Erklärung der Sechsundsechzig

Das Treffen von sechs ehemaligen DDR‑Oppositionellen mit dem Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Kohl, am 23. August hat uns nicht den Atem verschlagen. Wir, eine Reihe von Leuten, die auch das Regime in der DDR bekämpft haben, jedoch in der neuen Gesellschaft keine wirkliche Alternative zur DDR sehen können, fühlen uns wiederum auf freche Weise vereinnahmt. Hinzu kommt, daß niemand der in der Kohl‑Runde Versammelten dem von den Medien vermittelten Eindruck widersprach, sie seien die einzigen Vertreter der Bürgerbewegung, die den Sturz des Regimes in der DDR herbeigeführt hat.

Bärbel Bohley ist mittlerweile für solche Eskapaden bekannt. Immerhin hatte sie jedoch, nachdem sie vor zwei Jahren zum ersten Mal im Namen des Neuen Forum mit dem Kanzler gesprochen hatte, noch eine richtige Erkenntnis: Sie habe geglaubt, daß sie Kohl über die wirklichen Vorgänge in Ostdeutschland aufklären könne. Tatsächlich sei sie aber nur benutzt worden. Diese bedenkenswerte Schlußfolgerung scheint inzwischen völlig vergessen. Außerdem Bärbel Bohleys Wohnung versammelten selbsternannten Runde ist niemand von dem Kohl‑Besuch informiert, geschweige denn nach seiner Meinung gefragt worden. Das Gespräch wurde vielmehr nach eigenem Eingeständnis stillschweigend vorbereitet.

Wir wissen, daß der derzeitige Zustand Deutschlands im Inneren und in der Außenpolitik nicht ein Ergebnis der mangelnden Informiertheit des Kanzlers ist. Wir glauben vielmehr, daß die Entwicklung in Ostdeutschland, die Reorganisation alter und die Organisation neuer Seilschaften, die Verschleuderung des DDR‑Volksvermögens an Alt‑ und Neureiche und die schrittweise Rücknahme der 1989 in der DDR erkämpften sozialen und bürgerlichen Rechte eine gewollte Politik ist. Nicht nur die Opfer des alten Regimes werden nicht oder nur widerwillig entschädigt. Im Gegenteil. Rückübertragungen, Mietsteigerungen, gravierende Einschnitte ins soziale Netz, immer weitere kommerzielle und juristische Beschränkung der Presse‑ und Meinungsfreiheit, neue Polizeigesetze, immer ausgreifender Befugnisse für die Geheimdienste schaffen neue Entrechtung von Bürgern, neue Opfer und einen neuen Überwachungsstaat. Ganz zu schweigen von der inzwischen aktiven Teilnahme der Bundeswehr an weltweiten militärischen Einsätzen, der Auslieferung von Asylbewerbern an ihre Todfeinde, dem Waffenhandel und der wirtschaftlichen und politischen Unterstützung von Diktaturen.

Diese Entwicklung ist von der Regierung Kohl beabsichtigt. Wir distanzieren uns von Leuten die diesem Kanzler im Tausch gegen ein paar vage Versprechungen die Legitimation der DDR‑Bürgerbewegung verschaffen wollen. Wir stehen für die politisch Entrechteten und sozial Schwachen ob sie nun Verfolgte der DDR, der politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland oder der kapitalistischen Neuen Weltordnung sind.

Mario Albrecht (Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer), Christina Asse (Mitarbeiterin der Gruppe Neues Forum/ Bürgerbewegung im Abgeordnetenhaus Berlin), Roland Baron (Neues Forum (Berlin) Thomas Beckmann (Freie Arbeiter Union, Wolfsruh), Axel Sindrich (Sprecher des Neuen Forum Berlin), Reiner Blum (Unterstützerkreis Bosch-Siemens-Haushaltsgerätewerk), Gunther Breitkopf (AG Arbeit und Soziale Politik beim Neuen Forum), Jens Clasen (Freundeskreis Oranienburg), Uwe Dähn (Bündnis 90/Die Grünen Berlin), Anke Engelmann (Kirche von unten), Lothar Feix (Berlin)‘ Bernd und Beate Florath (Neues Forum), Bernd Gehrke (Mitarbeiter der Gruppe Neues Forum/ Bürgerbewegung im Abgeordnetenhaus Berlin)’Nora Gehrke (Berlin), Steffen Gullymoy-Geisler (Chemnitz), Sebastian Gerhard (Initiative Vereinigte Linke Berlin), Gerd Franz (Westberlin ‑ Teilnehmer der Mahnwache vor der Staatssicherheitszentrale in Berlin), Christian Halbrock (Berlin), Manfred Harstedt (Leiter Umweltzentrum Chemnitz), Matthias Hennig (Chemnitz), Karl‑Heinz Heymann (Neues Forum Berlin), Renate Hürtgen (Bündnis kritischer GewerkschafterInnen Ost West), Werner Jahn (Initiative Vereinigte Linke Berlin), Johanna und Roman Kalex (Arbeitskreis Wolfspelz, Dresden), Wolfram Kempe (Redaktion „Sklaven“, Berlin), Conny Kirchgeorg (Wählergemeinschaft Bündnis Berlin-Prenzlauer Berg), Thomas Klein (Initiative vereinigte Linke Berlin), Tobias Korting (Sperma‑Combo‑Herr Blum, Jena), Ingrid Köppe (Berlin), Barbara Koltzer (Baobab Berlin), Stefan Konopatzki (Bürgerkomitee 15 Januar), Michael Kreyenborg (Munchehofe), Andreas Kruse (Sprecher des Neuen Forum Berlin), Michael Kukutz (Neues Forum), Michael Meinicke (Umwelt‑Bibliothek Berlin), Ina Messer (Arbeitsausschuß des Neuen Forum Berlin), Dirk Moldt (Berlin), Krista Nowak (Baobab Berlin), Bert Papenfuß (Redaktion „Sklaven“‚, Berlin), Olaf Piotrowsky (Grüne Liga Chemnitz), Judith, Matthias und Tabea Porath (Freundeskreis Oranienburg), Uwe Radloff (Mitglied des Arbeitsausschuß des Neuen Forum 1989/ 90), Stefan Ret (Redaktion Sklaven‘, Berlin), Rita Rohr (Initiative Vereinigte Linke Berlin), Wolfgang Rüddenklau (Umwelt‑Bibliothek Berlin), Sabine Schaaf (Sprecherin des Neuen Forum Berlin), Bert Schlegel (Berlin), Michael Schmidt (Freundeskreis Oranienburg), Andreas Schreier (Berlin), Martin Schramm (Initiative Vereinigte Linke Berlin), Reinhard Schult (MdA, Mitglied der Gruppe Neues Forum/Bürgerbewegung im Abgeordnetenhaus Berlin), Ingo Semper (Freundeskreis Oranienburg), Marion Selig (MdA, Berlin), Detlev Stoye (Betriebsratsvorsitzender, Bürgerdeputierter der Wählergemeinschaft Bündnis Berlin‑Prenzlauer Berg), Angela Stibritz (Umwelt‑Bibliothek Berlin), Dirk Teschner (Umwelt‑Bibliothek Berlin), Hans-Jochen Vogel (Studentenpfarrer in Chemnitz), Erhard Weinholz (Initiative Vereinigte Linke Berlin), Sigruhn Werner (Bürgerkomitee 15 Januar), Dietmar Wolf (Umwelt‑Bibliothek Berlin), Klaus Wolfram (Redaktion „Sklaven“, Berlin), Jolly Zickler (Kirche von Unten)

Als Gesamtgruppe, die seit der Zeit von DDR-Opposition und Bürgerbewegungen existieren, unterschrieben AG Arbeit und Soziale Politik beim Neuen Forum Berlin, Hinterhof‑Produktion Jena, Initiative Vereinigte Linke Berlin, Kirche von Unten Berlin, Künstler für Andere e V, Jena, Redaktion „Sklaven“‚, Berlin, Umwelt‑ Bibliothek Berlin,

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