30 Jahre „AfD“!
(Aus telegraph telegraph #135/136. telegraph bestellen)
Dieser telegraph erscheint im 30. Jahr nach dem herbstrevolutionären Aufstand von Teilen der Bevölkerung in der DDR. Die Beiträge dieser Sonderausgabe befassen sich mit den Treibsätzen und Merkmalen des Protests, seinen Akteuren, der Rolle jener kleinen, von der Politbürokratie verfolgten DDR-Opposition sowie ihrer Ausdifferenzierung während des Umbruchs 1989/90. Wir gehen der Frage nach, warum der revolutionär-demokratische Aufbruch des Herbstes 1989 im Folgejahr in eine kapitalistische Restauration auf dem Wege des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik mündete.
Was hat man diesen politisch alternativen Gruppen der 80er-Jahre-DDR-Opposition und den neuen politischen Vereinigungen der Herbstes 1989 nicht alles schon an Attributen aufgenötigt: mal als „Revolutionshelden“ gefeiert, dann retrospektiv als von „sozialistischen Flausen“ kontaminiert belächelt. Von den einen nur als „dissident“ anerkannt wegen ihrer Reserve gegenüber dem bürgerlichen Demokratismus, der nach Meinung der Kritiker als einziger Zielhorizont die Qualifizierung als „Opposition“ gerechtfertigt hätte (Martin Jander und Christian Joppke) – von anderen wiederum „gerechtfertigt“, indem im Nachhinein die demokratisch-sozialistische Substanz ihrer Forderungen geleugnet oder banalisiert wurde (Gerd Poppe, Wolfgang Templin, Ilko-Sascha Kowalczuk). Weder die lang anhaltende doppelte Isolation dieser politisch-alternativen Gruppen der 80er Jahre von der Mehrheitsbevölkerung – herrschaftsseitig gewollt und befördert sowie tatsächlich induziert durch verschiedene Präferenzen der Zielhorizonte von Opposition und großen Teilen der Bevölkerung – noch die „Entmachtung eines Dritten Wegs“ jenseits von Stalinismus und real existierendem Kapitalismus waren jemals Gegenstand ernsthafter zeitgeschichtlicher Forschung. Gegenwärtig beginnt ein neuer kleiner Historikerstreit zwischen jenen, die nicht der
„rauschebärtigen Opposition“, sondern nun allein den sich im Herbst ´90 selbst ermächtigenden „schnauzbärtigen Massendemonstranten“ das revolutionäre Prädikat zubilligen1 und jenen, die darauf bestehen, dass die oppositionelle Minderheit – wie in jeder Revolution – die Massen mobilisierte2. Unübersehbar ist, dass die Antagonisten weniger ihre Forschungsresultate, sondern allein ihre Interpretation der Revolte und ihres Ziels einander entgegenstellen.
Überdies beobachten wir im Jahr 2019 einen asymmetrischen gedenkpolitischen Konflikt zwischen einer hegemonial befeuerten und auf mediale Überwältigung zielenden Feier der „Wiedervereinigung“ als eigentlichem Sinn der Herbstrevolution von 1989 und einer in der öffentlichen Wahrnehmung weithin abgehängten Erinnerung an die revolutionären Momente dieses Aufbruchs in der DDR. Die symbolische Konfrontation zwischen dem 9. November und dem 9. Oktober als „Feiertagsanbindung“ des Gedenkens an die Herbstrevolution lässt wie nebenbei auch den 4. November dem Vergessen anheimfallen.3 Dabei ist der 3. Oktober als „Tag der deutschen Einheit“ seit 1990 bereits als allgemeiner Feiertag „veramtlicht“ und dient als Kompass für das staatspolitische Interesse, den Tag der Maueröffnung als symbolischen Höhepunkt des Gedenkens an die Herbstrevolution zu apostrophieren. 1990 schreckte man noch davor zurück, den ursprünglich erwogenen 9. November zum „Tag der deutschen Einheit“ zu erklären – die Koinzidenz mit dem Tag der Reichspogromnacht erschien den Gesetzgebern doch zu „unpassend“. Für die Feier der Herbstrevolution jedoch war dieses Datum den staatlichen Zeremonienmeistern willkommen. Die beschwörende Mahnung jener, welche als Akteure der DDR-Opposition den 9. Oktober 1989 in Leipzig als „Knackpunkt“ des herbstrevolutionären Fortgangs noch gut erinnern und ihn als Alternative zum 9. November vorschlugen, brachte den staatlich beauftragten Zeremonienmeister Matthias Platzeck in Bedrängnis. Auch der Herbstrevolutionär Platzeck, der übrigens 1990 in der Volkskammer dem Einigungsvertrag nicht zugestimmt hatte, konnte den 9. November nicht ernsthaft gegen den 9. Oktober verteidigen und hatte die Idee, die Feier 1990 dann eben schon am 9. Oktober beginnen zu lassen.
…Da ist Tünche nötig, frische Tünche nötig!
Wenn der Saustall einfällt, ist‘s zu spät!
Gebt uns Tünche, dann sind wir erbötig
Alles so zu machen, daß es noch mal geht…
Hier ist Tünche! Macht doch kein Geschrei!
Hier steht Tünche Tag und Nacht bereit.
Hier ist Tünche, da wird alles neu
Und dann habt ihr eure neue Zeit!
[aus: Bertolt Brecht, Lied von der Tünche]
Wir fragen in dieser Ausgabe ebenso nach den politischen Einflussfaktoren der Entmachtung eines „dritten Wegs“ im nachrevolutionären Prozess von 1990, der Marginalisierung einer Alternative jenseits stalinistischer oder politbürokratischer Zwangsvergesellschaftung und knechtender kapitalistischer Gesellschaftsformierung. Vor allem fragen wir jedoch, was die „Erinnerung an eine Revolution“ in einer nach 30 Jahren völlig veränderten Welt für einen politischen Gebrauchswert haben könnte. Mit beginnender Öffnung der Treuhand-Akten werden Verlauf und Ausmaß vergangener kapitalgesteuerter Privatisierungsexzesse mit Blick auf die entstandenen Ost-West-Disproportionalitäten neuerlich skandalisiert. Doch die Verheerungen der Deindustrialisierung des „Anschlussgebiets“ und die sozialen sowie politischen Folgen eines rabiaten gesellschaftlichen Neuordnungs- und Transformationsprozesses, welchen Teile der politischen Klasse in Deutschland heute ebenso fassungs- wie hilflos zur Kenntnis nehmen, ist nur eine Facette weltpolitischer Umbruchs- und Konfliktlagen, die ein enormes Zerstörungspotential entfesseln können. Dazu gehören die neue Kriegsgefahr nach dem Ende des Kalten Krieges der Blockkonfrontation, die anhebenden Handelskriege und die neuen heißen Kriege im Kampf der Global-Player um Extravorteile und um die Neuordnung der Einflusssphären. Sie vergrößern auf gefährliche Weise die zentrifugalen Kräfte. In der Europakrise korrespondiert der Aufschwung des Rechtspopulismus und nationalistisch-völkischer Parteien sowie rechtsradikaler und neonazistischer Formationen mit dem europaweit scheinbar unaufhaltsamen Niedergang linker Parteien und Strömungen.
Inmitten dieser weltpolitischen Turbulenzen debattiert das deutsche Feuilleton neuerlich über den angeblichen „braunen Sonderfall Ost“. Die scheußlichen Auswüchse neofaschistischer Gewalt und rechtsradikaler Selbstorganisation im Anschlussgebiet werden gern als Kollateralfolgen von 40 Jahren SED-Diktatur, als kontraintendierter Effekt des dort „verordneten Antifaschismus“ oder als Resultat jahrzehntelanger gewaltsamer „Demokratie-
abstinenz“ im DDR-Staat verortet. Wenn die sozial- und gesellschaftspolitischen Verwerfungen des 30-jährigen kapitalistischen Rekonstruktions- und Transformationsprozesses nun vermehrt in den Blick geraten, ist vor dem Hintergrund der AfD-Wahlerfolge im Osten häufig von rechtspopulistischen Frustreaktionen der Deindustrialisierungsopfer die Rede – so, als ob fremdenfeindliche Einstellungen, neonazistische Neigungen oder rassistische Ausschreitungen die naturwüchsige Folge sozialen Abstiegs sein müssten. Dass die AfD im Osten nicht allein in den ländlichen Regionen, sondern auch in Sachsen, einem Land mit vergleichsweise geringerer industrieller Vernichtungbilanz4, besonders stark wurde, wird kaum problematisiert. Der Impact des Westens im „Wiedervereinigungsprozess“, die Herkunft des rechten Führungspersonals insbesondere der AfD und das Agieren der fast ausschließlich westdominierten politischen Klasse lässt sich inzwischen allerdings immer weniger ausblenden.
Schließlich wäre noch über das Versagen des linken Partei- und Bewegungsspektrums, der Mitschuld der SPD und der Hauptverantwortung der Konservativen und Liberalen für diese Entwicklung zu reden. Wird der „turning-point“ von 2014 dieses Jahr zum „point of no return“? Und wird das von den demonstrierenden Schülern angefeuerte wachsende Bewusstsein für die sich nähernde Unumkehrbarkeit einer Klimakatastrophe auch in der politischen Sphäre Platz greifen? Ist zu erwarten, dass nicht nur den „Klimaaktivisten“, sondern auch Teilen der Mehrheitsbevölkerung rechtzeitig dämmert, dass die profitgetriebene Megamaschine des real existierenden Kapitalismus nicht allein zeitgenössischer Treibsatz dieser Katastrophe, sondern vor allem systemisches Haupthindernis ihrer Verhinderung bleibt? Wird die Gleichzeitigkeit von Klimakrise, Verschärfung der „sozialen Frage“ und Aufschwung rechtspopulistischer europäischer Netzwerke reaktionärer „Klimaleugner“, rassistischer Extremisten und nationalistischer Chauvinisten alle gesellschaftlichen Gegenkräfte überrollen und die systemkritische Linke vernichten?
In dieser Frage treibt in Deutschland die AfD die arrivierten Parteien mitsamt der Linken vor sich her. Im Rückblick wird zuweilen das Wahlergebnis vom März 1990 in der DDR als ein solcher „point of no return“ gehandelt: Die Wiedervereinigung zu den Bedingungen des Westens wurde sichtbar unaufhaltsam. Das Flaggschiff des Anschlusses hieß damals „Allianz für Deutschland“. Auf die Idee, diese von der CDU-West kommandierte Allianz „AfD“ zu nennen, ist damals niemand gekommen. Die heutige „Alternative für Deutschland“ (AfD) hat den damaligen national-patriotischen Taumel in das nationalistische Projekt eines völkischen Kapitalismus gewandelt, das dem „America first“-Wahn von Trump in nichts nachsteht. Und schon wird erneut der Osten als Treibsatz dieser politischen Strömung ausgemacht, obwohl bei der Bundestagswahl 2017 zwei Drittel aller AfD-Wähler in Westdeutschland zu Hause waren und auch das Führungspersonal dieser Partei vornehmlich von dort kommt. Jedoch zeigen die vergleichsweise hohen Stimmenanteile dieser Partei in Ostdeutschland (im Schnitt doppelt so hoch wie im Westen), dass monokausale Erklärungsversuche fehlgehen.
Allerdings verdichtet sich die Lesart, im Osten würden damalige Allianz-für-Deutschland-Wähler („AfD“) von 1990 heute als AfD-Protestwähler ihrer Enttäuschung über ausgebliebene Kohl´sche Versprechungen Luft machen: Nachdem sie vergeblich auf Honeckers sozialpolitische Verheißungen warteten („Die SED hat uns betrogen – Honecker in den Knast“), sahen sie sich im ersehnten „Deutschland einig Vaterland“ von Kohl getäuscht („Die CDU hat uns verraten – Merkel muss weg“) und wollen nun (nachdem sie der SED und der CDU auf den Leim gegangen waren) als wahre Erben und Vollender der Herbstrevolution („Wir sind das Volk“) auf die AfD setzen, die sich geschickt als das neue „Neue Forum“ inszeniert (Gaulands Rede auf dem Augsburger AfD-Parteitag 2018).
Vielleicht finden unsere Leser in den Beiträgen des vorliegenden Heftes ein paar Antworten auf alarmierende Fragen aus immer komplexeren Konfliktlagen und Hinweise darauf, wie der Ausgang der Herbstrevolution in der DDR damit zusammenhängt.
1 „Auf der Montagsdemonstration am 4. September 1989 protestierten die Oppositionellen mit dem Plakat „Für ein freies Land mit freien Menschen“ … Hinter ihnen und neben ihnen aber zeigen die Aufnahmen der ARD die „Normalos“ mit ihren Schnauzbärten und die Ausreisewilligen, die lautstark skandierten „Wir wollen raus“. Die Oppositionellen reagierten darauf eine Woche später mit „Wir bleiben hier“.“ Detlef Pollack, Die verachtete Bevölkerung der DDR, FAZ 16.07.2019.
2 „Sie waren diejenigen, die im Sommer und Frühherbst überhaupt erst viele Menschen mobilisierten und motivierten, sich zu engagieren, auf die Straße zu gehen. Sie boten ein Podium, eine Möglichkeit gemeinsamen Handelns, sie prägten Kultur und Sprache der Revolution und artikulierten ihre Forderungen.“ Ilko-Sascha Kowalczuk, Eine Minderheit bahnte den Weg, FAZ 15.07.2019.
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