Demonstration „Gegen großdeutsche Träume“

aus telegraph 6/1990
vom 30.03.1990

Am 19.3, ein Tag nach dem erwarteten „Sieg“ der D-Mark in der DDR, mobilisierte das autonome Spektrum Ostberlins und die Vereinigte Linke zu einer Demonstration „Gegen großdeutsche Träume – trotz alledem“.

Die Ankündigung für die Demo war spärlich, weder ND noch DDR-TAZ (trotz Zusage) veröffentlichten den Demo-Aufruf. Außer einigen Flugblättern brachten auch die Veranstalter in dieser Hinsicht nichts auf die Reihe. Mehr und flächendeckende Ankündigung wäre für die Zukunft notwendig. Die Teilnahme an der Demo betrug wie erwartet so um die 4.000 Menschen.

Die Stimmung war trotz des Wahlergebnisses am Vortag gut. Viele Fahnen, West-Know-How (Lautsprecherwagen) brachte Musik und Redebeiträge während der gesamten Demo über Lautsprecher. Das erste Mal und somit auch Pannen. Mit Sprüchen sind wir eh etwas phantasielos.

Die Demoroute ging durch den Prenzelberg-Kiez. Die Resonanz der Menschen in den Fenstern und auf den Straßen blieb leider schwer deutbar. Jedenfalls gab es kaum negative Reaktion.
Ein Problem war der Umgang mit den Westberliner Freunden. Es fällt ihnen schwer, sich auf die spezifischen Umstände in der DDR einzurichten. So kam es dazu, daß eine Wohnung gestürmt wurde, weil dort eine schwarz-rot-goldene Fahne aus dem Fenster hing.

Diese Problematik der verschiedenen Entwicklungen, Erfahrungen und somit Aktionen in Ost und West (siehe auch die Anti-AKW-Demo in Stendal) muß genau diskutiert werden, auch im Hinblick 1. Mai-Demo und das geplante Fest in Ostberlin. Auch sollten sich zur Vorbereitung der 1.Mai-Demo in Ostberlin mehr Gruppen, besetzte Häuser und Einzelpersonen einbringen, damit sie ein Zeichen dafür wird, daß sich ein Großteil Menschen mit der Entwicklung in der DDR nicht abfinden wollen.

Interessant war ein Redebeitrag der 13. autonomen Gruppe zur Demo am 19.3.:
Der Rummel des vergangenen Wochenendes ist vorbei; viele BerlinerInnen und Berliner sind heute depressiv. Das ist insofern verständlich als die Rache der sogenannten Provinz an der Hauptstadt keine geringe war.

Ganz offensichtlich besitzen viele Leute eine Sehnsucht, verantwortungslos zu leben. Ihnen war der fünfmonatige Zustand nicht mehr erträglich. Sie wollen wieder klare Verhältnisse, in denen jemand anderes sich einen Kopf macht, wie es weitergeht.

Manchmal ist es schwer zu begreifen, warum das Einfache, das Logische, das Verständliche unterliegt. Aber das ist auf der ganzen Welt so. Wir sind nur IndianerInnen und Daniel Ortega ist auch nur der Häuptling eines Stammes. Einmal – und endlich – erfahren, daß wir nur IndianerInnen sind, muß nun auch dem/der letzten Sympathisanten beispielsweise der Vereinigten Linken klar sein, daß es keinen Sinn hat, zu überlegen, was jetzt die nächsten Schritte einer Regierung sein müßten. Es ist nur Zeitverschwendung.

Wir werden nie in dieser Situation sein. Für uns hat sich nicht viel geändert. Wir sind da, wo wir waren. Wir sind, was wir waren, nämlich Reißzwecken im Magen des Staates. Für uns ist es egal, ob sich die CDU oder die SPD die meisten Stimmen erkauft hat.

Eigentlich sogar hat dieser Wahlausgang einen großen Vorteil. Die Zerstörung der Illusionen wird schnell einsetzen, und nicht etwas weniger schnell, wie von der SPD erzeugt. Und wir vermuten mal, daß es gerade die WählerInnen der CDU als erste treffen wird. Auch die 2/3-Gesellschaft ist nur eine Illusion.

Also konzentrieren wir uns, planen wir gemeinsam Aktionen, schärfen wir die Spitzen der Reißzwecken, daß sie weiter unverdaulich sind.

Neben dem Redebeitrag des Redners der Vereinigten Linken war dieser Beitrag der verständlichste und klarste.

Außerdem gab es Redebeiträge von PdS, Hausbesetzern, Autonomen Antifa-Gruppen Ostberlins, Autonome Westberlin und ein Bericht zu den Faschisten-Überfällen in Ostberlin.

d.t.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph