Berliner Demonstration gegen die Wahl von Egon Krenz am 24. Oktober

aus telegraph 6/1989, vom 27. Oktober 1989

Nach der Wahl von Krenz zum Staatsratsvorsitzenden und Chef des Nationalen Verteidigungsrates wurde er beim Verlassen des Staaztsratsgebäudes von etwa 150 herzueilenden Leuten umringt. Diesen seinen wenigen treuen Anhänger, von denen die Hälfte allerdings aus Touristen und Pressefotographen bestanden, winkte Egon Krenz leutseelig und hielt eine etwa 10-minütige Rede. Mit Flugblättern war die Bevölkerung zu einer Demonstration für 17.00 am Alexanderplatz eingeladen worden. Krenz, der Hauptverantwortliche für den Wahlbetrug und die Ausschreitungen der Sicherheitskräfte, hieß es, dürfe nicht zum absoluten Machthaber des Landes gemacht werden. Die Demonstration wurde dann zur bisher größten Berliner Straßendemonstration seit dem 17. Juni 1953. Nach Schätzungen aus den Gruppen waren es 10-20.000 Personen, nach offiziellen Angaben „bis zu 12.000“. Nachdem Polizisten und Stasi-Leute vergeblich in Diskussionen von einer Demonstration abgeraten hatten bildete sich der Kern unterhalb des Fernsehturms. Eine wachsende Menschenmenge zog am Palast vorbei, der von der Staatssicherheit abgesperrt war, über Marx-Engels-Platz zum Eingang der Volkskammer, dann wieder zurück zum ADN-Gebäude, zum Berliner Verlag und zurück zum Alexanderplatz. Voran wurde eine rote Fahne getragen. Sprechchöre entstanden spontan aus der Menge: „Volkskammer, welch ein Jammer!“, „ADN, hör auf zu penn!“ „Pressefreiheit!“, „Junge Welt – Lügenblatt, „In Dörfern und Städten alle Macht den Räten“ „Egon Krenz, wir sind die Konkurrenz!“ „Egon, wer hat uns gefragt?“ „Freie Wahlen!“, „Stasi in die Produktion!“, „Neues Forum zulassen!“, „Schnitzler in die Muppet-Show!“, „Visafrei bis nach Schanghai!“, „Volksentscheid!“, „Untersuchungskommission!“, „Baut ein neues Altersheim und steckt das ZK hinein!“, „Mielke in den Ruhestand!“, „Pressefreiheit!“, „Bürger, laßt das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!“, Zu Uniformierten: „Zieht Euch um und reiht Euch ein!“, usw..

Die Internationale wurde gesungen. Polizei regelte den Verkehr, Stasi hielt sich zurück. Die Demonstration verlief völlig friedlich. Drohende Äußerungen gegenüber Sicherheitskräften, über die sich am nächsten Tag der Poizeipräsident beklagte, gab es nicht. Sollte es am Rande doch solche Äußerungen gegeben haben, sind sie vereinzelt und nicht charakteristisch.

Durch einen neuen Zustrom fand die Demonstration von der Weltzeituhr eine Fortsetzung über die Rathauspassagen. Der Zug vereinigte sich mit einem anderem Zug aus Richtung Palast (mehr als 1.000) auf der Spandauer Straße. Gemeinsam zogen die Demonstranten zur Volkskammer. Nachdem der Demonstrationszug noch einmal zur zur Gethsemanekirche gezogen war, kehrte er, auf das Gerücht, daß ein Verantwortlicher sich den Anfragen der Demonstranten stellen wolle, noch einmal zur Volkskammer zurück, konnte aber wegen einer Polizeiabsperrung sein Ziel nicht erreichen und löste sich dort auf. Einen Zug dieser Demonstration in Richtung Brandenburger Tor, wie vom Polizeipräsidenten unterstellt, hat es nicht gegeben. Berichtet wurde uns von einer kleinen Ansammlung einer völlig anderen Gruppe vor dem Brandenburger Tor, die durch die Polizei sehr schnell aufgelöst wurde.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph