Gesprächzwischen Frau Dr. Irina Graschewaja vomVerein „Kinder von Tschernobyl“ (Belorussische Volksfront) und Sebastian Pflugbeil (Neues Forum)
aus telegraph 8/1990
Pflugbeil:Vor vier Jahren gab es einen deutlichen Einschnitt in unserem Leben – jeder kennt heute den Namen „Tschernobyl“und viele habennicht vergessen, was sie damals empfunden und gedacht haben. Ist es noch erforderlich, daß wir nach so langer Zeit über Tschernobyl reden?
Gruschewaja:Erst in den letzten Wochen wird in unseremLand offener über die Auswirkungen geredet, die der Unfall im Kernkraftwerk bei Tschernobyl hat. Das ist das Ergebnis intensiver Bemühungen von Bürgerbewegung wie „Kinder von Tschernobyl“ vor dem Hintergrund der Demokratisierungsbewegung.
Pflugbeil:Gibt es denn nicht staatliche Programme und große Institute, die sich mit den Folgen des Unfalls befassen?
Gruschewaja: Erst drei Jahre nach der Katastrophe bekamt man von einem staatlichen Programm zur Liquidierungder Folgen zu hören. Aber auch das geschah erst aufgrund des Druckes der Volksfront und unseres Komitees. Bis dahin wurde die Bevölkerung Ober das wahre Ausmaß der Katastrophe völlig im Unklaren gelassen. Die staatlichen Stellen schwiegen oder gaben verharmlosende und ablenkende Informationen. Besuchern aus dem Ausland wurde der Eindruck vermittelt, daß man mit ganzer Kraft an der Beseitigung der Folgen des Unfalls arbeitet. Für uns und besonders für unsere Kinder sieht die Realität heute ganz anders aus.
Pflugbeil:Kannst du Eureheutigen Lebensbedingungen beschreiben?
Gruschewaja: Gegen die Empfehlungen vieler bjelorussischer Wissenschaftler und Arztesind unter anderemdie Professoren Iljin, Israel undTschasow in Moskau der Auffassung, daß die Bevölkerung Bjelorusslands und der Ukraine durchaus in den verseuchten Gebieten leben könne, natürlich mit gewissen Einschränkungen.
Pflugbeil:Was für Einschränkungen?
Gruschewaja: Die Menschen in den belasteten Gebieten dürfen das Obst und Gemüse aus ihren Gärten nicht essen, sie dürfen nicht in den Wald gehen, kein Pilze und Beeren sammeln, die Milch ihrer Kühe nicht trinken, im Fluß nicht baden, die Fische nicht fangen. Ein Erwachsener kann das vielleicht für eine gewisse Zeit ertragen – aber wir wissen ja überhaupt noch nicht, wie lange diese Einschränkungen noch erforderlich sind. Es ist außerdem nicht möglich, unversuchte Nahrungsmittel in den Läden zu kaufen. Am schlimmsten ist es aber für die Kinder. Vier Jahre sind für ein Kind eine unendlich lange Zeit. Sie waren es gewohnt, im Wald zu spielen und den größte Teil des Tages imFreien zuzubringen.
Pflugbeil:Wie sieht der Alltag der Kinder in der „Zone“ aus?
Gruschewaja: Bis vor kurzem wurden die Kinder morgens auf einem betonierten Pfad zumSchulbus gebracht, zur Schule gefahren, saßenbis abends 8.00 Uhr in der Schule – ohne Pause im Freien- und wurden dannwieder mit dem Bus nach Hause gefahren.
Sie durften nicht draußen spielen – aber natürlich rissen sie oft aus, und spieltenwie früher. Es gab auch neue Spiele – z.B. das Spiel „Radioaktivität” im Staubder Straße. Sie können nicht verstehen, daß sie die Erdbeeren und Äpfel nicht essen sollen. Wer in eine Schule in der „Zone“ geht, erkennt sofort, daß es den Kindern schlecht geht. Sie sind schlecht ernährt, klagen über Kopfschmerzen, und Magenbeschwerden, haben oft Nasenbluten und werden schwer krank, wenn sie eine einfache Grippe bekommen. Die Zahl von Kindern mit Schilddrüsenstörungen nimmt rasch zu. Sie sind bedrückt und sehen mit erschütternder Gleichgültigkeit oder Hoffnungslosigkeit in die Zukunft.
Pflugbeil:Wir wissen aus der Geschichte der Kernenergienutzung, daß ungeborene Kinder besonders empfindlich gegenüber radioaktiver Strahlung sind. Gibt es bei Euch Beobachtungen, die das bestätigen?
Gruschewaja: Unser Gesundheitsminister, Professor Tschasow, schrieb zwei Jahre nach der Katastrophe, daß man „mit Sicherheit feststellen kann“, daß sich die Havarie im KKW Tschernobyl nicht auf die Gesundheit der betroffenen Gebiete auswirkte.
Wir haben andere Erfahrungen. Nur ein Beispiel: In Choiniki ist die Belastung durch Strontium-90 besondere stark. In dieser Kreisstadt gab es in den ersten 10 Monaten des Jahres 1989 200 Geburten, davon 31 schwer missgebildete Kinder. Uns liegt eine Liste dieser Fälle vor, die vom Chefarzt des Krankenhauses unterzeichnet worden ist.
Pflugbeil:Was wollt ihr in Eurem Komitee „Kinder von Tschernobyl“ erreichen? Wie können wir Buch helfen?
Gruschewaja: Unsere Arbeit geht in zwei Richtungen: Wir versuchen die Regierung wachzurütteln und dazu zu zwingen, endlich die Geheimhaltungsversuche aufzugeben, wahre Angaben über das Ausmaß der Gefährdung zu veröffentlichen und endlich die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Wir wollen nicht länger schweigend einem Heer von gutbezahlten Wissenschaftlern als Versuchskaninchen dienen. Wir wollen, daß die Bevölkerung aus den belasteten Gebieten umgehend evakuiert wird. Die Aktivisten unserer Bewegung wurden im letzten Jahr mehrfach vor Gericht gestellt und verurteilt, weil sie für diese Ziele eintraten. Jetzt haben wir jedoch erreicht, daß unsere Probleme im Obersten Sowjet und in den großen Tageszeitungen diskutiert werden.
Am meisten am Herzen liegt uns das Schicksal unserer Kinder. Wir haben erreicht, daß 500 Kinder in den Sommerferien zusätzlich Ferienplätze in nichtverseuchten Gebieten bekamen, 100 Ferienplätze in den Winterferien für die Kinder, des Rayon Choiniki. Im September 1989 konnten wir die Kinder des einzigen Waisenhauses unserer Republik mit Spendenmitteln für zwei Monate in ein Erholungszentrum schicken – in dieser Zeit waren die Behörden nicht in der Lage, ein geeignetes Haus in unversuchter Umgebung zu finden. Die Kinder mußten wieder zurück in das Gebiet mit einer Verseuchung von über 700.000 Bequerel Cäsium-137 pro Quadratmeter. Es gelang uns auch, für 25 Kinder, die bisher einzige Auslandsreise dieser Art nach Indien zu organisieren.
Pflugbeil:Wir werden uns bemühen, auch in der DDR Ferienplätze für die Kinder von Tschernobyl zu finden. Unter Euch sind mehrere Ärzte. Wie ist die Versorgung mit medizinischem Verbrauchsmaterial, Medikamenten und Geräten?
Gruschewaja: Es besteht ein großer Ärztemangel – viele Ärzte und Krankenschwestern sind vor der Strahlung geflohen. Es fehlen diagnostische Geräte, Ultraschallgeräte, Medikamente, Einwegspritzen, Infusionslösungen, chirurgische Instrumente. Die Erkrankungen nehmen zu, es gibt neue Krankheitsbilder. Wir sammeln Geld und Sachspenden und verbürgen uns dafür, daß sie an die richtigen Stellen gelangen.
Pflugbeil:Ichdanke Dir für das Gespräch und rufe alle Leser dazu auf, schnell und großzügig zu helfen. Wir werden in den nächsten Tagen Strukturen schaffen, die ein koordiniertes Vorgehen ermöglichen. Bis dahin bitte ich darum, Einladungen für einzelne Kinder oder Gruppen aus Tschernobyl an mich zu senden – die Zeit drängt:
„Kinder von Tschernobyl“ bei S. Pflugbeil
Gormannstr,. 17, 1054 Berlin, Tel. 2818254