aus telegraph 3/1990
von Rupert Schröter
Es geht nicht mehr um das OB der deutschen Einheit, sagt Egon Bahr, sondern nur noch um das WIE und WANN! Wer das nicht spürt – wo immer sein politischer Standort sein mag – der geht am Leben vorbei. Die bisherige Opposition in der DDR muß sich besonders in der deutschen Frage bewähren. Wartet sie weiter ab und läßt die Dinge treiben, dann gestalten sie andere. Jeder verlorene Tag bedeutet verlorenes Kapital, denn immer mehr Menschen in der DDR verlangen eine Antwort auf diese Frage, wie die Montagsdemonstrationen und die wachsende Fluchtwelle beweisen. Bis jetzt haben alle neuen politischen Gruppierungen – mit Ausnahme der Vereinigten Linken – ein Bekenntnis zur Einheit Deutschlands irgendwo an den Rand ihrer Programme geschrieben, aber keine von ihnen hat daraus bisher praktische Tagespolitik gemacht. Darin liegt ein schwerwiegender Mangel. Keine innenpolitische Reform kann jetzt mehr diskutiert werden ohne deutschland- und europa-politischen Rahmen dafür. Wie z.B. soll man in der DDR Gesundheits- oder Gewerkschaftspolitik betreiben, ohne zu wissen, was aus Deutschland werden soll? Alle Reform-Konzepte, die sich nur auf die DDR beziehen, sind heute schon reif für den Papierkorb.
Der Grund dafür liegt in der natürlichen Anziehungskraft, die beide Teile der Nation aufeinander ausüben. Das hat mit nationalistischen Gefühlen nichts zu tun. Die gegenwärtige Dynamik in der deutschen Frage hat aber ihre Ursache in der Krise der DDR, die es fraglich erscheinen läßt, ob die DDR als eigenständiges staatliches Gebilde überhaupt existieren kann ohne die Säulen, die sie bisher getragen haben: Mauer, Staatssicherheit und SED. Auch die äußere Stütze der DDR durch die Sowjetunion und die hier stationierten sowjetischen Truppen sind nicht mehr wirksam. Solange Gorbatschow am Ruder ist, glaubt niemand mehr so recht daran, daß die Drohung mit sowjetischen Panzer noch besteht. Das Trauma des 17. Juni 1953, der Intervention in Ungarn 1956 und des Einmarsches in die CSSR im Jahre 1968 ist nicht erloschen, aber es löst sich auf. Die Menschen atmen wieder – und das künstliche geschaffene Gebilde DDR ist in Frage gestellt.
Es gibt im Augenblick niemanden, der den Prozeß des Zusammenwachsens künstlich beschleunigt. Im Gegenteil: Die Sowjetunion, die Westmächte und selbst Helmut Kohl bremsen! Und trotzdem entwickelt sich die Situation so schnell, daß Kohls 10-Punkte-Plan möglicherweise schon überholt ist. Es ist gar nicht mehr gesagt, daß die deutsche Geschichte dem geruhsamen Pfad von der Vertragsgemeinschaft über die Konföderation zur letztendlichen Föderation folgen wird. Alles kann viel schneller gehen, sollte der DDR weiterhin die Luft entweichen. Wer will das aufhalten?
Natürlich: die deutsche Frage ist und bleibt eingebettet in den Prozeß der europäischen Vereinigung. Vaclav Havel, neuer Präsident der Tschechoslovakei, bezeichnete das Problem so: Er könne sich kein geeintes Europa vorstellen mit einem weiterhin geteilten Deutschland, aber auch kein vereintes Deutschland in einem weiterhin geteilten Europa. Das sind Formulierungen, die Raum schaffen für neue Gedanken: Weil der Prozeß der deutschen Vereinigung sehr dynamisch verläuft, kommt es nicht darauf an, ihn zu bremsen, sondern umgekeht darauf, den Prozeß der europäischen Einigung voranzutreiben und zu beschleunigen. Das kann nicht heißen, daß wir uns um Deutschland kümmern und der Rest soll sich mit Europa herumschlagen – wir sind selbst gefordert, unseren Beitrag zur Europäischen Einigung zu leisten. Das erschöpft sich nicht nur in einer unzweideutigen Erklärung der beiden deutschen Staaten, die polnische Westgrenze weder jetzt noch in Zukunft anzuzweifeln. Diese Erklärung allerdings wird immer dringender, und jede politische Kraft in Ost- oder Westdeutschland sollte für ihr Zustandekommen wirken.
Welches Europa wollen wir? Das Europa der selbstherrlichen Nationalstaaten, der europäischen Großmächte und ihrer wechselnden Koalitionen gegeneinander oder gegen die kleineren Völker – dieses Europa ist in zwei Weltkriegen untergegangen. Die Nachkriegsordnung machte mit dieser „Souveränität“ der europäischen Staaten radikal Schluß, aber es entstand eine Ordnung gegensätzlicher Militärbündnisse unter dem Patronat der Supermächte und einander ausschließender Wirtschaftsbündnisse. Die Rechte der Völker wurden in diesem System – besonders in Osteuropa – mehr als einmal verletzt, und Deutschland wurde geteilt. Das jetzt zu schaffende Europa muß eine demokratische Organisation werden, in dem die Rechte des Einzelnen, sich an der gesellschaftlichen Gestaltung zu beteiligen, ebenso garantiert sind wie die von Gruppen oder Nationen. Es muß ein Europa nicht des nationalen Egoismus, sondern der gegenseitigen Verantwortung werden.
Wenn wir Deutschland also jetzt vereinigen, dann streben wir nicht den befürchteten deutschen „Sonderweg“ an, sondern die Verbindung unserer Interessen mit denen Europas. Der militärpolitische Aspekt dieser Idee bedeutet: wir streben kein neutrales Deutschland an, während die Blöcke weiterbestehen, sondern eine Auflösung der Militarblöcke und eine neue Organisationsform, die nicht militärisch ist und ganz Europa umfaßt. Unsere geographische Lage in der Mitte des Kontinents verlangt ebenso gute Beziehungen zum Osten wie zum Westen, verlangt eine ßberwindung der europäischen Spaltung.
Von den gegenwärtig schon bestehenden europäischen Institutionen ist die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)“ die geeignetste, weil hier nicht Militärbündnisse über die Köpfe der Völker hinweg verhandeln, sondern gleichberechtigte Partner. Sie schließt die Sowjetunion ebenso in den europäischen Rahmen ein wie Polen, Zypern, die USA und Kanada. Ihr erklärtes Ziel, die „Solidarität zwischen den Völkern“ zu stärken und die frühere Konfrontation zu überwinden, kann erst jetzt in vollem Umfange in Angriff genommen werden. Menschenrechte, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und ihre Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet – dieser Zusammenhang bildete den Grundgedanken der Schlußakte von Helsinki vom August 1975. Alle NATO-Sttaen wie alle Staaten des Warschauer Pakts sind – neben den Neutralen – Mitglieder der KSZE. Wo könnte es also ein besseres Forum geben, um über die schrittweise Auflösung der Militärpakte und die Entmilitarisierung zu beraten? Der Vorschlag der Sowjetunion, noch in diesem Jahr eine KSZE-Konferenz abzuhalten, sollte deshalb von den neuen Gruppierungen in der DDR aktiv unterstützt werden. In diesem Zusammenhang sollte man überlegen, ob die neuen Gruppierungen in der DDR nicht den Vorschlag unterbreiten oder unterstützen sollten, diese Konferenz in Prag abzuhalten. Prag ist ein europäisches Symbol, es liegt in der Mitte des Kontinents und könnte sehr gut die Hauptstadt der zukünftigen europäischen Organisation werden.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort: Es geht hier nicht nur um die Verwirklichung der Prinzipien der Schlußakte von Helsinki, insbesondere von „Korb drei“, in der DDR. Wir müssen nicht Europa auf uns, vielmehr uns auf Europa beziehen. Die DDR ist nicht das einzige Jammertal auf dieser Welt, ihre Probleme nicht die einzigen auf diesem Kontinent. Die beiden deutschen Staaten, erst recht ein vereinigtes Deutschland, haben nicht nur zu nehmen, sondern gleichermaßen zu geben, beispielsweise im Umweltschutz. Europa kann nicht nur eine riesige Freihandelszone sein, in der die Starken den Schwachen diktieren, sondern muß zu einem Gebiet gegenseitiger Verantwortlichkeit werden, in die die ökonomische Potenz Deutschlands einzubringen ist.
Es ist viel die Rede davon, daß die europäischen Völker besorgt sind über ein vereinigtes Deutschland. Sicherlich, aber noch viel besorgter sind die Politiker, die um ihre althergebrachten Institutionen fürchten, in denen sie sich eingerichtet haben und von denen sie leben. Von einem NATO-Generalsekretär beispielsweise wird man wohl nicht verlangen können, daß er begeistert ist über die Aussicht, die Militärblöcke könnten überflüssig werden. Wer in dem verschlafenen Städtchen Bonn Politik treibt, muß Albträume haben bei dem Gedanken, in das brodelnde Berlin umziehen zu müssen. Was die Völker anbelangt, gründet sich ihre Sorge auf den bitteren Erfahrungen der Vergangeneit. Trotzdem sind sie – wenn man die Umfragen liest – uns nicht unfreundlich gesonnen und bereit, dem deutschen Wunsch nach Einheit eine Chance zu geben. Das trifft sogar auf Polen, die Tschechoslowakei und besonders die Sowjetunion zu. Ihre Sorgen bleiben dennoch und werden nur durch neue, positive Erfahrungen zu überwinden sein. Das setzt voraus, daß wir ihnen mit Offenheit begegnen und unsere eigenen Wünsche und Ziele nicht verleugnen oder hinter unserem neugebackenen Europäertum verbergen.
Grundsätzlich gilt: was aus Deutschland und Europa wird, ist offen. Wir betreten einen völlig neuen Abschnitt der Geschichte, und das Neue enthält sowohl Überraschungen als auch Gefahren. Welche Wirtschafts- und Sozialordnung beispielsweise vorherrschen wird, hängt ab vom gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, u.a. davon, ob in der DDR schnell freie und starke Gewerkschaften – verbunden mit denen der Bundesrepublik – entstehen. Grundlage muß in jedem Fall die Demokratie sein. Auch das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes kann sich nur demokratisch durchsetzen. Der erste Schritt wäre, dem deutschen Volk überhaupt die Möglichkeit zu geben, seinen Willen auszudrücken, was nur in einer Volksabstimmung geschehen kann. Wollen wir die Einheit oder nicht? Die neuen Parteien der DDR sollten sich nicht zu fein sein, für eine solche Volksabstimmung, die in beiden Teilen Deutschlands stattzufinden hätte, einzutreten. Ferner – und dies gilt vor allem denen in der DDR, die Angst haben, geschluckt zu werden – muß eine Verfassung ausgearbeitet werden, in die die Erfahrungen und Errungenschaften beider Teile Deutschlands eingehen. Lediglich das Grundgesetz der Bundesrepublik zu übernehmen, hieße auf eine Chance zu verzichten. Die Verfassung aber kann nur eine Verfassungsgebende Versammlung ausarbeiten, die aus freien Wahlen in beiden Teilen nach einheitlichem Wahlrecht hervorgegangen ist.
Wir sollten keine Zeit verlieren, diesen demokratischen Weg zu beschreiten. Ungeduld ist ebensowenig am Platze wie zögerliche Zurückhaltung. Wir werden noch eine zeitlang in provisorischen Staatsgebilden leben, aber besonders für die Menschen in der DDR gilt, daß nicht nur Modelle an die Wand gemalt, sondern praktische Schritte begangen werden müssen. Für diejenigen in der DDR, die sich im engeren Sinne in der Politik betätigen, verlangt das viel, denn sie müssen den gewohnten Boden verlassen, auf dem sie großgeworden sind und der ihre Vorstellungen weitgehend geprägt hat. Davon, wie entschlossen sie das tun, hängt ab, ob auch die bundesdeutschen Politiker aus ihrer selbstgerechten Haltung des großen Onkels aus dem Westen herauskatapultiert werden und sich ebenfalls auf neuen, gesamtdeutschen Boden stellen müssen. Mit anderen Worten: nur eine aktive Deutschlandpolitik auch von Seiten der neuen Gruppierungen in der DDR kann verhindern, daß die DDR der Bundesrepublik einfach als Beute in den Rachen fällt und die 40 Jahre Zweistaatlichkeit mit einer Katastrophe enden.