aus telegraph 2/98
von Martin Schulze
Die Auflösung der RAF ist nur ein weiterer Schritt des Scheiterns der westdeutschen Linken.
Im April diesen Jahres veröffentlichte die Rote Armee Fraktion ihre Abschiedserklärung. Darin kommen die Autoren zu dem abschließenden Ergebnis, daß es der Gruppe in den 28 Jahren der Stadtguerilla-Geschichte nicht gelungen ist, den bewaffneten Kampf in ein Stadium zu bringen, in dem der militante Angriff die taktische Option einer umfassenden Befreiungsstrategie ist, das heißt, in dem es eine feste Beziehung zwischen der Linken und der Guerilla gibt. Der grundlegende Fehler, den die Gruppe heute selbstkritisch einräumt, sei es gewesen, neben der illegalen, bewaffneten Stadtguerilla keine politisch-soziale Organisation aufzubauen. Die Wirkung von politisch-militärischen Aktionen sei immer überschätzt worden und das hatte einen insgesamt schwachen politischen Prozeß zur Folge. Damit greift die RAF im wesentlichen die seit den siebziger Jahren bestehende Kritik von anderen Teilen der radikalen und auch militanten Linken an ihrer Politik auf. Neben dem generellen Scheitern des „politisch-militärischen Projektes“, als das sich die Stadtguerilla definierte, nachdem sie im Rahmen des internationalen Aufbruches nach 1968 in der BRD aus dem Zusammenkommen von Kulturrevolte und trikontinentaler Focustheorie entstanden war, befaßt sich die Erklärung speziell mit dem Scheitern des Versuches, die RAF aus der antiimperialistischen Strategie der achtziger Jahre in ein breiteres Projekt der BRD-Linken nach 1989 zu transformieren. Die Tatsache, daß ein solches Projekt der Linken nicht entstanden ist, kann aber nur teilweise an einer falschen Politik der Guerilla liegen, sondern ist in erster Linie ein Scheitern der Linken selber. Der vorliegende Text soll versuchen, anhand der RAF-Politik der letzten acht Jahre die Geschichte eines gescheiterten Diskussionsversuches nachzuzeichnen.
1989 – 1992
Die Tötung von Alfred Herrhausen, dem „Herrn des Geldes“, traf mitten in dem Prozeß der deutsch-deutschen „Wiedervereinigung“ den wahrscheinlich mächtigsten Mann Europas. Obwohl das „militärische“ Ziel der Aktion, größtmögliche Zerstörung und Verunsicherung in den Reihen der Gegenseite, möglicherweise erreicht wurde, blieb der politische Teil, die Erklärung, auffallend kurz. Jedoch taucht in der Erklärung ein Diskussionsangebot auf, welches in dieser Form für die Guerillagruppen in der BRD einmalig ist und sich bis zur jetzt erschienen Auflösungserklärung durch alle weiteren veröffentlichten Überlegungen der Untergrundgruppe zieht. Aufgrund der veränderten Situation schlug die RAF einen Prozeß von Diskussion und Praxis vor, in dem „offen über die verschiedenen Erfahrungen, Vorstellungen und Kriterien geredet wird…“. Auch wenn als Ziel dieses Prozesses hier noch eine Neuzusammensetzung der „revolutionären Bewegung“ genannt wurde, ging das Diskussionsangebot über den vermutlich auch damals schon kleinen Kreis der sich als revolutionär definierenden Linken hinaus an alle, „die für eine grundsätzlich andere, an den Menschen orientierte Realität kämpfen“.
Das Angebot ist damals jedoch kaum über den Kreis derer hinaus beachtet worden, die sich schon in den achtziger Jahren intensiver auf die Politik der RAF bezogen haben. Dieser Teil der radikalen Linken definierte sich als „revolutionärer Widerstand“ und grenzte sich damit auch deutlich von anderen Teilen der Linken ab, indem für sie sowohl der Bezug auf die antiimperialistische Strategie der RAF als auch, in nicht unwesentlichen Maße, die Identifizierung mit den Gefangenen aus der RAF im Vordergrund ihres Handelns stand. Diese Zusammenhänge waren zu diesem Zeitpunkt nicht nur sehr klein, sondern auch von den anderen Teilen der Linken isoliert. Selbst in diesen Zusammenhängen der „Antiimps“, wie sie von den Autonomen genannt wurden, löste der Vorschlag der RAF eher Verunsicherung aus, als daß er, auch in seiner Allgemeinheit, auf Zustimmung gestoßen wäre. Ein Grund dafür war auch, daß die RAF keinen deutlichen Schlußstrich unter den gescheiterten Versuch zog, zusammen mit anderen Gruppen in Westeuropa eine antiimperialistische Front aufzubauen, sondern stattdessen davon ausgegangen zu sein scheint, daß man sie schon irgendwie richtig verstehen würde. Ein weiterer Faktor, warum die Diskussion über diesen Kreis nie hinaus kam war sicher, daß die verschiedensten Gruppen, auch gerade der radikalen Linken, hartnäckig an einem aus den siebziger und achtziger Jahren stammenden Bild von der Guerilla festhielten. Die RAF war längst zu einem Symbol geworden, das die Betrachter je nach eigenem Standpunkt mit Inhalten füllten, unabhängig davon, was die Guerilla tatsächlich sagte oder tat. So wurde und wird die RAF weiter für Inhalte und Formen kritisiert, die sie seit diesem Zeitpunkt schon nicht mehr vertrat. Diese Begründungen für Nichtauseinandersetzung oder Kritik wurden dadurch unterstützt, daß die RAF einerseits weiter Begriffe ihrer Terminologie aus den 80ern benutzte, ihren Bezugsrahmen auch weiterhin mit „revolutionäre Linke“, Gefangene aus der RAF und „westeuropäische Front“ angab und andererseits ihre neuen Überlegungen nur schemenhaft andeuten konnte.
So richtete sich die nächste – fehlgeschlagene – Aktion gegen den Innenstaatssekretär Neusel. Die Aktion versuchte, innerhalb der radikalen Linken eine Unterstützung für den Hungerstreik der politischen Gefangenen in Spanien und damit auch für die Gefangenen aus der RAF in Deutschland anzustoßen. Nach einer Einschätzung über die internationale Umbruchsituation und die gestärkte Rolle der BRD verweisen die Autoren darauf, daß in verschiedenen Auseinandersetzungen wie in Palästina die Intifada neue Massenbewegungen eine Macht von Unten entwickelt haben, die auch die Zentralität der jeweiligen Guerilla für den Befreiungsprozeß in Frage stellt. Für die BRD sehen sie solche Entwicklungen zum Beispiel in der Hausbesetzerbewegung, in der Mobilisierung für die Hafenstraße. Alleine der Zusammenhang mit den politischen Gefangenen und schon gar den Gefangenen in Spanien bleibt ebenso abstrakt wie das Ziel der Aktion selber. Nach der Aktion erschien ein Kritikpapier, das eine offene Auseinandersetzung mit der Politik der RAF einforderte und diese selbst aus der Perspektive der Situation der Gefangenen kritisierte. In diesem Papier wurde auch erstmalig öffentlich ein Vorschlag gemacht, der ein Jahr später von der RAF aufgegriffen werden sollte. Die RAF, so die Autorin Hanna Cash, sollte zumindest die gezielt tödlichen Aktionen einstellen, weil diese erstens in der aktuellen Situation politisch sinnlos seien und zweitens vom Staat als Vorwand für die weitere Repression gegen die Gefangenen aus der RAF genutzt werden. Das Papier beruft sich unter anderem auf ein Angebot der Bundesregierung, in dem der Staat die Zusammenlegung der Gefangenen anbietet für den Fall daß die Gruppe der Illegalen auftaucht und in einem Drittland unter der Kontrolle des Staatsschutzes lebt. Im folgenden kritisierte es scharf die politischen Kriterien der „Antiimps“. Ihr Verhältnis zur RAF, speziell zu den Gefangenen, sei instrumentell, es gehe nicht um die gesellschaftliche Realität oder um eine realistische Analyse der neuen gesellschaftlichen Situation und um eine darauf aufbauende Strategie, sondern ausschließlich um die Entwicklung eines Selbstbildes. Das Selbstbild einer „revolutionären Identität“, bei der die Begriffe Bewaffnet/Militant unreflektiert synonym mit der Definition von „Revolutionär“ verwendet werden. Auffallend ist, daß das Hanna Cash – Papier die Situation der Gefangenen aus der RAF zur Grundlage seiner Kritik macht und sehr gut die Position eines Teils der Gefangenen widergibt, die sich Ende 1994 von der RAF trennen werden.
Fast gleichzeitig mit dem Erscheinen des Papiers führte die RAF ihre nächste Aktion, den Beschuß der US-Botschaft in Bonn, durch. Sie versuchte hauptsächlich eine Verbindung zu den Kämpfen der Anti-Kriegsbewegung herzustellen, die seit dem Beginn des Golfkrieges die Straßen der bundesdeutschen Großstädte mit unzähligen Demonstrationen eroberte. Die Aktion reihte sich ein in eine Reihe von anderen militanten Aktionen, die, hauptsächlich am Anfang des Krieges, in der BRD und weltweit stattfanden. Für die RAF war es eine Aktion, zu der sie sich schnell entscheiden mußte, und so war ihr Beitrag zur Antikriegsmobilisierung ein eher symbolischer: ein bißchen Sachschaden am Botschaftsgebäude und vielleicht ein paar erschrockene Botschaftsangehörige. Es war die erste Aktion der RAF, die deutlich machte, daß es dem Kommando auch darum ging, die Isolierung antiimperialistischer Politik in der Linken zu überwinden. Nach der Aktion kamen die verschiedensten, zum Teil öffentlichen, Kritiken aus dem Bereich ihrer „klassischen Klientel“, die die Gruppe für ihre schlechte Analyse und das niedrige Aktionsniveau angriffen. „Es hat kaum einen Punkt gegeben, an dem uns deutlicher geworden ist, daß uns viele wie eine Institution begreifen. … Die RAF ist zur Projektionsfläche geworden.“ schrieb die Gruppe später.
Nach der Erschießung von Treuhandchef Rohwedder ist die Frage, was sich die RAF von der Aktion erhoffte und wie sie die Wirkung im Nachhinein einschätzte, nocheinmal diskutiert worden. Nachdem die RAF ein Jahr nach dieser Aktion die Zäsur verkündete und damit verbunden die Einstellung der gezielt tödlichen Aktionen, erklärte sie anläßlich des Gegengipfels zum G7-Treffen, daß ihnen gerade nach dieser Aktion klargeworden sei, daß die Aktion keine Organisierungs- und Diskussionsprozesse vorangebracht hat. Einerseits gibt es ausreichend Erfahrungen und Berichte aus verschiedensten ostdeutschen Regionen, die bestätigen, daß die Aktion bei vielen Opfern der Bonner Kahlschlagspolitik unverhohlenen Applaus hervorgerufen hat, aber den Prozeß einer politischen Organisierung gegen genau diese Kahlschlagspolitik hat sie nicht vorangebracht. Im Gegenteil ist die bis dahin ständig ansteigende Mobilisierung in verschiedenen ostdeutschen Regionen zu den Montagsdemonstrationen sofort nach der Aktion in sich zusammengebrochen. Das hing im wesentlichen damit zusammen, daß der DGB, der eine wichtige Rolle bei der Organisation der Proteste hatte, diese nach dem plötzlichen Tod seines wichtigsten Tarifpartners im Osten absagte. Eine andere Reaktion kann jedoch nicht erwartet worden sein und die mögliche Vorstellung, daß die Proteste ohne DGB, autonom weitergeführt werden, kann in der damaligen Situation keinen Hauch von Realismus gehabt haben. Die Aktion ist jedoch insofern ein Novum, als daß sie einer der wenigen Punkte geblieben ist, an denen sich Linksradikale aus dem Westen mit der neuen Situation in der Ex-DDR auseinandergesetzt und versucht haben, eine Verbindung zu den Kämpfen hier herzustellen. Die RAF erkannte an dieser Aktion, daß es sich um zwei völlig verschiedene Realitäten und Erfahrungen handelte und daß für deren Zusammenkommen intensive Auseinandersetzung und Verständnis notwendig sein würden. Auch dieser Anstoß ist von der Restlinken in der BRD weder verstanden noch aufgegriffen worden.
„Wir sind mit unseren Aktionen an eine Grenze gestoßen. … Gerade unsere letzte Aktion, die gegen Treuhandchef Rohwedder, hat das für uns deutlich gemacht.“ schrieb die RAF später zu dem nach der Aktion erfolgten Schritt der Zäsur. Im April 1992 erschien eine Erklärung „An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwürdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann.“. In diesem Papier schildern die Autoren kurz ihre Entwicklung in den letzten Jahren. Sie schildern sie als einen parallelen Prozeß von Neubestimmung und praktischen Interventionen. Einerseits hatte es den Versuch gegeben, die Aktionen in einen Zusammenhang mit aktuellen Kämpfen in der Gesellschaft zu setzen und außerdem hatte die Gruppe ihre, von anderen Linksradikalen gern und häufig kritisierte, Terminologie verändert und sich intensiver mit gesellschaftlichen Widersprüchen wie Rassismus und Patriarchat auseinandergesetzt, die nicht nur sozio-ökonomische Grundlagen haben. Trotz dieser Veränderungen hat sich der notwendige Diskussions- und Organisierungsprozeß mit anderen Teilen der Linken und der Gesellschaft nicht eingestellt. Die RAF sah als Ursache vor allem den eigenen Fehler, daß sie diesen Prozeß nicht genauer und nachvollziehbarer vorgestellt hat und kommt zu dem Ergebnis, daß auch Aktionen von ihnen gegen Repräsentanten aus Staat und Wirtschaft diesen Prozeß nicht voranbringen, weil sie das Ergebnis der Diskussion vorwegnehmen würden.
Dem „Aprilpapier“ folgten innerhalb des nächsten Jahres zwei weitere Papiere, in denen die Gruppe einerseits ihre kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte weiterführte und andererseits versuchte, den Rahmen für eine neue Politik genauer vorzustellen. Kernpunkt bleibt die Atomisierung, die psycho-soziale Verelendung der Menschen in der metropolitanen, kapitalistischen Gesellschaft zu der nun, mit der Beschleunigung und Globalisierung kapitalistischer Verwertungsprozesse, auch die Tendenz einer materiellen Verelendung hinzukommt. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, der seine Ursache im wesentlichen in im Inneren ungelösten Problemen hat, sind die revolutionären Bewegungen auf der ganzen Welt auf sich selbst zurückgeworfen und müssen in einem Prozeß grundsätzlicher Reflexion ihre politischen Modelle und die von ihnen vermittelten Werte überprüfen. Für die RAF könnte das ein Prozeß der Organisierung in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen sein, indem konkrete, emanzipative Forderungen und Ziele gegen die Herrschaft entwickelt und teilweise auch durchgesetzt werden. Diesen Prozeß brachte sie auf den Begriff einer zu entwickelnden Gegenmacht von Unten, die den verschiedenen Herrschaftsformen eine reale Alternative entgegensetzt. Neben dem allgemeinen Problem, daß eine neue Politik nur schemenhaft skizziert werden kann, wenn das alte politische Modell noch existiert und das neue noch nicht realisiert ist, stand für die RAF das Problem, daß sie in diesem Modell ihre Verantwortung für den politischen Prozeß zu einem großen Teil an die radikale Linke abgegeben hatte und damit die Umsetzung dieser neuen Vorstellungen nur noch in einem geringen Maß von ihr selbst abhing.
1992-1994
Ein Jahr nach dem Erscheinen der Papiere, im März 1993, machte die RAF ihre nächste und zugleich letzte Aktion – die Sprengung des Knastneubaus in Weiterstadt. In der Erklärung schrieb die Gruppe, daß sie mit der Aktion zu dem politischen Druck beitragen wollte, der die harte Haltung des Staates gegen die Forderungen der Gefangenen aus der RAF zurückdrängen könnte. Es bleibt ein Widerspruch, daß schon die Zäsur mit der Erkenntnis begründet wurde, daß die Aktionen keinen Prozeß von grundlegender Diskussion um linke Politik und schon gar keine neue Organisierung voranbringen können. An der Haltung des Staates hat sich nach der Aktion ebensowenig geändert wie an der Abstinenz anderer Gruppen in der Linken oder der Gesellschaft gegenüber dem Problem der politischen Gefangenen. Im Gegenteil, trafen die staatlichen Maßnahmen auf eine Situation innerer Zerstrittenheit, die ein halbes Jahr später öffentlich bekannt wurde, als sich ein großer Teil der Gefangenen von der illegalen Gruppe der RAF trennte. Die Tatsache, daß nach dem Hungerstreik 1989 keine nennenswerte politische Mobilisierung in diese Richtung stattgefunden hatte, dürfte deshalb auch eher der zerstrittenen und konkurrenten Situation im Gesamtzusammenhang der RAF geschuldet sein, die von ständigen gegenseitigen Unterstellungen, Positionierungszwängen, tatsächlichen und vermeintlichen Instrumentalisierungsversuchen geprägt war, als dem Charakter der Aktionen selber. Der Knast wurde mit enormen Kosten wieder aufgebaut. Nennenswerten Widerstand dagegen gab es nicht. Insofern scheint das Argument durchaus berechtigt, daß die Aktion nichts bewirkt hat, trotzdem sie sicher zu den populärsten in der Geschichte der RAF überhaupt gehört.
Unmittelbar nach der Sprengung des Knastes wurden in Bad Kleinen Birgit Hogefeld verhaftet und Wolfgang Grams erschossen. Die Aktion war möglich geworden, weil die beiden, die in der RAF organisiert waren, seit über zwei Jahren Kontakt zu Klaus Steinmetz, einem V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes, hatten. Die Existenz des Spitzels dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, daß die Bundesregierung, nachdem sie 1990 mit der Kinkelinitiative ihre Bereitschaft angedeutet hatte, die Situation der Gefangenen positiv zu verändern, sich wieder auf eine harte Haltung zurückgezogen hatte. Nach dem Tod des Chefs der Deutschen Bank hatten Industrielle aus einem unverkennbaren persönlichen Interesse dahingehend Druck gemacht, daß eine mögliche „Entspannung“ in der Gefangenenfrage auch ihr persönliches Sicherheitsbedürfnis besser befriedigen würde. Mit dem Spitzel meinte die Bundesregierung nun wieder die Möglichkeit einer militärischen Lösung in der Hand zu haben. Zum einen bewirkte die GSG9-Aktion einen Medien-Hype in Bezug auf die RAF und außerdem beförderte sie die Auseinandersetzungen im Gesamtzusammenhang der RAF. Der größte Teil der Gefangenen aus RAF sah sich durch die Möglichkeit des Eindringens eines Spitzels in die Struktur in ihrer Kritik an der neuen Politik der illegalen Gruppe bestätigt und warf die Frage auf, inwieweit der VS über den Spitzel Einfluß auf diese neue Politik hatte. Das ging soweit, daß die Gruppe, die den Weiterstädter Knast gesprengt hatte, durch Gefangene als „steinmetzsche Einheit“ bezeichnet wurde. Hintergrund der Auseinandersetzungen war der spätestens seit 1992 unterschwellig vorhandene Konflikt um verschiedene Vorstellungen von der Einstellung des bewaffneten Kampfes. Die Position der Mehrheit der Gefangen war vor allem dadurch geprägt, daß der Staat durch die Existenz der illegalen Gruppe, deren neue inhaltliche Entwicklung sie darüberhinaus nicht mittrugen, weiter die Möglichkeit einer harten Haltung gegenüber den Forderungen von Haftlockerungen und Entlassungen hatte. Die Illegalen hatten ihrerseits den Fehler gemacht, im Zusammenhang mit ihrer Entscheidung zur Zäsur die Situation der Gefangenen anzusprechen. Nach einer Erklärung der Mehrheit der Gefangenen, in der sie ihre Trennung von den Illegalen und denen mit ihnen verbundenen Gefangenen bekanntgaben, schlugen die Auseinandersetzungen in einen, für Außenstehende kaum noch zu überblickenden, offenen Kleinkrieg um, in dem sich die beiden Gruppen gegenseitig vorwarfen, die weitere Entwicklung der RAF-Politik mit der Situation der Gefangenen zu „verknüpfen“ und einen „Deal“ mit dem Staat betrieben zu haben.
Diese Spaltung, die auch im politischen Umfeld von Gefangen und RAF nachvollzogen wurde, markiert warscheinlich das Ende des Diskussions- und Organisationsversuches, dessen Basis eben dieses linksradikale Umfeld gewesen ist. Wenn die RAF in ihrer Auflösungserklärung von ihrer Niederlage 1993 redet, ist damit warscheinlich diese Entwicklung gemeint, in der vor allem deutlich geworden ist, daß es nicht gelungen ist, das neue Projekt auf eine breitere soziale Grundlage zu bringen, als die radikale Linke sie darstellt. Nach einer längeren Erklärung, die sich vor allem mit dem Eindringen des Spitzels Klaus Steinmetz und dem Bruch mit den Gefangenen beschäftigte, veröffentlichte die RAF bis zur aktuellen Auflösungserklärung nur noch zwei kurze Texte, in denen sie auf verschiedene Gerüchte und Vorwürfe einging, die mit ihrer Niederlage 1993 zusammenhingen und verschwand so weitestgehend aus dem Bewußtsein der breiteren Öffentlichkeit.
road to nowhere
Insgesamt ist der Versuch, über Diskussion und Organisierung eine neue Grundlage für eine radikale Linke zu schaffen an dem historischen Ballast hängengeblieben, den die RAF in diesen Prozeß miteingebracht hat. Der größte Teil ihrer alten Zuammenhänge, der Antiimps, begriff die alte Konzeption der Stadtguerilla weiter als zeitlose Antwort. Die Selbstdefinition war damals die einer Gruppe, die über polit-ökonomische Analyse die Schwachpunkte der Entwicklung des imperialistischen Gesamtsystems definiert und diese Schwachpunkte auf möglichst hohem militärischen Niveau angreift. Allen anderen Gruppen, die ebenfalls militante oder militärische Mittel benutzten, hätten sie schon alleine wegen deren angeblich mangelnder Analyse immer das Prädikat „Guerilla“ verweigert. Nach 1992 war die Gruppe nun mit einer solchen Kritik ihrer ehemaligen Unterstützer an sich selbst konfrontiert.
Durch den objektiven Geiselstatus der Gefangenen aus der RAF blieb die Gruppe in allem was sie an neuen Aktionen und Überlegungen einbrachte, auf eine Solidärität verpflichtet, die durch teilweise sehr gegensätzliche Interessen begrenzt war und die den Diskussionsprozeß ebenfalls nicht voran brachte.
Nur aus dieser Geschichte eines hierarchischen und vielfach kritisierten Verhältnisses zur „legalen“ Linken ist es verständlich, daß die RAF sich in Bezug auf eine grundsätzliche Kritik an der restlichen Linken jetzt extrem zurückhielt. Leider ist es aber so, daß diese sehr begrüßenswerte Herangehensweise, nämlich zuerst die eigenen Fehler zu thematisieren, weder auf andere Teile der Linken abgefärbt hat, noch ausreicht, um die Gründe für das Scheitern des nun folgenden Diskussionsversuches ausreichend zu erklären, weil diese sicher nicht nur bei der RAF lagen und liegen.
Die Reaktion auf der Seite der radikalen Linken war im wesentlichen Unverständnis. Obwohl, zum Beispiel, die RAF ausdrücklich nicht den Anspruch hatte, eine neue strategische Linie zu formulieren, wurde sie so begriffen, und in linksradikalen Zusammenhängen wurde der Sinn oder Unsinn der neuen „Strategie einer Gegenmacht von Unten“ diskutiert. Auch die letzten Aktionen wurden oft nicht als Unterstützung für bestehende Projekte begriffen, sondern sofort als Vorschlag für ein gemeinsames Angriffsziel betrachtet. Nach dem Aprilpapier wurde über das „Aufgeben des bewaffneten Kampfes“ diskutiert, obwohl die RAF ausdrücklich gesagt hatte, daß sie Aktionen mit einem bestimmten Charakter, nämlich tödliche Angriffe auf Repräsentanten aus Staat und Wirtschaft, einstellt. Es gab aus dem Spektrum der sich als „revolutionär“ oder „militant“ verstehenden Linken die wildesten Kritiken und Vorwürfe an die RAF, die im wesentlichen darin kulminierten, daß die RAF die Revolution verraten würde und gar nicht mehr „wirklich“ kämpfen wolle. Insgesamt war die Situation auf der Seite derer, die die Möglichkeit gehabt hätten, langfristig ein neues Organisierungsprojekt anzuschieben, von der Nichtbereitschaft geprägt, eigene Kriterien zu hinterfragen und die Ghettos der „revolutionären“, „autonomen“ oder „Frauen/Lesben“ – Identität zugunsten eines weitergehenden Projektes zu verlassen. Im wesentlichen versuchte die RAF ihre gesellschaftliche Isolierung zu überwinden, indem sie die Verbindung zu einer Linken suchte, deren Formen und Inhalte nicht weniger überholt und deren gesellschaftliche Isolation nicht geringer war als die der RAF selber.
Die RAF griff in gewisser Weise auf eine Politik zurück, die die Gruppe in ihrer Entstehungsphase verfolgte. Das ursprüngliche Konzept, welches eine enge Verbindung der Stadtguerilla mit den Trägern sozialer Revolten beschrieb, war vom größten Teil der ersten Gruppe zugunsten einer Konzeptes von Intervention fallengelassen worden, das sich ausschließlich an den Bedingungen antiimperialistischer Politik außerhalb der Metropolen orientierte. Damit beförderte die RAF damals die historische Spaltung von antiimperialistischer und sozialrevolutionärer Politik in der BRD. Das Problem des neuen Vorschlags der RAF an die linksradikalen Gruppen war, daß er durchaus nicht alle Implikationen des linksradikalen Alltags in der BRD berücksichtigte. Es gab praktische keine soziale Grundlage, von der aus hätte versucht werden können, den schleichenden Auflösungsprozeß einer sich weitgehend entwaffnenden und demoralisierten linken Szene aufzuhalten. Diese Szene war geprägt worden in einem historisch bedingten sozialen Burgfrieden, in dem sowohl die SPD als auch die CDU soziale Sicherheit auch für ihre Gegner garantierten, um an dem Grenzverlauf der Blockkonfrontation soziale Unruhen zu vermeiden. Eine antagonistische Politik konnte subversive Kraft dort nur durch eine moralische Verweigerungshaltung entwickeln, deren Denk- und Handlungsstruktur keinen Platz ließ, um gesellschaftliche Tendenzen und Auseinandersetzungen auch nur zu registrieren, weil sie sich genau auf der Abgrenzung zu ihnen konstituierte. Die RAF und die antiimperialistischen Gruppen waren die, deren politisches Modell am stärksten auf dem Bruch mit der gesellschaftlichen Realität in der BRD basierte. Die Tatsache das ausgerechnet die RAF jetzt versuchte, diesen Bruch rückgängig zu machen, den „Bruch mit dem Bruch“ zu vollziehen, läßt sich wahrscheinlich nur aus den Anregungen verstehen, die von den klassischen Guerillabewegungen im Trikont Ende der achtziger Jahre ausgingen. Die Fähigkeit, aus einem internationalen Zusammenhang globale Tendenzen zu analysieren, konzeptionelle Bestimmung zu leisten und strategisch zu denken, war in der BRD seit jeher das Privileg von Gruppen, die außerhalb einer bestimmten Form von Szenealltag lebten und machte gleichzeitig die Isolation der verschiedenen Guerilla-Gruppen aus, von denen nach der weitgehend „stillen“ Auflösung der Revolutionären Zellen und der Roten Zora nur noch die RAF übrigblieb. Die RZ ihrerseits waren in den achtzigern mit genau dem Modell gescheitert, das die RAF jetzt versuchte neu zu etablieren – Vermittlung und Verankerung der Guerilla in einer linksradikalen Szene. Insgesamt ist die einzige Legitimation für einen Organisationsversuch mit diesen Spektren der Restlinken das gleichzeitige Fehlen einer breiteren aufgeklärten Gegenbewegung jenseits dieser Gruppen. Die gleichzeitige Auflösung der liberalen Positionen in der Gesellschaft, die Nichtexistenz einer zivilgesellschaftlichen Mobilisierung warf jeden Organisierungs- oder Diskussionsversuch auf sich selbst zurück.
Die Abschiedserklärung reduziert sich im wesentlichen auf eine verabschiedende Grundeinschätzung der eigenen Politik und bleibt, so notwendig diese Einschätzungen auch sein mögen, sicher weit hinter dem zurück, was sich viele von dem seit langem angekündigten „Resümee der Geschichte der Linken – und in ihr die RAF“ erwartet hatten.
Den staatstragenden Medien und den mit ihnen verbundenen sozialen Gruppen ist die Erleichterung über die Auflösung ihres letzten physischen Gegners aus den Reihen der Linken zwar deutlich anzumerken gewesen – einige Beiträge nutzten die vorerst wahrscheinlich letzte Gelegenheit, um die „entmenschte Grausamkeit“ von bewaffnetem Widerstand zu brandmarken, aber eine wirkliche Reaktion im Sinne irgendeiner Konsequenz aus der veränderten Situation gab es nicht. Eine kurz angedeutete öffentliche Diskussion über die mögliche Rücknahme von Sondergesetzen, deren Inkraftsetzung ihrerzeit mit der Existenz der RAF begründet wurde, brach sofort in sich zusammen. Eine Lösung für die noch einsitzenden Gefangenen oder die Menschen, nach denen immer noch gefandet wird, ist nach wie vor nicht absehbar.
Die von der RAF in die Diskussion gebrachten Grundlagen für eine linke Politik waren richtig, bevor sie von ihr thematisiert wurden und bleiben es, unabhängig von der Auflösung.
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