnhof beteiligt waren
Wie gut schlafen Sie noch, Frau Richterin und Frau Staatsanwältin, nach diesem Prozeß? Diese Frage, ich möchte Sie Ihnen stellen in den Stunden, da ich wach in meinem Bett liege nach diesen erlebten neun Stunden im Gerichtssaal. Wie rechtens sind hiesiges Recht und Gesetz, und vor allem, wie menschlich? Sollte von den Erschütterungen der letzten Tage kein Zweifel in dieses Justizgebäude Einlaß gefunden haben?
Verhandlung vor dem Kreisgericht Ost am vergangenen Donnerstag. In einem mit 38 Plätzen viel zu kleinen Saal angesichts des großen zu erwartenden öffentlichen Interesses. Nach dem anfänglichen Versuch, die Zuschauerzahl zu begrenzen, werden schließlich noch Stühle hereingebracht und auch Stehplätze zugelassen. Vor Gericht stehen drei junge Männer, die sich an den gewalttätigen Ausschreitungen am Hauptbahnhof beteiligt haben. Die drei sind Freunde, ein vierter wird in der Verhandlung als Zeuge auftreten.
Am Abend des 4. Oktober hatten sie sich zu viert in der Wohnung von Holm V. getroffen und beschlossen, zum Hauptbahnhof zu gehen. Sie wußten von der Durchfahrt der Züge aus Prag, von einem ungewöhnlichen Polizeiaufgebot und einer großen Menschenmenge. Sie nahmen eine Fahne mit, eine BRD-Fahne, auf der sie ein weißes Fragezeichen befestigt hattenAusreise als eine Lösung ? -, eine weiße Pappmachemaske und einen Fotoapparat. Gegen 22 Uhr gelangten sie durch den einzigen nicht abgesperrten Eingang in die Kuppelhalle, sahen dort eine unruhige Menschenmasse, auf die die Polizei Wasserschläuche richtete. Während Sven T. erschrocken stehenblieb, gingen die drei anderen auf die Balustrade, hängten dort die Fahne über die Brüstung. Am Jubelgeschrei der Leute erkannten sie, daß diese eine andere Wirkung hatte, als von ihnen beabsichtigt. Wieder unten an der Barrikade zu den Bahnsteigen, beteiligten sie sich an dem schon tobenden Kampf in unterschiedlichem Maße, warfen mit Papierrollen und Steinen in Richtung Barrikade, bauten ihrerseits an einer Barrikade gegen das Wasser mit. Holm V. spritzte mit einem Feuerlöscher, Kai-Uwe S. brach die Tür zu einem Büroraum mit auf, riß einen Telefonanschluß heraus, warf eine Schreibmaschine und zerschlug eine Glastür zum Schalterraum. Alle drei riefen in Sprechchören wie „Freiheit, Freiheit“, „Bullenschweine raus“, „Wir brauchen keine Bullenschweine“ und „Eins, zwei, drei, Knüppelpolizei“ mit. Soweit in Kürze der Tatbestand. Andre L. wurde noch am selben Abend gegen Mitternacht festgenommen und in die Untersuchungshaftanstalt Bautzner Straße gebracht. Kai-Uwe S. und Holm V. stellten sich am 9.Oktober selbst.
Rowdys im klassischem Fall also, Rädelsführer, wie es in der Sprache des Rechts heißt, vor denen die Gesellschaft geschützt werden muß ? Die Verhandlung läßt vielmehr eine tiefe Tragik zu Tage treten, die diese drei jungen Leute an einen Punkt gebracht hat, da sie sich unter zugespitzten Umständen hinreißen ließen zu Taten, die sie sich selbst bis dato nicht zugetraut hätten und noch jetzt schwer erklären können.
Gewalt haben sie immer verabscheut und nie als Mittel zur Lösung von Problemen angesehen, geben sie einhellig zu Protokoll. Kai-Uwe S., 18 Jahre alt , hat seine Lehre als Schienenfahrzeugschlosser im August abgebrochen und eine Arbeit als Grabmacher aufgenommen. Die sehr schwere Arbeit unter schlechten klimatischen Bedingungen und Pfuschereien wegen fehlender Teile hatten ihm nicht gefallen, ein weiterer Grund waren für ihn die Ereignisse um das Reinstsiliziumwerk in Gittersee und die darauf folgenden Kontakte mit der Staatssicherheit. Kai-Uwe, der sein Interesse für Bücher, Musik, Umweltfragen und Politik überhaupt mit seinen Freunden teilt, hatte wie die drei anderen an den Demonstrationen und Bittgottesdiensten in Gittersee teilgenommen. So waren sie auch Zeugen und Betroffene des dortigen brutalen Einsatzes der Polizei geworden. Hier habe er eine völlige Machtlosigkeit empfunden, und gewisse Vorbehalte gegenüber der Polizei hätten sich wohl aufgebaut, antwortete Holm V. auf die Frage der Richterin nach seinem Verhältnis zu den Sicherheitsorganen. Holm, 23 Jahre, Facharbeiter für Grünanlagen, wollte als einziger der Freunde demnächst ausreisen, die Genehmigung hatte er schon. Diese Entscheidung hätten sie akzeptiert, auch wenn er persönlich gegen Ausreise sei; viele Berührungspunkte in anderen Bereichen hätten überwogen, erklärte Andre L.,der 19jährige Forstarbeiter, dessen Engagement für die natürliche Umwelt am längsten ausgeprägt ist. Vogel- und Schmetterlingsbeobachtung gehört zu seinen Hobbys, er war Mitglied einer AG Naturschutz und ist es jetzt im Kulturbund. Enttäuscht sei er oft von der Informationspolitik des Staates gewesen, besonders in puncto Umweltdaten. Trotzdem, nach seiner Strafe, so Andre, will er sich auf dieser Strecke weiter einsetzen, im Rahmen einer neuen Politik und ohne Angst vor Nachteilen.
So klar wie nach den Befragungen zur Person ist, daß es sich hier nicht um notorische Randalierer handelt, so klar bleibt es im Verhandlungsverlauf nicht. Widersprüche zwischen den Vernehmungsprotokollen und den vor Gericht gemachten Aussagen werden deutlich. „Wir zogen los, um Stimmung zu machen und anzuheizen und nach S. eine Situation wie `53 herbeizuführen. Die Fahne sollte die offene deutsche Frage und ein Infragestellen der DDR symbolisieren“, heißt es da unter anderem. Diese Formulierungen seien von den Vernehmern getroffen worden, unterschrieben hätten sie, weil sie froh über das Ende der Vernehmung gewesen wären, begründeten Andre L. und Kai-Uwe S.. Holm V., der als einziger einige handschriftliche Änderungen in den Protokollen vorgenommen hat, erklärt die gebliebenen Widersprüche mit Druck, der auf ihn während des Verhörs ausgeübt worden sei. Als er anfangs die Aussage verweigern wollte, sei eine zweite Person ins Zimmer gekommen, habe ihn beschimpft, geschlagen und getreten, weitere Gewalt angedroht. Die Staatsanwältin unterstellt ihm mit einer Frage die Diffamierung der Sicherheitsorgane. So entstünden üble Parolen in der Öffentlichkeit. Kurze Zeit später nimmt der Zeuge Sven T. Teile seiner von ihm unterschriebenen Aussage zurück. Er habe aus Angst vor angedrohten Schlägen gehandelt.
Der Strafantrag der Staatsanwältin ruft Empörung bei den Zuschauern hervor, die im Laufe der Verhandlung des öfteren ermahnt wurden. Fünf Jahre Freiheitsentzug für Kai-Uwe S. und 3.000 Mark Geldstrafe, zwei Jahre und zehn Monate für Andre L., drei Jahre für Holm V. wegen Zusammenrottung, verbrecherischen Rowdytums, Agierens als Rädelführer und Widerstand gegen die Staatsgewalt in Tateinheit. Der Rechtsanwalt plädiert für 3 Jahre Bewährung bei Strafandrohung von einem Jahr und sechs Monaten für Kai-Uwe, zwei Jahre Bewährung und ein Jahr Strafandrohung bei Nichtbewährung für Andre und Holm. Er bedauert, daß die Staatsanwaltschaft nicht im Ansatz den Versuch unternommen hat, die Ursachen für diesen Ausbruch an Gewalt am 3. und 4. Oktober in Betracht zu ziehen. Hier wird ein Urteil zu fällen sein, das dem Gewissen und den Interessen des Volkes Rechnung tragen und vor der Geschichte Bestand haben muß, so der Verteidiger. Die Angeklagten wie die eingesetzten Sicherheitskräfte seien zu Opfern einer komplizierten und unbedingt politisch zu beurteilenden Situation, einer politischen Entscheidung mit tragischen Folgen geworden.
Die Urteilsverkündung am Freitagmittag läßt endgültig keine Zweifel daran. Politische Wende und bereits amtlich eingeleitete Paragraphendiskussion haben neues Denken oder gar Nachdenklichkeit nicht aufkommen lassen. Die geringfügige Herabsetzung der Strafen (vier Jahre Freiheitsentzug und 3.000 Mark Geldstrafe, zwei Jahre und zwei Monate, zwei Jahre und sechs Monate) wird lediglich mit der Reue und dem Nichtvorbestraftsein der Angeklagten begründet. Die Tat könne nicht losgelöst von ihren schweren Folgen beurteilt werden. Bei uns, die wir an diesem Prozeß teilgenommen haben, ist eher das Gegenteil eingetreten. Unruhe und Besorgnis. Sind unsere Gesetze noch die des Volkes? Konnten Richterin und Schöffen hier mit gutem Recht und Gewissen urteilen im Namen des Volkes? Dieser Prozeß war erschütternder Spiegel der Widersprüche in diesem Land; die Fragen, die er aufgeworfen hat, dürfen nicht im Raum stehenbleiben. Die Zuschauer dieser Verhandlung haben deshalb eine Arbeitsgruppe gebildet.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
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