Zum 90. Geburtstag des Dokumentarfilmers Claude Lanzmann
Von Angelika Nguyen
In Claude Lanzmanns Filmen zwitschern oft die Vögel und rauschen andauernd die Bäume, aber bei ihm klingt das nicht friedlich. Denn das Thema seiner Filme ist die Vernichtung des europäischen Judentums durch die deutschen Nazis und ihre Helfer. Claude Lanzmann hat sich das zum Lebensthema gemacht und steht mit seiner unverkennbaren filmischen Sprache, seiner Fähigkeit, Menschen zum Reden zu bringen und seiner konsequenten Energie einzig da. Er schuf in 21 Jahren eine Dokumentarfilm-Trilogie. Es betrifft ihn auch persönlich. Am Ende des Films Warum Israel verliest in Yad Vashem, der israelischen Gedenkstätte für die Opfer der Shoah, ein Mitarbeiter die Namen aller Toten mit dem Namen „Lanzmann“. Danach muss Claude Lanzmann die Aufnahme abbrechen.
Lanzmann ist ein Filmemacher, der sich immer viel Zeit gelassen hat. „Ich war ein Mensch, der langsam reifte“, schreibt der 85jährige in seinen Memoiren. Der erste Film seiner Trilogie Warum Israel (1973) reifte zwanzig Jahre lang und zeigt ein auffallend ausgewogenes, politisch bewusstes, und aber irgendwie auch unbekümmertes Bild des Landes und seiner Leute.
Der Film zeigt Begegnungen mit vielen verschiedenen Mitgliedern der israelischen Gesellschaft. Lanzmann spricht mit Juden aus dem Nahen Osten über ihre Besonderheit, mit religiösen Orthodoxen über ihre Skepsis, mit deutsch-jüdischen Intellektuellen über ihr Heimweh nach Deutschland, jungen Kibbuzaktivisten, stellt israelischen Arbeitern die Klassenfrage, begleitet eine enttäuschte russische Immigranten-Familie, diskutiert mit einem militant argumentierenden jüdischen Siedler, fragt Diensthabende einer israelischen Militärstreife in Gaza, wie sie sich fühlen. „Eine schmutzige Arbeit“, sagt der Eine.
Der Film spürt die Widersprüche Israels auf, auch seine Dynamik. Sein Titel ist eine Frage – ohne Fragezeichen. Er dauert drei Stunden und zwanzig Minuten, eigentlich ungeeignet fürs Kino. Kino-Verwertung war nicht gerade Lanzmanns oberstes Kriterium, auch den Filmen ließ er ihre eigene Zeit. Desto überraschter – und glücklicher – war er, als auf der Berlinale 2013 seine Filme im Kino ehrenhalber liefen.
Warum Israel bildet zusammen mit Shoah (1985) und Tsahal (1994) eine thematisch, künstlerisch und zeitgeschichtlich eng verknüpfte Dokumentation. Die Filme kreisen nicht nur um Israel und jüdische Geschichte, sondern erzählen auch eine Kausalität.
Der Staat Israel, so Lanzmann, entstand in Folge der Shoah, die die Überlebenden zwang, eine eigene Nation zu gründen. Es ging um Sicherheit und um Sehnsucht nach Normalität, die aus der Anormalität der Diaspora entstand. Und wie alle Staaten brauchte Israel eine Armee, abgekürzt : Tsahal.
Der Filmschluss von Warum Israel in der Shoah-Gedenkstätte war schon der Anfang des nächsten Filmprojekts. Er führte Lanzmann auf geradem Weg zum Thema seines zweiten Films, der noch viel umfangreicher werden sollte und an dem er zwölf Jahre lang arbeitete: Shoah. Beinahe trotzig verwendete Claude Lanzmann dieses damals noch weitgehend unbekannte hebräische Wort (dt.: Unheil, Vernichtung, Katastrophe), während die Vernichtung des europäischen Judentums bereits unter dem Namen Holocaust (griech.: Brandopfer; Titel einer fiktionalen TV-Serie der USA) gut etabliert war. Der Filmtitel weist auf die jüdische Perspektive auf den millionenfachen Mord, und das war das Neue und das Notwendige.
Shoah erschien 1985. Mit ihm wurde Claude Lanzmann weltberühmt. Willkommen war der Film nicht. Schon die Produktion hatte sich nicht nur aus konzeptionellen oder logistischen Gründen, sondern vor allem immer wieder wegen existenziellem Geldmangel in die Länge gezogen. Die zunächst ablehnende Rezeption des Films, sowohl im Osten (Polen wollte den Film wegen der judenfeindlichen Äußerungen polnischer Protagonisten vor laufender Kamera verbieten lassen) als auch im Westen (der Bayrische Rundfunk verhinderte die Ausstrahlung des Films im Ersten und zur Hauptsendezeit), bewies weiterhin, dass die Tabuisierung der Shoah Zeitgeist war. Nichtsdestotrotz wurde der Film mit Preisen überhäuft. Eine Aufnahme ins reguläre deutsche und europäische Schulprogramm wäre nützlicher gewesen.
9 ½ Stunden dauert der Film. Gespräche mit Opfern, Tätern und Zuschauern. Nur Originaltöne, keine Musik, keine Archivbilder, kaum Artefakte.
Für Lanzmann zählt in Shoah nur die Gegenwart. Die Gegenwart der Gespräche mit den Protagonisten und in diesen Gesprächen vor allem das Moment des gewaltsamen Todes. Seine Fragen zielen auf das Thema der Vernichtung. Lanzmann will alle Details wissen, auch die schlimmsten. „Ich habe nicht aufgehört, die Menschen zum Reden zu zwingen.“ schreibt er selbst über diese Zeit. Was von vielen als „unvorstellbar“ bezeichnet wird, erzählen die Protagonisten in Shoah als passierte Wirklichkeit. Die Einzelheiten in den Erzählungen der überlebenden Opfer zu hören ist wichtig, in ihre Gesichter zu sehen unerlässlich. Viele von ihnen hatten noch nie zuvor ihre Erlebnisse erzählt. Sie sind unvergesslich für alle, die Shoah gesehen haben.
Parallel dazu sucht Lanzmann die Gegenwart der Orte, wo das alles geschah, er zeigt, was er vorfindet: die alten Bahnhöfe von Belzec und Sobibor mit ihren verwitterten Schildern, der grasbewachsene Zugang zur Gaskammer in Auschwitz, die polnischen Wälder, sonnige Lichtungen, mit den Geräuschen der Natur. Orte, zeigt der Film, können sich verändern, aber sie verschwinden nicht. Sie sind da. Die Imagination funktioniert: die Opfer sterben noch einmal.
Dabei ist Lanzmann ein nüchterner Chronist, wesensverwandt mit dem ersten historischen Forscher über die Shoah, Raul Hilberg, und mit Adam Czerniaków, dem Vorsitzenden des Judenrates im Warschauer Ghetto, der vor seinem Selbstmord ein akribisches Tagebuch über seine Arbeit schrieb – und damit Zeugnis ablegte für später. In einer Szene des Films lässt Lanzmann Hilberg den Abschiedsbrief Czerniakóws vorlesen, und im Gespräch ist kurz dieses Einverständnis dreier Männer über alle Grenzen hinweg fast körperlich zu spüren. So erreicht der Film Shoah eine ganz andere, vielleicht viel tiefere Wirkung, als es die üblichen biographischen Rückblenden und Archivfotos von Leichenbergen vermocht hätten.
Lanzmann befragt auch Täter, zum Beispiel den „Stellvertreter des NS-Kommissars“ im Warschauer Ghetto, Franz Grassler, der vor der Kamera offen seine Mitverantwortung an der Vernichtung leugnet.
Shoah endet mit einem langen, ernst-bitteren Gespräch zwischen Lanzmann und zwei Kämpfern des Warschauer Ghetto-Aufstandes: Simha Rotem („Kazik“) und Yitzak Zuckerman („Antek“). Shoah gelangt nach all dem jüdischen Tod zum jüdischen Widerstand. Claude Lanzmann ist der Widerstand in der Vernichtung wichtig. Bewusst soll der Film so enden.
Das führt ihn wiederum zu dem fünf Stunden langen Film Tsahal (1994). Der Filmtitel ist die Abkürzung der hebräischen Bezeichnung Tsara Haganah Leisrael (dt.: Armee zur Verteidigung Israels). Wieder kein Pathos – kein Hohelied auf Israels Streitkräfte. Trotz des zentralen Arguments der Shoah gelingt Lanzmann auch bei diesem Film über Israel Ausgewogenheit in der Darstellung, spricht er nicht nur mit Soldaten, Befehlshabern und jungen Rekruten, sondern auch mit Schriftstellern, einem Anwalt, einem Professor für Archäologie. Es geht um jüdische Identität, um das nationale Trauma des Jom-Kippur-Krieges, um den israelischen Panzer Merkava, um das Landau-Gesetz der „gemäßigten Folter“ und natürlich um die Shoah. Für viele israelische Soldaten, zeigt sich in den Gesprächen, liegt in der Shoah die Wurzel ihrer Motivation. Deshalb, heißt es in Lanzmanns Dokumentation, sei die Armee Israels eine besondere Armee, und deshalb wurde Tsahal sein kontroversester Film. Auch dem Dilemma Israels, der Besetzung der Palästinensergebiete, stellt sich der Film. Um das Dilemma geht es in den langen Gesprächen mit dem Friedensaktivisten und Romanautor David Grossman und dem Schriftsteller Amos Oz. Dieser bringt es auf den Punkt: „Es gibt keine möglichst menschliche Besatzungsmacht. Das ist ein Widerspruch in sich.“
Wer aber ist Claude Lanzmann, der solch ein besonderes Filmwerk zustande gebracht hatte? Woher kam er? Was hatte er vorher getan?
Geboren wurde Claude Lanzmann am 27. November 1925 in Paris, und obwohl seine aus Osteuropa eingewanderte Großmutter Anna „ein unbezahlbares Jiddisch-Französisch sprach“*, spielten für Lanzmann seine eigenen jüdischen Wurzeln sehr lange keine Rolle. Das war sicher auch deshalb möglich, weil sein Großvater Itzhak Lanzmann jeden Kontakt zur Vergangenheit abbrach, „um sich … in einen französischen Bauern zu verwandeln“*. Nur daraus erklärt sich Lanzmann, warum es seinen Großeltern gelang, unter den Nazigesetzen zu überleben. Er selbst, säkular erzogen, fühlte sich schon in jungen Jahren als „alter Franzose“*, ging in die Résistance, entkam knapp der Verhaftung durch die Gestapo. Nach dem Krieg verliebte er sich in das befreite Berlin – Ost und West – und fing an, an der Freien Universität zu arbeiten, wo ihn deutsche Studenten um ein Seminar über Antisemitismus baten, was ihn erst überraschte und ihm dann als Gemeinschaftsprojekt sehr wichtig war.
Zurück in Paris, arbeitete Lanzmann als Journalist und protestierte gegen den Algerienkrieg. Eine Israel-Reise 1952 war die Initialzündung und, was er noch nicht wusste, die Grundlage für seinen ersten Film. Seine jüdische Herkunft öffnete ihm, obwohl er kein Wort Hebräisch sprach, in Israel alle Türen, sogar die von Ben Gurion.
Ein paar Jahre nach Tsahal besah sich Lanzmann irgendwann noch mal das gewaltige Material von Shoah und montierte herausgeschnittene Interviews, die Shoah dramaturgisch gesprengt hätten, zu eigenständigen Filmen. Das erlaubte ihm, das Thema des Widerstandes gegen den Nazi-Terror in drei Filmen erneut aufzugreifen: Ein Lebender geht vorbei (1997), Sobibor, 14.Oktober 1943, 16 Uhr (2001), Der Karski-Bericht (2010).
In Ein Lebender geht vorbei befragt Lanzmann den Schweizer Maurice Rossel über dessen Arbeit als Mitglied des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) während des Zweiten Weltkriegs. In dieser Eigenschaft besuchte Rossel offiziell das berüchtigte Vorzeige-Ghetto Theresienstadt und gelangte sogar kurz nach Auschwitz. In Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr erzählt der polnische Jude Yehuda Lerner, heute in Israel lebend, von seiner Beteiligung am Aufstand im Vernichtungslager Sobibor. Beide Männer agierten historisch. Der eine spaltete am 14. Oktober 1943 in Sobibor mit der Axt einem SS-Mann den Schädel, der andere schrieb 1944 einen beschönigenden Bericht über Theresienstadt.
Der Karski-Bericht ist die Fortsetzung des Shoah-Interviews mit Jan Karski, einem ehemaligen Kurier der Polnischen Heimatarmee, der 1942 eigens von jüdischen Aktivisten ins Warschauer Ghetto eingeschleust worden war, um als Augenzeuge den Alliierten berichten zu können, was dort geschah. Karski prägte sich ein mit seinem sensiblen Gesicht und dadurch, dass er die ersten Minuten nicht sprechen konnte, weil er weinen musste. Er berichtet – noch Jahrzehnte später brennend vor Enttäuschung – von der Ignoranz des damaligen US-Präsidenten Roosevelt und des Obersten US-Richters Frankfurter, denen er im Juli 1943 persönlich und vergeblich seine Wahrnehmung des Völkermords in Europa mitteilte.
Dann schließlich Der Letzte der Ungerechten (2013) – Claude Lanzmanns letztes großes „Outtake“ aus dem Shoah-Material, ist das Interview mit Benjamin Murmelstein, dem letzten Vorsitzenden des Judenrates im Ghetto Theresienstadt und einzigem Überlebenden dieser Funktion.
Dieser Film ist anders. Mit ihm gelang Lanzmann noch mal ein unerwarteter Coup, sowohl inhaltlich als auch formal. Er ist nicht einfach nur ein „Outtake“, das nicht mehr in Shoah passte, sondern ein brisantes zurückgehaltenes Dokument, dessen Thema 1985 vielleicht selbst Claude Lanzmann zu heikel war. Es geht um ein unter Historikern und in der jüdischen Geschichtsschreibung des Holocaust heiß umstrittenes Thema: das der jüdischen Funktionäre in Nazi-Gefangenschaft, der so genannten Judenräte und ihrer Vorsitzenden, die im Nazijargon „Judenälteste“ hießen.
Desto wichtiger war Lanzmanns Entschluss, jetzt dieses Material zu sichten und an die Öffentlichkeit zu bringen. Benjamin Murmelstein, der Befehle direkt von Eichmann entgegen nahm, der nach dem Krieg angeklagt wurde und trotz Freispruchs verfemt und ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Überlebenden und der 1989 in Italien starb, kommt hier selbst zu Wort.
Der Film montiert die alten Interviews, die der 50jährige Lanzmann 1975 eine Woche lang mit dem 70jährigen Murmelstein in Rom geführt hat, mit den 2012er Auftritten des 87jährigen Lanzmanns, der durch die Ruinen des Ghettos Theresienstadt wandert und dabei immer wieder aus dem Buch Theresienstadt – Eichmanns Vorzeige-Ghetto von Benjamin Murmelstein zitiert.
Gestalterisch durchbricht Lanzmann in diesem späten Film sein eigenes Prinzip und lässt plötzlich Archivfotos und Artefakte zu.
Vor laufender Kamera macht Murmelstein wichtige Aussagen zum Verlauf der Vernichtung der Juden, liefert atemlos Berichte und Analysen zur damaligen Realität Theresienstadts. Scharf denkend, schnell redend, bitter scherzend entfaltet Benjamin Murmelstein seinen Charme, dem Lanzmann trotz bohrender Nachfragen erliegt.
Neben dem Shoah-Thema „Theresienstadt – der große Nazi-Betrug“ geht es um die Judenräte und ihre besondere tragische Stellung im Befehlsgefüge der Nazis.
Murmelstein selbst beschreibt seine damalige Lage als Dasein zwischen Hammer (die Nazis) und Amboss (die Juden). Als Machthaber ohne Macht war er nach Zeugenaussagen jedoch geltungssüchtig, kalt und „ohne Skrupel im Einzelfall“. Murmelstein ist das historische Gegenstück zu Adam Czerniaków aus dem Warschauer Ghetto, der sich mit seinem Selbstmord weigerte, an der Organisation der Vernichtung mitzuwirken. Lanzmann setzte Czerniaków in Shoah ein Denkmal.
Murmelstein konnte vor Gericht zumindest die Vorwürfe der Korruption entkräften, im Film beschreibt er seine Strategie: „Ich musste hart sein, … das Ghetto durfte nicht liquidiert werden.“ Tatsächlich bestand Theresienstadt bis zum Kriegsende Mai 1945 – als einziges Ghetto der Nazizeit. Nachweisbar ist, wen Murmelstein mit den Transportlisten alles nicht gerettet hat, aber auch, wie viele tausend Juden er vor dem sicheren Tod gerettet hat.
„Ein Judenältester nach dem Krieg ist wie ein Dinosaurier auf der Autobahn … er stößt überall an, bei den Deutschen, bei den Juden … Und er weiß mehr als alle Dokumente zusammen.“ sagt Murmelstein am Ende des Films. Er durfte nie nach Israel einreisen.
Auch ihm setzt Lanzmann mit diesem Film ein Denkmal.
Eine ganz eigene Erzähllinie bildet die parallel montierte einsame Präsenz Claude Lanzmanns vor der Kamera 2012. Seine Verwandlung vom Regisseur zum Protagonisten, vom jungen Mann zum alten Mann ist eine Überraschung. Lanzmann agiert vor der Kamera, staunt über die Schönheit der Prager Synagoge, steht am Bahnhof in Bohušovice, verliest die letzte Rede von Paul Eppstein, dem ermordeten Vorgänger von Murmelstein, unterm Galgen in Theresienstadt, quält sich – minutenlang – die Treppen zu einem Dachboden in Theresienstadt hoch, als wolle er die Propaganda-Lüge der Nazis am eigenen, schon gebrechlichen Körper vorführen.
Lanzmann, der alte Franzose, wird selbst Teil der Erzählung. Es ist eine Art physisches Ankommen im eigenen Film, im eigenen Thema, wie ein Vermächtnis.
Sämtliche Filme von Claude Lanzmann sind auf DVD im Filmverlag absolut MEDIEN GmbH erschienen, Shoah außerdem noch in einer preiswerteren und schmucklosen Studienausgabe.
QUELLEN
Mit * bezeichnete Zitate aus: Claude Lanzmann, Der patagonische Hase. Erinnerungen, erschienen 2010 im Verlag Rowohlt, Reinbek bei Hamburg