Kommentar: Öffnet die Archive!

aus telegraph 9/1989
vom 29. November 1989

Wir brauchen keinen Schauprozeß gegen Erich Honecker, aber wir brauchen die Wahrheit

Markus Wolf, der sich als letzte Trumpfkarte der SED anbietet, hat in einem Fernsehinterview gefordert, Erich Honecker und Günther Mittag vor Gericht zu stellen. Sollte dieser Vorschlag Wirklichkeit werden und die Gerichte dann unabhängig urteilen, könnte Honecker am Ende zum zweiten Mal in seinem Leben im Zuchthaus Brandenburg verschwinden. Diese Konsequenz zeigt, daß die Forderung von Markus Wolf nicht nur absurd, sondern auch hochgradig unmoralisch ist. Wir brauchen keine Schauprozesse gegen Sündenböcke, wir brauchen die Wahrheit!

Hinter Wolfs Vorschlag steckt nur zu deutlich die Absicht, sich einen Pappkameraden aufzubauen, den die Wendehälse dann nach Belieben anspucken können. Die Parole, der jetzt schon Egon der Wahlfälscher mit Unverfrorenheit folgt, lautet: Je mehr Dreck wir auf Honecker und Mittag häufen, desto sauberer stehen wir selber da. Mit Schauprozessen will Markus Wolf diesem sauberen Gesellschaftsspiel die Krone aufsetzen. Dazu wäre zu sagen: Solche Saubermänner sollten selbst gewaschen werden, daß es sich gewaschen hat.

Ein Vorschlag zum Bösen: Generalamnestie für alle Vergehen und Verbrechen, die vor dem 9. November begangen wurden – in unserer Gesellschaft bekommt jeder eine neue Chance. Für alle Verbrechen nach dem 9. November verlangen wir allerdings unnachsichtige Verfolgung. Wer jetzt z.B. in den Ministerien, Parteisekretariaten und sonstigen Einrichtungen Akten vernichtet, um Aufklärung unserer Geschichte und der jeweiligen persönlichen Verantwortung zu verhindern, der sollte als Verbrecher am Volke bestraft werden. Wir brauchen keine Rache – wir brauchen die Wahrheit!

Die Wahrheit muß auf den Tisch! Dazu gibt es nur einen Weg: Alle Akten und Archive des Politbüros, des Zentralkomitees, der Regierung, der Verwaltungen und auch des Ministeriums für Staatssicherheit müssen geöffnet und den Historikern zugänglich gemacht werden. Als erste Maßnahme müssen alle Protokolle der Tagungen des ZK und des Politbüros sowie der Ministerratssitzungen der vergangenen 45 Jahre ungekürzt und vollständig veröffentlicht werden. Das Volk will wissen, was und wie Ihr mit ihm gespielt habt! Vor Rache braucht Ihr Euch nicht zu fürchten; für Rache ist unsere Verachtung viel zu groß.

p.h.

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