Zivildienstverordnung geändert

aus telegraph 13/1990
von Gerold Hildebrand

Fast unbemerkt kurz vor der Währungsunion am 27. Juni wurde die Zivildienstverordnung per Ministerratsverordnung verändert (Doku­mentiert im Gesetzblatt Teil I Nr. 40 vom 12. Juli 90). Möglich macht diese Verfahrensweise, bei der nicht einmal die Volkskammer um Zustimmung gefragt zu werden braucht, noch ein Beschluß aus der Modrow-Zeit.
Was ist neu?

In Angleichung an bundesdeutsche Verhältnisse wurde die Kompetenz für den Zivildienst vom Arbeitsministerium auf das für Jugend und Sport übertragen. Zum Zweiten geht es um „die Verfahrensweise in Verbindung mit der Änderung von Wehr- und Zivildienstverhältnissen“.

Einsatz von Zivildienstleistenden in Betrieben und Einrichtungen zu denen sie vorher ein Arbeitsrechtsverhältnis hatten, ist nun unzulässig. Wer also z.B. in einer Stadt, in der es nur ein Kranken­haus gibt in diesem bereits arbeitet, muß den ZD andernorts leisten. Wahrscheinlich war das Ausbeutungsverhältnis bei Einsatz am alten Arbeitsplatz zu offenkundig.

Am härtesten trifft es die Unentschlossenen, diejenigen, die sich sagten: „Mal sehn wie es bei der Armee läuft (jetzt wo sich doch dort sooviiel geändert hat !!) – Zivildienst kann ich ja jederzeit auch da beantragen und nach spätestens 3 Wochen bin ich dann wieder raus aus der Armee.“ Bisher war dies möglich. Nunmehr müssen diejenigen, die dann „Soldat“ genannt werden, bis zum nächsten „planmäßigen Entlassungstermin“ warten, um in den Genuß der „Zivildienstpflicht“ zu kommen – nach bisherigen Gegebenheiten ein halbes Jahr. Und, es kommt noch schlimmer: die abgeleistete Wehrdienstzeit wird ihnen nicht mehr auf die Zivildienstzeit angerechnet! Also hilft nur: Wehrdienst gleich verweigern. Kurioserweise müssen diejenigen, die auf die Wahnwitzidee kommen, vom Zivildienst in den Wehrdienst zu wechseln, ihre Zeit nicht „nachdienen“.
Immer noch gibt es eine nicht unbeträchtliche Anzahl Jugendlicher, die von der Möglichkeit des Zivildienstes einfach noch nichts gehört haben. Diese werden nun doppelt bestraft.

Inzwischen wurde bekannt, daß einige Wehrkreiskommandos (Son­dershausen, Berlin-Prenzlauer Berg, Schwedt, Waren ..) die neue Verordnung über den Zivildienst auf ihre Weise auslegen. Sie versuch­ten zu Musternden weiszumachen, daß die Zivildienstverordnung nicht mehr gelte. So auf die Art, den Zivildienst gibts jetzt nicht mehr – also altbekannte Falschinformation. Der Volkskammerabgeordneten Vera Wollenberger, dort stellvertretende Vorsitzende im Verteidigungsausschuß, sind allein zwei Dutzend solcher Fälle bekannt.

Unklar bleibt, ob damit das drohende Dienstpflichtgesetz abgeschmettert ist, in dessen Entwurf wieder von einer 2-jährigen Haftstrafe für Totalverweigerer die Rede ist. Bisher ist ja nur eine Geldstrafe möglich. Aber bis zum heutigen Tag wurde kein Fall bekannt, daß irgendein Totalverweigerer eine solche ausgesprochen bekam. Behält sich dies der Ministerrat per Beschluß vor?

Veränderungswürdig gewesen wäre z. B. der § 10 (3), der Passus über die Heranziehung von Studienbewerbern:- Studenten müssen vor Studien­beginn zum Zivildienst, befinden sich also im gleichen Druck wie zu SED-Zeiten.
g.h.

Berlin (SN) – Nach zuverlässigen Angaben unseres Berliner Mitarbeiters wurden bis zum 15. Juni 90
– 15380 Dienstbescheide ausgesprochen.
– 14635 sind der Aufforderung nachgekommen
– 745 sind der Aufforderung nicht nachgekommen

davon
– 562 mit Begründung (z. B. Rückstellungsanträge, Krankheit ..)
– 183 erklärten ihre Totalverweigerung.

Bis zum 15. 6. 90 lagen ca. 68 000 Anträge auf Zivildienst vor.