aus telegraph 9/1989
vom 29. November 1989
Als ich am 27. November vor der überfüllten Leipziger Nikolaikirche auf Freunde und die Demo wartete, wunderte es mich, hinter den Fenstern der Küsterei eine riesige Deutschlandfahne zu sehen. Nebenbei erfahre ich, daß der IGL (Initiativgruppe Leben) die Gestaltung des heutigen Friedensgebetes verwehrt wurde, ebenso erging es dem Arbeitskreis Gerechtigkeit in der Vorwoche – Pfarrer Führer sind die Basisgruppen anscheinend zu links, zumal der Bürgermeister der Partnerstadt Hannover anwesend ist. Die Deutschlandfahne voran bewegt sich alles zur Kundgebung auf den Karl-Marx-Platz (der künftig „Platz der Freiheit“ heißen soll). Gerade heute gibt es eine breite Öffentlichkeit durch anwesende Dokumentarfilmer.
Aber es ist nicht mehr die gewohnte Leipziger Demo: Überall Deutschlandfahnen, Transparente wie „Wiedervereinigung jetzt“, „Weizsäcker – Präsident aller Deutschen“, „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Während der Ansprachen verdichtet sich das Gefühl, unter die REPs geraten zu sein. Auf die wenigen klaren Absagen an die Wiedervereinigung (SDP, Vereinigte Linke, ein Mensch aus Heidelberg) folgen Pfiffe und der Schlachtruf „Deutschland einig Vaterland“ in Fußballstadionmanier. Selbst als ein Redner notwendige gute Nachbarschaft mit unseren polnischen und tschechischen Freunden fordert, wird er ausgepfiffen – diese Ausländerfeindlichkeit bekam Nahrung durch staatliche Stimmungsmache in der DDR in den letzten Tagen. Nur vereinzelt andere Plakate: „Gegen Aufkauf der DDR durch die BRD kein viertes Reich“. „Alle Herrschaftssysteme sind brutal, weil sie auf Gewalt aufbauen“, „Gegen Faschismus, Rassismus, Sexismus“ – auf der Rückseite die Faust, die das Hakenkreuz zerschlägt, „Umweltreich statt Deutsches Reich“. Wir sind nur ca. 50 Andersdenkende, hauptsächlich Punks und Anarchisten, und beschließen, in die entgegengesetze Richtung zu laufen. Als wir dann der Demo begegnen, rufen wir den Menschen zu „Keine Wiedervereinigung“, „Kein viertes Reich“, einer schwenkt die rot-schwarze Fahne der Anarchisten. Aus der dumpfen Menge schägt uns entgegen „Ihr seid das letzte“, „Schämt euch was“, „Geht erst mal arbeiten“, „Wichser“, selbst als „Stasischweine“ und „Faschos“ (Gipfel der Demagogie!) werden wir beschimpft. Plötzlich weiß ich, wie Adolf-Hitler-Wähler aussehen. Es riecht förmlich nach Pogrom. Einer hält beschwörend sein Schild „keine Gewalt“ hoch. Wir antworten mit „Nazis raus“, „Schönhuber raus“, „Ihr seid hohl – verkauft euch bloß an Kohl“. Nur vereinzelt gab es Beifall, wenige stellten sich an unsere Seite. 50 gegen 50.000.
Das Leipziger Demo-Publikum ist also ein anderes geworden. Jetzt, wo das Demonstrieren nicht mehr gefährlich ist, kriechen die Deutsch-Nationalen aus den Löchern. Die es begannen und erkämpften, bleiben fern. Erschöpft von der Kleinarbeit, aber auch erschreckt durch großdeutsches Wiedervereinigungsgeschwafel bereits am 13. November. Damals gab es noch Plakate wie „Stasigelder für die Wälder“, „Banane – Vorsicht Rutschgefahr“, „Selbstverwaltung statt Mitbestimmung“, Forderungen nach der Rehabilitierung Robert Havemanns und Wolf Biermanns. All dies fehlt jetzt, als ob alle Forderungen verwirklicht seien (auf der Kundgebung wurde z.B. bekannt, daß die Stasi-Leute, die in Cottbuser Tagebauen arbeiten ihr altes Dienstverhältnis inclusive Bezahlung behalten haben! Zum anderen ist bekannt, daß die Verschickung in die Produktion doch nur hauptsächlich Wehrpflichtige des Wachregiments „Dzierzinski“ betraf, ganz zu schweigen vom Gefängnispersonal und den unveränderten Knastverhältnissen…)
Sicherlich sind nicht alle Nazis – für manche scheint die Wiedervereinigung das letzte Tabuthema zu sein. Oder ist es nur einsetzende Verzweiflung, aus Angst ver der eigenen Verantwortung für die Zukunft? Mittlerweile gibt es hartnäckige Gerüchte, daß sich eine „Partei für die Wiedervereinigung gründen will – sicherlich, „Republikaner“ werden sie sich noch nicht gleich nennen.
Dem vierten Reich keine Chance! Wir brauchen keinen starken Mann, denn wir sind selber stark genug!
g.h.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph