aus telegraph 9/1989
vom 29. November 1989
Es war eine ungeheure Frechheit und eine schallende Ohrfeige für die vielen Menschen, die seit dem 7. Mai die grobe und nachweisliche Fälschung der Wahl eingeklagt haben, als Egon Krenz, damaliger Vorsitzender der Wahlkommission und derzeitiger Staatschef, sagte, daß die Wahlunterlagen, die von Bürgern und Anwälten vergeblich eingefordert wurden, jetzt den Gesetzen der DDR folgend vernichtet worden seien. Wenn Herr Krenz glaubt, damit sei die Frage und seine Verantwortung erledigt, so irrt er. Die Last der Beweise für die Wahlfälschung ist erdrückend. Die Verantwortlichen müssen zur Verantwortung gezogen werden, die Kommunalwahlen müssen wiederholt werden.
Das sollte vor den Volkskammerwahlen geschehen, wie sehr auch alte und neugegründete Parteien und Foren nach sofortigen Volkskammerwahlen schreien. Denn leider besteht auch bei den Neuen schon sehr stark die Tendenz, sich auf Kosten der Bürger als Funktionäre zu profilieren. Das geht ganz gut auf Landesebene, denn wer kann am Ende Inhalt und praktische Auswirkungen der wohltönenden Worte überprüfen. Auf kommunaler Ebene allerdings wird dies ganz anders sein. Hohle Versprechungen, Blödsinn und Betrug sind hier gleich oder doch zumindestens bald erkennbar. Demokratisierung sollte nicht von oben nach unten erfolgen, zuerst muß sie auf kommunaler Ebene verwirklicht werden.
Und zunächst wird auch darüber geredet werden müssen, welche Kommunalstrukturen und Wahlsysteme am besten die Interessen der Bürger vor Ort umsetzen. Neben der Parteienwahl gibt es nämlich noch eine Reihe von anderen Modellen, die sich zumindestens auf kommunaler Ebene anbieten, etwa direkte Demokratie, ein Modell, das ein wesentlich Mehr an Kontrolle ermöglicht. Wir sollten uns weder von alten noch von neuen Funktionären übertölpeln lassen! Am 7. Dezember wird auf dem Alexanderplatz in Berlin die monatlich wiederkehrende Demonstration aus Protest gegen die Wahlfälschung am 7. Mai stattfinden.
r.l.
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