Eine Fahrt nach Bischofferode scheint einer Reise in die Vergessenheit zu gleichen. Fast schon unsichtbar liegt das kleine Örtchen mit seinen knapp 2.000 Einwohnern direkt neben einer monströsen Abraumhalde, die in etwa die gleiche Fläche misst wie Bischofferode selbst.
Von Max Zeising / Aufbruch Ost
Eine Fahrt nach Bischofferode scheint – oberflächlich betrachtet – einer Reise in die Vergessenheit zu gleichen. Fast schon unsichtbar liegt das kleine Örtchen mit seinen knapp 2.000 Einwohnern direkt neben – man könnte auch sagen: unter – einer monströsen Abraumhalde, die in etwa die gleiche Fläche misst wie Bischofferode selbst. Die Halde ist in doppelter Hinsicht das Wahrzeichen des Dorfes: Sie ist auch aus der Ferne unübersehbar und erinnert zugleich an die bewegte Vergangenheit einer Region, die keine Gegenwartsgeschichte mehr zu schreiben scheint und sich verständlicherweise umso stärker über alles bereits Geschehene definiert.
In Bischofferode ist vieles geschehen, worüber Bücher zu füllen wären. Fast ein ganzes Jahrhundert lang, von 1909 bis 1993, brachte das Kaliwerk die Bischofferöder Bergarbeiter in Lohn und Brot. Sie förderten und verarbeiteten Kalisalze, aber – und das ist das Entscheidende – sie waren dabei mehr als nur die Produzenten eines Guts, das, wie bei Lohnarbeit hüben wie drüben zumeist üblich, nicht ihnen selbst gehörte: Sie waren eine verschworene Gemeinschaft. Bis sie eines Tages aus eben jener Gemeinschaft quasi über Nacht herausgerissen, das Band zwischen ihnen von außen zerschnitten wurde, in jenen Tagen, als das Werk nach der politischen Wende plötzlich schließen musste. Eine Zeit, in der sich alles änderte. Nur noch die Halde und das eigens dafür errichtete Kali-Museum erinnern heute an jene Zeit der gemeinsamen Arbeit unter Tage.
Mehr als 25 Jahre danach, an einem bitterkalten Januartag, wirkt die Halde wie ein Schutzpatron, der die Reste seines unter massivem Einwohnerschwund klagenden Klienten – Bischofferode hat seit den 70er-Jahren etwa ein Drittel seiner Bewohner verloren – wie einen Schatz hütet, seine Kraft aber schon längst verloren hat. Umso geheimnisvoller erscheint dieses verlassene, fast museale Dörfchen, in dem sich kaum ein Mensch auf den Straßen bewegt, doch diese Leere zugleich nur als Hülle erscheint, unter der sich wertvolle Schätze verbergen. Schätze, die noch bedeutender sind, als das Kalisalz unter der Erde.
Und tatsächlich: Man muss nicht lange suchen, bis an der Straßenecke ein älterer Mann erscheint, der die Richtung zu den Schätzen weist: Gerhard Jüttemann, ein Kerl wie ein Baumstamm, groß und kräftig und gezeichnet von harter, fruchtbringender Arbeit, steht da, felsenfest, hält die Stellung, fast schon soldatisch, als wolle er die Halde, den Schutthaufen hinter sich wie eine Festung verteidigen.
Sein Handschlag ist fest, seine Stimme ist laut. Eine Respektsperson, ein Anführer. Er führt voran, ins Kali-Museum, zu den Schätzen. Die Schatzkammer öffnet sich: Fotos, Transparente, ausgeschnittene Zeitungsartikel aus einer bewegten Zeit. Anfang der 90er-Jahre, als Bischofferode bundesweit in den Schlagzeilen stand. Auch wegen ihm, wegen Jüttemann. Weil er kämpfte, um den Bergbau, um den Ort, um die Menschen. Weil der Bergbau angegriffen wurde und er selbst sich mit angegriffen fühlte, ganz persönlich. Denn der Bergbau, das war nicht nur seine Arbeit. Das war sein Leben. Nicht mehr und nicht weniger.
Doch die Treuhandanstalt, die sich nach der Wende um die Privatisierung ostdeutscher Betriebe kümmern sollte, um sie – nach bundesdeutscher Lesart – wettbewerbsfähig zu machen, also an den ungezügelten Kapitalismus jenseits der ehemaligen Mauer anzupassen, wollte das Bergwerk schließen. Es sei nicht profitabel genug, lautete die offizielle Begründung. Jüttemann und seine Kumpel sahen das anders, hatten was dagegen. Sie wurden zu Kämpfern.
Noch heute wird der alte Mann zornig, wenn er an diese Zeit zurückdenkt: „Die Schließung hätte es nicht geben dürfen. Bischofferode hatte einen Riesen-Absatz. Die Auftragsbücher waren voll. Wir hatten noch für über 40 Jahre Lagerstätte vor Ort“, schimpft er und fuchtelt dabei wild mit seinen Arbeiterhänden herum, als würde er noch immer unter Tage werkeln, es zumindest wollen, wenn er denn könnte. Aber die Schließung ist eben noch sehr präsent in Bischofferode, wo sonst wenig präsent ist. Da steht Jüttemann beispielhaft für seine Mitmenschen, da ist er einer von ihnen.
Und weil er eben beides ist, Anführer und Mitmensch, war er damals auch genau der richtige, um den Protest gegen die Schließung des Bergwerks zu koordinieren. „Der Protest war sofort da. An Heiligabend standen alle Belegschaftsmitglieder vor dem Werkstor“, erzählt er und muss schmunzeln – ausgerechnet an Heiligabend, ausgerechnet im Eichsfeld, das durch die DDR-Zeit hindurch katholisch geblieben ist, haben sie damals zum Protest gerufen. „Ein Tag, an dem man was zeigen kann“, so Jüttemann.
700 Mitarbeiter hatte das Bergwerk damals. Zu den Protestaktionen kamen bis zu 15.000 Menschen. Auch in der Landeshauptstadt Erfurt und der damaligen Bundeshauptstadt Bonn gab es Kundgebungen und Demonstrationen. Aber, so Jüttemann: „Wir konnten den Betrieb nicht lahmlegen. Denn wenn die Kunden unser Produkt nicht bekommen hätten, wären sie zur Konkurrenz gegangen.“ Also mussten sich die Bergleute etwas einfallen lassen. „Wir hatten ein Schichtsystem: Eine Schicht hat gearbeitet, eine hat geschlafen und eine, die eigentlich frei gehabt hätte, hat den Betrieb besetzt.“
Klingt nach einer wilden, aber auch sehr anstrengenden Zeit. Man versuchte alles, um das Ende des Kaliwerks noch abzuwenden – doch man konnte nicht. Als der Bundestag im Jahre 1992 die Schließung des Werks beschloss, griffen deshalb einige Kumpel zu drastischeren Maßnahmen – und traten in den Hungerstreik. Jüttemann berichtet: „Einige vom Betriebsrat und auch ich haben das nicht mal gewusst. Ich hab dann gesagt: ‚Leute, wisst ihr, was ihr macht? Das ist nicht ohne.‘ Doch die meinten nur: ‚Gerhard, lass das unsere Sache sein. Wir müssen jetzt mit anderen Mitteln kämpfen, sonst erreichen wir gar nichts.‘“
Es war eine Aktion, die ihresgleichen suchte, heute jedoch immer mehr in Vergessenheit gerät, bei all der Schulbücher und Fernsehdokumentationen füllenden Wende-Euphorie. Da war eine Gruppe, die von der Wende, so wie sie abgelaufen ist, ganz und gar nicht profitierte. Die sich vom Westen verschaukelt fühlte. Die sich um ihre Heimat sorgte, auch wenn Jüttemann dieses Wort nicht einmal in den Mund nimmt. Aber die er indirekt meint, wenn er von der verlorenen Arbeit und Gemeinschaft spricht. Heimat, das war damals keine rechte Worthülse, die irgendwelche Gefahren heraufbeschwört, die real gar nicht existieren, sondern ein soziales Konstrukt, das die Menschen in und außerhalb ihrer Arbeit verband, das Rituale schaffte und dem Leben einen Sinn gab.
Also verweigerten sie ein ebenso lebensnotwendiges Ritual: die Nahrungsaufnahme. Dutzende Menschen beteiligten sich daran, einer von ihnen hielt 21 Tage durch. Was haben sie erreicht? „Immerhin hat man Zugeständnisse gemacht, auch wenn manche nicht eingehalten wurden“, berichtet Jüttemann, nicht mehr so zornig wie gerade eben noch: „Die Ersatzarbeitsplätze sind nicht gekommen, aber es gab ein Schmerzensgeld von 7.500 D-Mark.“ Herausgehandelt übrigens von Bodo Ramelow, seit 2014 Ministerpräsident von Thüringen, der sich in diesem Jahr am 27. Oktober zur Wiederwahl stellt. Ein westdeutscher Gewerkschafter, der nach der Wende in den Osten ging. Jüttemann findet lobende Worte für den Regierungschef, was umso erstaunlicher ist, als dass er sonst für Westdeutsche wenig übrig zu haben scheint. Da sitzt der Frust noch tief.
Gleichzeitig ist es nicht verwunderlich, dass Jüttemann, der von 1994 bis 2002 als parteiloser Abgeordneter für die damalige PDS im Bundestag saß, seinem Kollegen nicht in die Suppe spuckt. Denn die PDS war nach der Wende die einzige Partei, die sich ernsthaft um die Belange der Bischofferöder Bergarbeiter kümmerte, ihren Protest unterstützte. Umso mehr fordert Jüttemann von der heutigen LINKEN, dass sie wieder stärker als Partei der Ostdeutschen auftritt, für deren Interessen Partei ergreift. Damit wendet er sich explizit gegen eine linke Partei, die immer kosmopolitischer wird und ihr Wählerglück bei der urbanen Mittelschicht in den Großstädten sucht – sondern die mehr Regionalpolitik betreiben sollte. Denn: „Nach der Wende wurden sämtliche Schlüsselfunktionen in Ostdeutschland mit Westdeutschen besetzt. Da waren die Ostdeutschen sauer. Wir wollten gleichbehandelt werden, nur ein bisschen, nur ein bisschen.“ Jüttemann wiederholt das eindringlich. Und redet sich weiter in Rage: „Wir wurden wie das notwendige Übel behandelt. Die Löhne waren schlechter, die ganzen sozialen Leistungen waren schlechter.“
Womit er einen wunden Punkt trifft. Denn ganz gleich, wie sehr der Ostbeauftrage der Bundesregierung, seit 2018 Christian Hirte (CDU), immer wieder das Hohelied der zunehmenden Angleichung zwischen alten und neuen Bundesländern singt, viele Ostdeutsche glauben ihm nicht. Auch Statistiken zeigen, wie groß die Unterschiede zwischen Ost und West noch heute sind: Bis heute gibt es im Osten niedrigere Löhne und Renten sowie einen geringeres Wohlstandsniveau. Zudem sind Ostdeutsche nach wie vor in Führungspositionen aller Art weiterhin deutlich unterrepräsentiert. Laut Ostdeutschlandbericht des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) vom März 2019 erreicht zudem kein Bundesland im Osten die Produktivität des schwächsten westdeutschen Bundeslands – nämlich des Saarlandes. Und: 464 der 500 größten deutschen Unternehmen haben ihren Sitz im Westen, das sind etwa 93 Prozent.
Das Kali-Museum in Bischofferode dient also zu mehr als nur zum Schwelgen in Erinnerungen an alte, längst vergangene Zeiten. Es ist gleichzeitig ein Mahnmal, eine Warnung. Auch Gerhard Jüttemann will warnen. Wer seiner Heimat beraubt werde, der hole sich diese auf anderem Wege zurück – und sei es ein Weg, der mit den Werten der Bischofferöder Bergleute, Gemeinschaft und Solidarität, überhaupt nicht vereinbar ist, glaubt Jüttemann: „Wir haben jetzt eine hässliche Partei wie die AfD, die alle, die sich ausgegrenzt fühlen, aufgesammelt haben, mit bösen Sprüchen auf Rattenfängerbasis aus sind. Das kann auch nicht die Alternative sein. Im Moment ist das eine richtig starke Konkurrenz.“
Max Zeising ist Mitglied von Aufbruch Ost, einer Gruppe von Geschichtsinteressierten und Aktivisten aus Leipzig. Die Initiative wünscht sich für Ostdeutschland einen emanzipatorischen Aufbruch jenseits von Pegida, AfD und Co. und will den Rechten und Konservativen nicht die Deutungshoheit über die Geschichte überlassen.