aus telegraph telegraph 7/1990
Mindestens auf einem Gebiet scheint es in der DDR doch eine Revolution gegeben zu haben, wenn sich in der Militärakademie Dresden, der Aus- und Weiterbildungsstätte von Militärkadern der DDR eine Gruppe von Offizieren zur Ausarbeitung von Vorschlägen zur Entmilitarisierung und Auflösung der NVA zusammenfindet. Der sogenannte Offiziershörerrat (OH) hat sich aus den zur Zeit dort lernenden Kommandeuren im Zuge der Reform gebildet. Existenzängste und Idealismus sind Grundpfeiler dieser Gemeinschaft. Ende Februar/Anfang März 1990 vollzog sich ein Führungswechsel an der MAK. Der amtierende Leiter ist zur Zeit ein Wissenschaftler. Im Folgenden die Dokumentation des Papiers:
Angst vor der Abrüstung?
Die Perspektive eines entmilitarisierten Europas mit der Initialzündung „Entmilitarisierung der DDR“ verbindet Hoffnungen und Befürchtungen vieler Berufskader. Das ist aufgrund der sozialen Verunsicherung sowie der Ungewißheit über die Perspektive der NVA verständlich. Wir schätzen ein, daß der bisher schleppend verlaufene Reformprozeß an der Militärakademie uns nach wie vor den gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen hinterherlaufen läßt.
Wir müssen aber durch Vordenken wissenschaftlichen Vorlauf schaffen und uns selbst damit eine klare Perspektive geben. Abrüstung und Übergang zu nichtmilitärischen Sicherheitsstrukturen ist ein Gebot der Vernunft und aufgrund der Risiken der Fortexistenz heutiger Waffenarsenale und Abschreckungsdoktrinen unumgänglich. Auch der Nord-Süd-Konflikt kann nicht mit militärischen Mitteln eingedämmt, geschweige denn gelöst werden.
Aber vielen Denkansätzen zur Entmilitarisierung fehlt die militärfachliche Durchdringung des komplizierten Problemlomplexes von Abrüstung, Schaffung bündnisübergreifender Sicherheitsstrukturen, Konversion, sozialen Fragen sowie der realen Sicht auf die zeitliche Dimension. Uns selbst fehlt der wissenschaftliche Vorlauf dazu. „Entmilitarisierung 2000“ heißt heute beginnen. In einer sich nicht personell ergänzenden Berufsarmee hat jeder jetzige Berufskader genug Arbeit, sich mit seiner Fachkompetenz in diesen Prozeß einzubringen und dabei zugleich die Vorraussetzungen für seinen Übergang zu einer zivilen Tätigkeit zu schaffen.
Wie könnte unser Potential an der Militärakademie eingebracht werden?
1.Schrittweise Umprofilierung der Militärakademie zu einer zuerst staatlichen Forschungs- und Weiterbildungseinrichtung zu Fragen der Sicherheitspolitik, Abrüstung und Konversion mit der Perspektive einer KSZE-Institution.
– Bildung interdisziplinärer Arbeitsgruppen zu o.g. Prpoblemkreisen, nicht parallel zur jetzigen Forschung und Lehre, sondern als Hauptlinie der Forschung;
– Ausbildung ausgewählter OH-Gruppen zu Abrüstungskontrollexperten
– Schaffung der Vorraussetzungen eines ziviläquivalenten Diploms für das jetzige erste und zweite Studienjahr sowie für postgraduales Studium im Rahmen von Umschulngsprozessen in der NVA mit Hochschulniveau;
– Verstärkung der Kontakte bis hin zur Forschungskooperation mit zivilen Einrichtungen, besonders zum Problem der ökonomisch sinnvollen, ökologisch verträglichen und territorial konkreten Konversion (Primat der zivilen Nutzung vor der Vernichtung von Technik und Infrastruktur).
2.Konsequente Einbindung der perspektivischen Entwicklung der Akademie sowie der Entmiltarisierung der DDR in den KSZE-Prozeß.
– Vorstellen der Forschungs- und Entwicklungskonzeption (entspr. 1.) zum KSZE-Gipfel 1990, zuvor Aufnahme bzw. Vertiefung der Forschungskooperation mit europäischen Institutionen (SIPRI u.ä.);
– Unterstützung des sofortigen Übergangs zu einer Berufsamee mit Beamtenstatus und Anwendung europäischer Normen für Übergangsregelungen für Berufskader in zivile Tätigkeit bzw. Ruhestand (Zusammenarbeit VBS mit EUROMIL);
– eigenständige Forschungsleistungen zu systemübergreifenden bzw. gesamteuropäischen Sicherheitsstrukturen für jede Stufe des Abrüstungsprozesses;
– bei fortgeschrittener Abrüstung der NVA, Schwerpunktverlagerung auf Zurverfügungstellung der Forschungergebnisse und Erfahrungen bei der praktischen Abrüstung und Konversion für den gesameuropäischen Entmilitarisierungsprozeß.
Was ist sofort zu tun?
a)Bestandsaufnahme der Möglichkeiten des Einbringens jedes Lehrstuhls und jeder Sektion in diesen Prozeß,
b)persönliche Aktivität jedes Berufskaders mit Ideen und Vorschlägen in Vorbereitung der Neukonstituierung des Wissenschaftlichen Rates der Akademie im April 1990,
c)Durchführung von persönlichen Kaderaussprachen mit jedem Offiziershörer und Angehörigen des Lehr- und Stammpersonals zu seinen Perspektiven bzw. seinem konkreten Einsatz an der Akademie unter Einbeziehung der Kaderorgane der Truppe.
OFFIZIERSHÖRERRAT/MILITÄRAKADEMIE DRESDEN
Die Arbeitsgruppe Entmilitarisierung der Dresdner „Gruppe der 20“ stellt zu den Papieren des Offiziershörerrates folgende Überlegungen an:
Zusammenfassend aus den vorliegenden Papieren, unsren Überlegungen und natürlich anderen wichtigen Ideen sehen wir zwei Schwerpunkte:
-geistige und materielle Abrüstung der bewaffneten Organe (Armee)
-Entmilitarisierung des öffentlichen Lebens (Entmilitarisierung:
Verringerung der physischen und psychischen Gewaltanwendung bei Austragung von Konflikten) Die NVA hat heute vorrangig die Pflicht und das Recht,die notwendige Abrüstung mitzugestalten, d.h. die vorhandenen Kompetenzen in der Armee müssen im Abrüstungsprozeß mitgenutzt werden, weil eine sofortige Entmilitarisierung nicht möglich ist, auch technisch nicht. Kontrolle und Durchschaubarkeiten, nicht nur für Parteien, müssen gewährleistet werden.
Gleichzeitig müssen die Strukturen in der NVA und die dazu dienlichen Mittel (Befehl) in diesem demokratischen Prozeß neu durchdacht werden.Dies muß sofort geschehen.
Vorschläge:
-Öffentliche Zusammenarbeit mit dem Berufsverband der Soldaten und anderen Reformern in der NVA
-Erarbeiten von beschlußfähigen Konzeptionen
-Erarbeiten von Wegen und Mitteln,diese gesetzfähig zu machen
-Durchschaubarkeit und Kontrolle müssen gewährleistet werden
-Eine Koordinierung der Friedensgruppen und anderen friedliebenden Menschen halten wir unbedingt für erforderlich…
Wir schlagen folgende Übergangslösung vor:
-Recht auf Zivildienst
-Recht auf Wehrdienst
-Recht auf Arbeit/Recht auf Verweigerung
-Recht auf Berufssoldat (unter Berücksichtigung der vorgegebenen Zeit der Abrüstung
Grundidee für diese Rechte,das sei noch einmal betont,ist die Abrüstung der NVA, mit dem Ziel, Ängste nicht zu forcieren,sondern allmählich,und wenn möglich mit einem Konsens abzubauen.
Für die Gesellschaft und hauptsächlich für das Parteiensystem besteht in diesem Zusammenhang die entscheidende Pflicht,den Entmilitarisierungsprozeß, auch im öffentlichen Leben, nicht zu bremsen.
Mitglieder der Gruppe „Entmilitarisierung“