Selbstbestimmte Projekte in Erfurt

„Im Vorfeld von Schwierigkeiten Gespräche zu führen, um Verständnis herbeizuführen und Konflikten vorzubeugen.“

aus telegraph 10/1990
von Wolfgang Rüddenklau

Wir haben bereits früher in den „Umweltblättern“ über die Zustände in der thüringischen Bezirksstadt Erfurt berichtet.
Neben der schlechten Luft, die an gewissen Herbsttagen durchaus die Gegend um Bitterfeld übertreffen kann, zeichnete sich Erfurt durch eine starrköpfig altstalinistische Bürgermeisterin aus, im Volksmund „Betonrosi“ genannt. Gegen die Bürgermeisterin kämpfte
die Erfurter Offene Arbeit zusammen mit einigen mutigen Bürgern um den Erhalt der Altstadt und eine Verbesserung der Luftsituation.

Bekanntlich hat sich dann im Herbst vorigen Jahres einiges gewendet. Die Stasi und die Betonrosi mußten gehen, die noch
erhaltenen Teile der Altstadt blieben, leider aber auch die schlechte Luft und die beklagenswerte kulturelle ödnis der Bezirksstadt
besonders für Jugendliche.

Gegen letzteren Zustand sammelte sich im Dezember vorigen Jahres eine größere Gruppe von jungen Leuten im weiteren Umfeld der Offenen Arbeit. Die Idee war, aus der Weißen Fabrik, einem fenster- und türlosen Fabrikgebäude in der verfallenen Altstadt ein autonomes Jugendzentrum zu machen. Das Projekt wurde über den Rat der Stadt und die im Bürgerkomitee sitzenden neuen Parteien und Gruppierungen beantragt und fand auch allgemeines Wohlwollen. Es kam aber zu einer Interessenkollision mit der Altstadtsanierungs-Gruppe, die die Weiße Fabrik als einzige Möglichkeit zur Lagerung von Baumaterialien sah. Als Ausweichobjekt wurde der sogenannte Bananenkeller, ein alter Weinkeller unter einem verfallenen Haus in der Innenstadt in der Gotthardtstraße benannt und anfangs von den jungen Leuten abgelehnt, aber Anfang Februar dann in Besitz genommen. Nach anfänglicher Flaute bekam dieses Autonome Jugendzentrum während einer „Protestwoche gegen das Kulturkoma“ Aufschwung. Der Bananenkeller war krachend voll und zwar von hunderten Leuten der unterschiedlichsten Altersstufe. Seither gibt es dort ständig Konzerte und andere Veranstaltungen, zu denen regelmäßig per bloße Mundpropaganda an die 200 Leute kommen.

Mit den Anwohnern lebt das AJZ in bester Harmonie. Der Rektor der Predigerschule versuchte in einer Versammlung des Wohngebietes, die er einberufen hatte, böses Blut zu machen. Der kirchliche Mitarbeiter fand es unpassend, daß ein Autonomes Jugendzentrum gerade „in einem so schönen mittelalterlichen Stadtgebiet“ Platz gefunden hätte. Außer einer älteren Dame fanden aber alle Versammlungsteilnehmer, daß die jungen Leute einen Platz brauchten. Es wurde vereinbart, daß man sich einmal im Monat zusammensetzt und eventuell entstehende Probleme beredet.

Ungekärt sind nach wie vor die Eigentumsverhältnisse des Bananenkellers. Das Haus und das Grundstück gehörten einer alten Frau im Westen, mit der die Leute des AJZ im Auftrag des Rates der Stadt eine Regelung gefunden hatten. Leider starb die Frau zwei Wochen später und jetzt steht eine Einigung mit der Erbengemeinschaft an, bei einem Grundstückswert von über 1 Million Westmark keine kleine Sache. Natürlich gibt es angesichts der zentralen Lage des Hauses in der Innenstadt auch eine ganze Reihe von potenten kommerziellen Interessenten. Erstaunlicherweise hat der Rat der Stadt, selbst jetzt nach den Kommunalwahlen mit einer CDU- Mehrheit (Bündnis 90 – 10%) eine relativ offene Haltung gegenüber selbstbestimmten Projekten. Das hängt offenbar damit zusammen daß die derzeit in Erfurt führenden CDU-Leute vor der politischen Wende der Partei zu ihrer westlichen Schwester politisch wach geworden sind. Durch gemeinsame Arbeit im Bürgerkomitee und im Stadtparlament ist auch bei den CDU-Leuten ein Bewußtsein für die Bedürfnisse von selbstbestimmten Projekten und die Probleme von Jugendlichen gewachsen. Im Moment will die Stadt das AJZ mit einem Zuschuß von über eine Million Mark sponsern. Das AJZ hat eine äußerst gute Presse in den Lokalzeitungen, sogar der liberalen.

Auseinandersetzungen von automen Jugendlichen mit Nazi-Skins hat es in Erfurt bisher noch nicht in dem Maße gegeben, wie das andern- orts und besonders in der Skin-Hochburg Weimar seit Jahren der Fall war. Ein erster Vorbote war ein Konflikt Anfang Mai im Keller. Seitdem gibt es ein Schloß vor dem Tor, einen mehr oder weniger funktionierenden Einlaß und einen Grenzhund als Wache. Die AJZ- Leute befürchten nun größere Auseinandersetzungen zu Pfingsten, wenn sich die rechtsnationalistische Wiking-Jugend in Erfurt zu einem Deutschland-Treffen versammeln will. Die bis dato weitgehend friedli- chen Erfurter Skins könnten durch westliche Gesinnungsgenossen zu überfällen profiliert und motiviert werden. Es gibt die Vermutung, daß an den Räumen des AJZ interessierte Gewerbetreibende eine solche Entwicklung mehr als begrüßen würden. Die Polizei sah sich bei einem neulichen Gespräch außerstande, über ihr künftiges Verhalten eine Aussage zu
machen.

Die AJZ-Leute versuchen ganz bewußt, schon im Vorfeld irgend- welcher Schwierigkeiten Gespräche zu führen, um Verständnis herbeizuführen und Konflikten vorzubeugen.

Ein anderes selbstbestimmtes Projekt ist die Löwenburg, eben- falls in der Altstadt, Allerheiligenstraße, Ecke Marktstraße. Die Löwenburg wurde im Mittelaler als studentisches Vereinshaus gebaut und gehört der KWV. Die KWV beauftragte bereits 1985 die HO mit dem Ausbau der Löwenburg als Jugendclub. In die Baubrigade kamen immer mehr Leute aus der Offenen Arbeit, Jugendliche, die ein selbstbestimmtes Leben und Arbeiten wollten. Weil es keine richtige Baulei- tung, kein Projekt, keine Bilanzierung für Baustoffe gab, ging der Umbau eigentlich nur infolge der Initiative der Arbeiter voran. Die Leute bauten mit Hilfe ihrer Sachkenntnis als Zimmerleute oder abgebrochene Architekturstudenten und mit dem Feeling, das sie für das schöne Renaissancefachwerkhaus hatten. Die Art wie die Leute zusammenarbeiteten, das Haus und das, was daraus werden sollte, gehörten zusammen. Es war eine im besten Sinne anarchistische Baustelle. Natürlich gab es Schwierigkeiten mit der Stasi, die Druck auf die HO ausübte. Die Pauschalarbeiter sollten öfter entlassen werden, ein erster Brigadier wurde als Störfaktor eingesetzt und dergleichen.

Nach der Wende gab es neue Probleme. Die HO wollte nun doch ein Projekt für das Haus machen und einen Bauleiter einsetzen. Der Leiter der HO, Riems, wie sich später zeigte, ein Stasi-Mann, machte zusätzliche Schwierigkeiten. Westliche Anbieter wollten das Haus erwerben. Die Arbeiter der Löwenburg gründeten schließlich im März einen Verein und legten ein Konzept für das Haus vor. Wie auch die AJZ-Leute scheuten die Leute von der Löwenburg nicht vor breitester öffentlichkeit und dem Stadtparlament. Die Liberalen haben versprochen, das Projekt Löwenburg im Stadtparlament einzubringen und verteidigen es in ihren Zeitungen. Die PDS will einen Anwalt stellen. Eine Unterschriftenaktion für die Löwenburg trägt die Unterschrift aller im Stadtparlament vertretenen Parteien.

Aus der Löwenburg soll das werden, was es schon früher einmal war, ein Mittelpunkt der Wohnbezirkskommunikation, ein soziokulturelles Zentrum, ein Ort für nichtkommerzielle, kreative Begegnungsmöglichkeiten.

Das dritte selbstimmte Projekt Erfurts ist der Mainzer Hof, eine alte Kneipe hinter dem Erfurter Dom, die 1985 Pleite ging. Seit Dezember vorigen Jahres bemühten sich eine Reihe von jungen Leuten um dieses Haus, erhielten einen Pachtvertrag und eine Zuweisung für das Haus und haben einen eingetragenen Verein „Kulturförderungs- verein Mainzer Hof“ gegründet. Wenn alles klappt, wird am 30. Mai eröffnet. Im Erdgeschoß soll es eine nichtkommerzielle Kneipe geben, im ersten Geschoß eine Galerie, Arbeitsräume, Begegnungsgsräume für Kulturgruppen. Im zweiten Obergeschoß sollen Unterkünfte geschaffen werden.

Und natürlich gibt es wie seit Jahrzehnten in Erfurt weiterhin in der Allerheiligenstraße die Offene Arbeit. Ihr Anspruch, ein Kreativitäts- und Kommunikationszentrum mit sehr kritischem politischen Anspruch zu sein, ist vertieft worden. Die offene Arbeit war während der Wendemonate eine eigene Fraktion im Bürgerkomitee und an zahlreichen Runden Tischen. Einzig und allein der Runde Tisch der Jugend wurde wegen dessen Zusammensetzung boykottiert und der ist demzufolge auch gescheitert. Am Wochenende nach der Währungsreform, vom 6. bis 8. Juli wird die Offene Arbeit eine Werkstatt zum Thema „Soziales Träumen“ machen.

r.l.