Neofaschistische Tendenzen und antifaschistische Selbstorganisierung in der DDR

1.Teil: Betrachtungen zur DDR-Neonaziszene, sowie zum Naziüberfall auf die Zionskirche und seine Auswirkung auf die Entwicklungen ab 1987

Als sich im November 1989 die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten öffnete, bereiste ich einige westdeutsche Städte und berichtete in einigen Veranstaltungen über Naziaktivitäten und antifaschistische Selbstorganisierung in der DDR. Die Zuhörer, vorrangig Menschen aus linksradikalen und autonomen Gruppen, trauten damals ihren Ohren nicht. Neonazis im angeblich ersten antifaschistischen Staat auf deutschen Boden! Nur schwer konnte man sich mit dieser Tatsache anfreunden.  Es war kaum zu glauben und paßte so gar nicht in ihr Bild von der DDR.

Heute, über sieben Jahre später ist das Wissen um diese Zeit jedoch nicht besser geworden -im Gegenteil. Vieles ist wieder in Vergessenheit geraten. Selbst Aktivisten von damals können sich nur vage an Einzelheiten erinnern. In der ostdeutschen Antifaszene weiß man heute mehr über die damalige Neonaziszene der BRD als über die, die sich in den Achtzigern in der DDR entwickelte. Über Antifastrukturen in der DDR ist hingegen fast nichts hängen geblieben. Das hat sicherlich auch damit zu tut, daß nur weniges davon aufgeschrieben wurde. Es waren höchstens die spärlich verbreiteten illegalen Zeitungen der Oppositionsbewegung, die von Fall zu Fall über die Existenz von Nazis berichteten.

In einer hiermit beginnenden Artikelreihe möchte ich versuchen, gestützt auf Zeitdokumente, das Wissen um diesen Aspekt der DDR-Vergangenheit etwas aufzufrischen bzw. zu vermitteln.

Die „Sicherheitsorgane“ wußten Bescheid

Bevor es um antifaschistische Selbstorganisierung geht, erweist es sich noch einmal als notwendig, die Gründe und Ursachen dieser Selbstorganisierung darzulegen, das heißt, es ist nötig, einige Ausführungen über die Skinheadszene der DDR zu machen. Dabei lasse ich in diesem Teil bewußt die Entstehungsgeschichte aus. Darüber wird im nächsten „telegraph“ ausführlich berichtet. Außerdem verweise ich auf das Buch „Drahtzieher im braunen Netz – der Wiederaufbau der NSDAP“, erschienen 1992 im Verlag Edition ID-Archiv.

Vielmehr scheint mir mehr von Interesse, wie es möglich war, daß rechte Skinheads und Neonazis, scheinbar aus dem Nichts kommend, alle Bereiche der DDR erschütterten und „urplötzlich“ zu einem kaum zu bewältigendes Problem für die Gesellschaft wurden.

Es stellt sich also die Frage: war man im Innenministerium und bei der Stasi in Bezug auf die rechten Tendenzen in der DDR derart ahnungslos, daß man nicht auf die Entwicklungen vorbereitet war? Dies kann man heute mit Bestimmtheit verneinen. Bereits zwischen 1978 und 1979 verzeichnete das MfS insgesamt 188 Fälle von „…schriftlicher staatsfeindlicher Hetze mit faschistischem Charakter…“. es war bekannt, daß am Wochenende in Fußballstadien Jugendliche Naziparolen brüllten und sich mit Anhängern rivalisierender Fanclubs prügelten. Das MfS wußte, daß derartige Vorfälle ab 1982/83 drastisch zunahmen. So verzeichnete man in der Saison 1986/87 960 derartige Vorfälle, in der darauffolgenden Saison bereits 1.099, bei denen es zu fast ebenso vielen Festnahmen kam. Doch wurden derartige Ereignisse als unpolitisches „Rowdytum“ abgewertet. Spätestens mit der Weisung VVS 68/86 vom 07.07.1986 zur Durchführung von „politisch-operativen Maßnahmen“ gegen die rechte Szene der DDR bemühte sich das Ministerium für Staatssicherheit, intensiv Informationen über die rechte Gruppierungen zu sammeln und „Gegenmaßnahmen zu entwickeln“. Bereits am 02.02.1988 lag dem MfS ein Untersuchungsbericht über die Skinheadszene vor. Aus dieser geht hervor, daß detaillierte Kenntnisse über die DDR-Naziszene existierten. Weiterhin war bekannt das intensive Kontakte von DDR-Nazis zu Nazigruppen in der BRD und Westberlin bestanden. So heißt es unter anderem: „…  von Skinheads aus der BRD bzw. aus Westberlin als auch von Skinheads bzw. skinheadähnlichen Jugendlichen aus der DDR gehen gezielte Aktivitäten zur Herstellung persönlicher Kontakte aus:

– Eine Gruppierung in der Hauptstadt der DDR unterhielt persönliche Kontakte zu Mitgliedern der `Nationalistischen Front´(…)

– Westberliner Skinheads nahmen an Treffen mit derartigen Jugendlichen aus dem Bezirk Potsdam teil.

– Derartige Jugendliche aus dem Bezirk Rostock unterhielten persönliche Kontakte zu ähnlichen jugendlichen in Hamburg/BRD und Schweden.

Diese Kontakte dienen insbesondere

– dem Informationsaustasch über tätliche Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit sowie Entwicklungen in der `Szene´

– der Beschaffung von Ausrüstungsgegenständen und Bekleidungsstücken für DDR-Skinheads

– der Einfuhr faschistischer Literatur, Symbole sowie spezieller Skin-Musik- Kassetten…“

Weiter geht aus der Studie hervor, daß vom MfS im Jahre 1987 131 Skinheds aus Westberlin registriert wurden, die in die DDR einreisten, um Kontakte zu hiesigen Skinheads zu Knüpfen und kontinuierliche Verbindungen herzustellen.

Es wird festgestellt, daß 1987 in der DDR „..ca 800 Personen (Untergliedert in ca. 38 Gruppierungen) im Alter von 16-25 Jahren (…) den Skinheads zuzuordnen sind…“. Im Oktober 1988 registrierte das MfS bereits 1067 Skinheads.

Um dahinterzukommen, mit wen sie es eigentlich zu tun haben, gab der Leiter der Kriminalpolizei im Ministerium des Innern, Generalleutnant Nedwig am 29. April 1988 bei der Sektion für Kriminalistik der Humbolt-Universität einen Forschungsauftrag zur Bestimmung des „politischen Wesens“ der Skinheads in Auftrag. Mit dem Leiter der Uni-Sektion, einem Offizier im besonderen Einsatz (OibE), war auch das MfS mit im Spiel. Was diese Studie, die im Februar 1989 fertiggestellt wurde, zu Tage förderte, wollte der Kripo so gar nicht gefallen.  So gehörten fast alle der erfaßten Jugendlichen der Arbeiterschaft an. Die Hälfte davon hatten bereits Facharbeiterstatus. Der soziale Status der Eltern hingegen war ein repräsentativer Querschnitt durch die Gesellschaft:

Sozialstatus der erfaßten Skinheads

Schüler 6%

Lehrlinge 24%

Teilfacharbeiter 4%

Facharbeiter 50%

Fachschüler 2%

ohne Beruf 14%

Sozialstatus der Eltern

Intelligenz 24 %

Facharbeiter 47 %

Handwerker 14 %

Ungelernte 15 %

Struktur nach dem Lebensalter

bis unter 18 Jahre 15 %

18 bis unter 19 Jahre 18 %

19 bis unter 20 Jahre 20 %

20 bis unter 22 Jahre 22 %

22 bis unter 26 Jahre 22 %

26 und älter 3 %

Die Auswertungen ergaben einen durchschnittlichen Frauenanteil von rund 20 %.

Themenschwerpunke  der rechtsradikalen Szene:

 

‑ Ausländer in der DDR

‑ Geschichte der Teilung Deutschlands infolge des 2. Weltkrieges

‑ Alleinvertretungsanspruch der BRD für das deutsche Volk

‑ Geschichte des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges

‑ Arbeitsdisziplin und Organisation im Alltag

‑ Schlamperei und Vergeudung in der Wirtschaft

‑ Reiseprobleme und Versorgung mit Konsumgütern

‑ Probleme mit der Währung der DDR

‑ Antikommunismus

‑ sozialpsychologische Aspekte der Massenmanipulation

Argumente für die rassistische Haltung der rechten Gruppen:

Ausländer nehmen den DDR‑Bürgern Wohnraum weg, reduzieren durch spekulative Käufe das Industriewarenangebot, schleppen AIDS in die DDR ein, behandeln jede Frau wie eine leicht käufliche Prostituierte, spielen mit ihrer konvertierbaren Währung den dicken Max; ohne dafür ein wirkliches Äquivalent erbracht zu haben, sind auf Krawall und Randale aus, ihnen wird in der Öffentlichkeit und in den Arbeitsstätten allerorts Zucker in den Hintern geblasen. An diese rassistische Argumentation schloß sich sofort die Kritik an der Haltung der DDR‑Regierung an, die dieses alles erst möglich gemacht hätte. Da man keinen Einfluß auf diese Politik ausüben könne, müsse man es eben am Objekt selbst versuchen. Am Ende der Studie hieß es: „…Wir haben es mit einer DDR‑spezifischen Modifikation eines allgemeinen Problems der Auseinandersetzung mit Sozialismus und Demokratie zu tun. Die Sozialstrukturanalyse beweist, daß die tragenden sozialen Kräfte vorerst aus der jungen Arbeiterklasse kommen und durch bisher nicht identifizierte Schichten‑Vertreter der Bevölkerung Unterstützung finden. Die militante rechtsextreme Szene in der DDR trat nie so offen aggressiv auf wie heute, auch gehörten Brandstiftungen und Morde nicht zum Alltag, aber die Wurzeln des Übergangs von einer rechten Jugendkultur zu einer organisierten rechtsextremen Bewegung lagen in der DDR in Mitte der achtziger Jahre…“

Was den Sicherheitsorganen weiter Kopfzerbrechen bereitet, war der Sachverhalt, daß sich diese Jugendliche der „…moralischen Werte der sozialistischen Gesellschaft als Zielgröße…“ bedienen. Eine wirkliche Ursachenanalyse gibt es in dieser Studie jedoch nicht. Hinzu kam, daß man in den Chefetagen kalte Füße bekam angesichts der Ergebnisse die es bei tiefergreifenderen Studien gegeben hätte. Die Führung der Kriminalpolizei blockte die Studie ab. Der Leiter der Kriminalistiksektion wurde als Gesprächspartner abgelöst. Ihm wurde vorgeworfen, daß er „…Im Hinblick auf Ausländerfeindlichkeit und rechtsextremistische Tendenzen der Skinheads, (überzogen)…“ hätte. Ersetzt wurde er durch einen Oberst Schmidt, dessen Zuständigkeit „Häufigkeits- und Jugendkriminalität war. Dieser hielt von dem gesamten Projekt offenbar nicht viel. Im Zusammenhang mit geplanten Interviews mit inhaftierten Rechtsextremen erklärte er in der nächsten Sitzung zwischen Auftraggeber- und nehmer, daß Interviews mit Inhaftierten „…nicht erforderlich…“ seien, „… da das Verurteilen ja bereits kriminalistisch vernommen worden sind…“. Darüber hinaus seien Untersuchungen seiner Ansicht nach überflüssig, da „…bei Skinheads bisher keine politischen Motive nachweisbar gewesen“ sind. Das Forschungsprojekt war damit gestorben. Ein letzter Versuch des Sektionsleiters, weitere Forschungen bei seinem Dienstherrn, dem MfS, anzusiedeln scheiterte. Auch der Stasi würde die Sache offenkundig zu heikel.

Das MfS setzte seit Längerem mehr auf die Infiltration der Skinheadszene. Man erhoffte sich dadurch genügend Handhabe für eine verstärkte repressive Eindämmung der Syntome zu erhalten. Das geht aus einer Weisung des Milke- „Stellvertreter Operativ“ Generaloberst Mittig hervor, die zusammen mit dem bereits erwähnten Untersuchungsbericht vom 2.2.1988, an die Bezirksverwaltung für Sicherheit geleitet wurde „… Zur weiteren Durchsetzung der Weisung (…) vom 7.7.1986 (VVS 68/86) (…) ist die inoffizielle Arbeit unter derartigen Jugendlichen wesentlich zu verstärken. (…) Durch die IM sind rechtzeitig alle Zusammenschlüsse derartiger Jugendlicher, ihre Pläne und Absichten zu öffentlichen, gefährliche Zusammenrottungen und Handlungen (…) derartiger Jugendlicher aufzuklären und jeweils aktive Gegenmaßnahmen (…) einzuleiten“ Des weiteren wurde seitens der Stasiführung angewiesen, alle „erforderlichen (…)Maßnahmen“ durchzuführen, „… und dabei sichtbare Ergebnisse der Umerziehung derartiger Jugendlicher Personen zu erreichen. Insbesondere mit der Deutschen Volkspolizei ist unter Beachtung der Schlußfolgerungen und entsprechend der vom Minister des Innerern und Chefs der deutschen Volkspolizei erlassenen Befehle und Weisungen zur Bekämpfung derartiger krimineller und rowdyhafter Zusammenschlüsse und Erscheinungen unter Jugendlichen, das kameradschaftliche Zusammenwirken qualifiziert und lückenlos zu organisieren…“ So waren im Frühjahr 1988 allein In Berlin 33 Inoffizielle Mitarbeiter des MfS in der Skinhead-Szene aktiv. Insgesamt waren etwa 10-15% der vom MfS erfassen Rechtsradikalen gleichzeitig Inoffizielle Mittarbeiter. Dabei ging man nach üblichem Muster vor. Die IM wurden nicht eingeschleust, sondern es wurden Personen in der Szene durch Methoden der Erpressung und Versprechungen angeworben. Hinzu kam das übliche Verfahren der Postkontrolle, Telefonüberwachung usw.

Betrachtet man jedoch die Entwicklungstendenzen der DDR-Naziszene, wird offensichtlich, daß es der SED-Führung und speziell dem MfS und der Polizei nicht möglich war, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Man befand sich bei diesen Gruppierungen in einer besonderen Zwickmühle. Zum einen waren die Machthaber in der DDR peinlich darauf bedacht, daß ihr antifaschistisches Image nicht angekratzt wurde. War es doch einer der wichtigsten Eckpfeiler für die Legitimation der DDR als eigenständiger Staat und für den alleinigen Machtanspruch der SED-Führung. Dies aber könnte ins Wanken geraten, würde es seitens der Regierung zu dem Eingeständnis kommen, daß es in der DDR neofaschistische Tendenzen gibt. Eine konsequente Untersuchung und Bekämpfung der Ursachen und Wurzeln hätte zwangsläufig eine Infragestellung und Aufgabe der eigenen Doktrin zur Folge, die letztendlich Machtverschiebungen auslösen würde. Dies wäre jedoch undenkbar gewesen und mußte unter allen Umständen verhindert werden. Also begnügte man sich damit, die Erscheinungen so gut wie möglich zu deckeln und die Symptome mit härtester, aber letztendlich hilfloser Repression zu bekämpfen.

Andere Versuche zur Problemlösung waren die Einberufung zur Nationalen Volksarmee oder die schnelle Genehmigung von Übersiedlungsanträgen in die BRD. Gerade letzteres erwies sich jedoch in fataler Weise als Bumerang. Dies belegt eine streng geheime Information der Hauptabteilung XX, des MfS vom 10.04.1989: „Einen Schwerpunkt gegnerischer Kontaktpolitk und Tätigkeit, insbesondere hinsichtlich der existierenden Verbindungen zwischen Skinheads in der DDR und denen im Operatonsgebiet, hauptsächlich in West-Berlin, üben übergesiedelte ehemalige DDR-Skinheads aus. (…) Diese aktiven Rückverbindungen sind zunehmend und operativ bedeutsam.“

Ging das repressive Konzept in den ersten Jahren noch halbwegs auf, führte der Überfall auf die Zionskirche zu einer neuen Qualität der Eskalation, der die Sicherheitsorgane nun nicht mehr Herr wurden. Die Folge war eine immer härter werdende Schraube rechter Gewaltexesse und -als direkte Reaktion- zu immer massiverer Repression durch die Staatsmacht. Daß die repressive Politik des Sicherheitsapparates spätestens ab 1988 gescheitert ist, kann man daran ablesen, daß die Zahl der Rechtsradikalen bis zum Herbst 1989 stetig zunahm. „Die Anzahl der Skinheads hat in Berlin trotz verstärkter gesellschaftlicher Einflüsse nicht abgenommen. Ausscheidende, einberufene, inhaftierte und übergesiedelte Skinheads werden durch nachwachsende Jugendliche zahlenmäßig ersetzt…“. 

Ein weiterer erschwerender Aspekt für das MfS war, daß die Deutsche Volkspolizei nicht das zu wünschende Engagement bei der Bekämpfung rechter Gewalt an den Tag legte. Anhand einer internen Information des MfS vom 24.08.1988 über einen Vorfall auf dem Berliner Alexanderplatz, vom 22.08.1988 ist dies gut ersichtlich. Nachdem es mehrere Tage hintereinander an der HO-Gaststätte Alextreff zu Tätlichkeiten von Skinheads gekommen war, weil diesen der Verkauf von Alkohol verweigert wurde, kam es an diesem Tag gegen 22.40 Uhr zu einem schweren Handgemenge mit Uniformierten Armeeangehörigen. Als das VP-Revier 13 informiert und um Hilfe gebeten wurde, lehnte die Polizei dies ab. Die Weigerung wurde mit der Aussage: „…Ihr wollt uns wohl verarschen! Wir sind doch nicht Eure Prügelknaben…“ begründet. Als nach dem Überfall auf die Zionskirche spezielle Arbeitsgruppen gebildet wurden, wird in diesen schnell festgestellt und gerügt, daß die Deutsche Volkspolizei den Rechtsradikalismus nicht genügend ernst nimmt, daß die Kader ständig ausgewechselt werden, die jedes Mal neu eingearbeitet werden müssen und daß bei der VP der notwendige Druck fehle, den das MfS zu mindestens in bestimmten Bereichen als notwendig erkannt hatte.

Allein der Umstand, daß sich die rechte Szene unter dem Druck der staatlichen Repression ab Mitte/Ende 1988 zu einem großen Teil aus der Öffentlichkeit zurückzog und sich in kleinen Gruppen intern weiterorganisierte, reichte dem MfS als Bestätigung ihrer Praxis aus. Doch letztendlich mußte sich auch das MfS das Scheitern seiner Praxis eingestehen. Ein Leitender Offizier, verantwortlich für die Ermittlungsverfahren gegen die rechte Szene schrieb im Frühjahr 1989: „Es kann nicht alleinige Aufgabe der Untersuchungsorgane sein, sich mit der Bekämpfung dieser Erscheinungen auseinanderzusetzen. Das kann nur eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, in die alle Erziehungsträger gefordert werden müssen.“

Der Naziüberfall auf die Zionskirche

Die Ereignisse vom 17. Oktober 1987 waren wie bereits gesagt, der erste Schritt zu einer neuen Qualität der Konfrontation. An diesem Tag gelangte die Zionskirche in Berlin Prenzlauer Berg erstmals zu unerwarteter Berühmtheit.

Als gegen Ende eines Rockkonzerts in der Kirche eine große Gruppe Skinheads auftauchten, Naziparolen grölend auf Konzertbesucher einschlugen und im Umkreis der Kirche unbescholtene Passanten und Einwohner angriffen, war es plötzlich und unverhofft geschehen. Was staatlicherseits über Jahre hinweg durch Justiz und Polizei, durch Versuchung, Abwiegelei und durch harte Repression unter dem Deckel gehalten wurde war plötzlich nicht mehr zu halten gewesen. Anteil daran hatte auch die hartnäckige Öffentlichkeitsarbeit der Umwelt-Bibliothek, die eine Vertuschung durch die DDR-Oberen von vornherein verhinderte. Nun waren sie in aller Munde. Skinheads, Neonazis, Faschos. Doch erst einmal versuchte man sich auf Seiten der SED in Schadensbegrenzung. Nach einigen Tagen des Schweigens war dann auch in der DDR-Presse in kleinen Meldungen von einem Übergriff von Rowdys zu lesen.

Die Ostberliner Untergrundzeitschrift „Umweltblätter“ berichteten in ihrer Ausgabe vom 1.September 1987 ausführlich über den Überfall.  Darüber hinaus werden erstmal unabhängige Versuche zur antifaschistischen Selbstorganisierung in der DDR erwähnt „..Als die Umwelt‑Bibliothek im Sommer des Jahres in der im Bau befindlichen Zionskirche mit der Veranstaltung von Konzerten begann, konnte keiner die Folgen ahnen. Der Anspruch, nebenbei des Friedens‑ und Umweltproblematik breiten Schichten zu vermit­teln, erwies sich als verfehlt, Stattdessen fühlten sich die Veranstalter in die Rolle gedrängt, das stete Defizit einer Jugend­szene an Lebensgefühl und Rausch zu befriedigen. Erschreckend brach in die heile Aufklärungswelt der Öko-Paxer die irrationale Realität des Landes herein, zuletzt beim Überfall der neonazistischen Jugendsekte der Skins während des Konzerts am 17.Oktober (1987; der telegraph). Die Situation war grotesk. Die 3OO bis 400 am Ende des Konzerts noch gebliebenen Zuschauer 1ießen sich von 3O Glatzköpfen terrorisieren. Erst als eine kleine Anzahl von Entschlossenen massiv gegen die Skins vorging, verließen diese fluchtartig die Kirche. Um sich ihre Niederlage zu entschädigen „mischten“ die Skins auf dem Rückweg den Schwulenstrich an der Schönhauser Allee „auf“. (Die sind jedenfalls schön feige und wehren sich nicht ‑ warum eigentlich nicht?). Tatenlos stand auch die Besatzung von mehreren Polizeiwagen um die Zionskirche herum. Angeblich hatten sie keine Anweisungen, andere wollten „in so einen Haufen nicht reingehen.“ (…)

Der Widerstand gegen die Glatz­köpfe ist vorerst vereinzelt und diskontinuierlich. Von der Poli­zei wurde die Bewegung seit An­fang an bagatellisiert. (…) Verurteilungen der Skins vor Gericht erfolgen in der Regel individuell, nicht wegen faschistischer Propaganda, sondern wegen Körperverletzung oder Rowdytum, sodaß die Skins nach einem halben Jahr wieder in Freiheit sind. (…)

Die schon immer vorhandenen Bemühungen um eine Anti-Nazi-Liga sind seit dem Konzert ln der Zionskirche in eine neue Phase­ getreten, ohne daß völlige Einigkeit über die einzuschlagende Taktik herrscht. Eine Info-Gruppe will die neonazistischen Umtriebe durch Veranstaltungen und Eingaben öffentlich machen und die Behörden zum Eingreifen zwingen. Außerdem soll theoretische Arbeit geleistet werden. Eine Veranstaltungsgruppe „Künstler gegen rechts“ soll offenbar die notwendige Solidarität herstellen. Andere setzen mehr auf Gleichziehen mit den Skins in den Kampftechniken und wollen eine entsprechende Selbstausbildung machen.

All dies wirkt ein wenig hilflos angesichts einer rapiden Zunahme des manifesten Neofaschismus und der ohnehin bei der Mehrheit der Bevölkerung vorhandenen latenten Bereitschaft zu faschistoidem Denken (Ausländerhaß, Haß gegen Fremdgruppen überhaupt, Sündenbockmagie statt Analyse). Ähnlich wie in den zwanziger Jahren flüchtet ein Volk aus einer historischen Sackgasse in den Irrationalismus. Angesichts gleichartiger Entwicklungen im Westen ist die Gefahr groß, daß in absehbarer Zeit in Europa wieder einmal die Lichter ausgehen, diesmal wohl endgültig.

Vielleicht sind solche Befürchtungen ja überzogen. Fakten und Zahlen hin und her ‑ es bleibt der schale Beigeschmack der Provinzposse, der schlechten Immigration, des schlechten Theaters. Gewiß, es ist blutig ernst, aber zugleich in höchstem Grade lächerlich. Aber vielleicht ist gerade das das Gefährliche an diesem Neofaschismus.  -r.1.- “

Aus dem erwähnten Versuch eine Anti-Nazi-Liga zu gründen wird jedoch nichts. Erst 1989 entstehen in Berlin die erste Antifagruppe. Die Gruppe um die Anti-Nazi-Liga kommt nie aus dem Gründungsstatus heraus. Zu verschieden sind die Vorstellungen, zu diffus sind die Zielsetzung. Von Westberliner Antifas erfahre ich, daß sie sich damals erstmals mit einigen von diesen Leuten im Osten getroffen hatten. Die „Ostler“ glaubten, die Westberliner Antifa wäre eine Art marodierende Stadtgerillia, die unter den Westnazis Angst und Schrecken verbreitet würde. Als sie erkannten, daß die Westler nur normale Leute sind die auch nur mit Wasser kochen und mit den für sie reichlich naiven Wünschen der Ostler nichts anfangen konnten, machte sich sichtlich Enttäuschung breit. Man ging auseinander und sah sich nie wieder.

Ein Schauprozeß soll´s richten

Nachdem sich die Gemüter nicht zu beruhigen schienen, es also der Parteipresse nicht gelang das Thema Naziskins wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen und selbst das SED-treue  „Komitee der Antifaschisten“ zaghaft staatliche Schritte forderte, ging man in die Offensive. Kurzerhand wurde eine Handvoll, am Überfall beteiligte Nazi-Skins eingefangen und man machte ihnen den Schauprozeß. Eine Augenzeugin schrieb darüber in den Umweltblättern Ausgabe vom 15. Dezember 1987. „…Vier Tage lang hatte ich die Möglichkeit, den Prozeß gegen 4 Skin-Heads zu beobachten. der Prozeß war eigentlich öffentlich. Entgegen der Praxis in „politischen Prozessen“ die Öffentlichkeit auszuschließen, kam es bei diesem Prozeß gegen „4 Rowdies“ nicht zu einem ausschließenden Beschluß der Kammer des Stadtbezirksgerichts Mitte. Kollektivvertreter, Eltern, Geschwister, eine Verlobte, die DDR-Presse, Vertreter der evangelischen Kirche als auch der jüdischen Gemeinde der Hauptstadt blieben im Gerichtssaal Nr. 385 in der Littenstr. Weitere Besucher hatten kaum die Chance, der Verhandlung beizuwohnen. Es gab halt nur wenige Stühle und die waren immer besetzt. Einigen Zeugen bot Richter Engelmann nach Befragung das Verbleiben im Saal an. Für Zeugen, die der Skin-Szene zuzurechnen sind, galt: Verlassen Sie bitte den Verhandlungsraum, alle Plätze sind besetzt.

Vor und im Gerichtsgebäude kontrollierten Mitarbeiter der Staatssicherheit die Besucher des Prozesses. Fragt sich nur, wozu diese Präsenz der Staatssicherheit beim Prozeß? (…)

An drei Verhandlungstagen erschienen 22 Zeugen. Richter Engelmann, die aktivste Person der gesamten Veranstaltung, fragte, wies zurück, faßte nach. Insgesamt eine erstaunliche Leistung zur Aufklärung des Rowdytums. Die ihm zur Linken bzw. Rechten sitzenden Schöffen, zwei Frauen, wirkten eher wie Statisten und ergriffen nur 2-3 mal das Wort. Vielleicht kam ihnen auch mehr die Supervisorfunktion zu.

Staatsanwalt Hecht, deutlich in Fragen und Beiträgen hinter dem Richter zurückstehend, verfolgte demgegenüber ein reduziertes Programm. Seine Fragen zielten insbesondere auf die Beteiligung Westberliner Skinheads beim Überfall auf die Zionskirche. Jeder Zeuge und Beschuldigte hatte die Frage nach Anzahl, besondere Merkmale und Namen zu beantworten. Ihm selbst war lediglich ein Westberliner „Rädelsführer“ namens „Bomber“ alias bürgerlich Bäcker bekannt. Richter Engelmann steuerte erst bei der Urteilsbegründung einen zweiten Namen, „Thomas“, bei.

Besondere Aufmerksamkeit galt den Nazi-Rufen der Angeklagten. Sowohl Zeugen als auch die beschuldigten Rowdys wurden dazu systematisch abgefragt.

Nichts blieb davon in der Zeugenvernehmung ausgeblendet. Der Nachweis hingegen fiel Richter und Staatsanwalt außerordentlich schwer. Die Beschuldigten wiesen die Zeugenaussagen, demnach sie das Horst-Wessel-Lied gesungen haben, die Hand zum Hitlergruß erhoben, „Juden raus aus deutschen Kirchen“, „Kommunistenschweine“ u.v.m. brüllten, glattweg zurück. Der Angeklagte Sven Ewert (20) sagte: „Hätte ich gewußt, daß solche Losungen gerufen werden sollten, wäre ich nicht zur Zionskirche gefahren.“ Warum er sich nicht von den Nazis zurückzog, sagte er jedoch nicht.

Lediglich der 17-jährige Frank Brand gestand einen „Heil Hitler“-Ruf und empörte sich über das Strafmaß von 18 Monaten. Der Hauptangeklagte Ronny Busse, mit 195 cm alle überragend und mit seinen affenartig langen Armen Prügelkommandos auf Punks und anderen Konzertbesucher hetzend, hatte selbst nur Rufe wie „Nazis raus“ gehört. Aus dieser Beweisnot behalf sich Richter Engelmann mit dem Grundsatz: „Die objektive Schwere der Gesamttat muß jedem Einzelnen angelastet werden.“

Staatsanwalt Hecht beantragte schließlich Haftstrafen wegen „Rowdytums“ und in drei Fällen, wegen „Öffentlicher Herabwürdigung“ von einmal 2 Jahren, zweimal 18 Monaten und einmal 14 Monaten. In der Urteilsbegründung durch Richter Engelmann wurde insbesondere die Beteiligung Westberliner Skins herausgestellt. Sogar deren Rädelsführer „Bomber“ alias Becker ist bekannt. Er charakterisierte die Straftaten als schwere Vergehen gegen die Würde des Menschen, geeignet Panik und Unruhe in der Bevölkerung hervorzurufen. Der Angriff, so Richter Engelmann, war geplant und organisiert durchgeführt. Als besonders straferschwerend kommen die faschistischen, nazistischen und rassistischen Herabwürdigungen hinzu. In seinem Urteil trug er dieser Einschätzung jedoch kaum Rechnung. In zwei Fällen blieb er unter dem Antrag des Staatsanwalts. Sein Urteil belief sich auf 2 Jahre, 18 Monate, 15 und 12 Monate für die „Rowdys“.

Von den unterschiedlichsten Prozeßteilnehmern und ‑Interessierten, bis hin zu Antifaschistischen Widerstandskämpfern wird das Urteil als der Schwere die Verbrechen nicht gerecht werdend eingeschätzt. Eine Einordnung der Straftaten unter Rowdytum“ ist sicherlich von vornherein verfehlt. Handelt es sich hier nicht vielmehr um ein Verbrechen gegen Menschlichkeit und Menschenrechte, wenn Personen brutal angegriffen werden, weil unter Ihnen Juden, Kommunisten oder Punks vermutet werden? Eindeutig ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ‑ wenn Menschen nur wegen nationaler, weltanschaulicher oder kultureller Besonderheiten, so einer der Angeklagten, „umgehauen“ werden, zudem geplant und organisiert. Sollte in diesem Fall nicht wirklich einmal der berüchtigte § 218 zutreffen?            ‑ c.j. ‑ „

Das Urteil rief allerorts Proteste hervor. Unter der Überschrift „geringe Freiheitsstrafen für Rowdys“ berichtete die DDR-Presse über das unerwartet milde Urteil. Die Staatsanwaltschaft legte sofort Protest gegen das Urteil ein. In einer ADN-Meldung vom 07. Dezember 1987 heißt es dazu:

„Die Staatsanwaltschaft hat gegen das Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin‑ Mitte, durch das vier Rowdys wegen ihrer aktiven Beteiligung an schweren Ausschreitungen am 17. Oktober 1987 vor und in der Zionskirche in Berlin zu Freiheitsstrafen zwischen 1 und 2 Jahren verurteilt worden waren, Protest eingelegt. Im Protest wird hervorgehoben. daß die ausgesprochenen Freiheitsstrafen in keiner Weise der Schwere der begangenen Straftaten entsprechen, insbesondere wegen des brutalen und organisierten Vorgehens, des Brüllens von faschistisch‑terroristischen Parolen sowie der schweren Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Wer in dieser Art die Rechtssicherheit beeinträchtigt, muß mit aller Konsequenz zur Verantwortung gezogen werden. Das Stadtgericht Berlin wird über den Protest entscheiden…“.

 Durch den unerwarteten Druck der Öffentlichkeit ist man gezwungen, den Prozeß neu aufzurollen. Die Umweltblätter berichteten in ihrer Ausgabe vom 20.01.1988 über die Berufungsverhandlung:

„…Kurz vor Weihnachten eröffnete der 1.Strafsenat des Stadtgerichts Berlin die Verhandlung in der 2. Instanz gegen die vier „Skin‑Rowdies“. Maßgebend dürfte der Hinweis auf Artikel 6 unserer Verfassung gewesen sein, demnach „militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen‑ und Völkerhaß als Verbrechen geahndet“ wird. Also mit Strafen ab 2 Jahren aufwärts.

Vielleicht kannte die erste Instanz die Verfassung nicht so genau, aber dies dürfte in Bezug auf unseren „Gesellschaftsvertrag“ kein Einzelfall sein.

Der 2.Instanz war ein Protest der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Stadtbezirksgerichts Mitte vorausgegangen, demzufolge die zu „milden Strafen“ aufgehoben wurden. Die Rechtsanwälte Puvalla und Kossek verwiesen auf eine Besonderheit: Der Protest der Staatsanwaltschaft richtete sich zugleich gegen Strafanträge der Staatsanwaltschaft. Staatsanwalt Boese konnte jedoch „zahlreiche Proteste aus der Bevölkerung“ anführen und erklärte, daß es in der DDR keinerlei Nachsicht für diese Straftaten gibt. Die „Ausschreitungen“ vor und an der Zionskirche wären zwar aus dem Westen beeinflußt, aber dies ist hier kein strafmildernder Grund“. Im Urteil der 2.Instanz sind im Wesentlichen keine neuen Tatbestände herangezogen worden. Richter Ziegler bewertete die bereits in erster Instanz aufgenommenen Tatbestände jedoch in zwei Fällen als Verbrechen. Das Stadtbezirkegericht Mitte hatte, so Richter Ziegler „die Schwere der Ausschreitungen nicht richtig gewertet“. Ansonsten bestätigte er jedoch, daß die Ausschließung der Angeklagten bei Zeugenaussagen korrekt war. damit ist keine Einschränkung des Rechts auf Verteidigung gegeben. Unzulässig war jedoch die Verlesung einer Zeugenaussage in Abwesenheit des Zeugen.

Die besondere Schwere der Überfälle charakterisierte der Richter als „völlig neue Form der Kriminalität in der Hauptstadt“.

Dem entsprechen die Urteile: 4 Jahre für Rädelsführer Busse, 2 Jahre 6 Monate für den 17‑jährigen Brand, Ewert unter Berücksichti­gung seiner „aktiven Rolle bei der Wahrheitsfindung“ 1 Jahr 8 Monate, Brezinski schließlich 1 Jahr 6 Monate.

Die Berufungsanträge von drei Verurteilten sind abgelehnt worden. Das Urteil ist bereits rechtskräftig. Ein weiteres Rechtsmittel ist nicht gegeben. ‑ c.j. – „

Die Hexenjagd beginnt

Unter dem Eindruck der Ereignisse um den Überfall auf die Zionskirche, dem Prozeß und dem großen öffentlichen Interesse im In- und Ausland, befürchtete die SED-Führung ein extremer Imageverlust. Um dem entgegenzuwirken, wurden die Sicherheitsorgane angewiesen ihre repressiven Maßnahmen gegen die Skinheadszene um ein Vielfaches zu intensivieren. Mit Beginn des Jahres 1988 setzte eine regelrechte Hetzjagd ein. Zusätzlich wurde alles unternommen, Skinheads aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Sämtliche öffentlichen Einrichtungen wie Jugendclubs, Diskotheken, Kneipen und Kinos erhielten intern die Anweisung, Skinheads und nach Skinhead aussehenden Personen den Zutritt zu ihren Einrichtungen zu verweigern, sie nicht zu bedienen und im Weigerungsfall die Polizei zu verständigen.  Gleichzeitig ging man dazu über, öffentlichkeitswirksam Flagge zu zeigen. Unmittelbar nach dem Ende des Zionskirchenprozeß kündigte die Generalstaatsanwaltschaft weitere acht Prozesse gegen „Skin‑Rowdies“ an.  Gleichzeitig stellte der Generalstaatsanwalt der DDR an den Generalstaatsanwalt von Westberlin ein Ersuchen auf Strafverfolgung gegen „….Einwohner von Berlin (West)…“ die am Überfall auf die Kirche beteiligt waren. Der Westberliner Justizsprecher Kehne teilte daraufhin mit, „…daß die Westberliner Staatsanwaltschaft voraussichtlich gegen Westberliner Skins, die bei dem Überfall auf das Konzert in der Zionskirche beteiligt waren, ein Ermittlungsverfahren einleitet…“ Es soll wegen Körperverletzung, Nötigung und Volksverhetzung gegen Unbekannt ermittelt werden, da in einem Schreiben der Zionsgemeinde an den regierenden Bürgermeister Diepgen nur ein Familienname und ein möglicherweise mit diesem nicht zusammenhängenden Vornamen und ein Spitzname genannt wurde. Laut Kehne wäre die Zuständigkeit der Westberliner Staatsanwaltschaft für die Vorfälle im Stadtbezirk Mitte gegeben, da die Straftaten an Deutschen verübt wurden.  Möglicherweise werde ein Rechtehilfeersuchen an die Generalstaatsanwaltschaft in Ostberlin gestellt. Das Ermittlungsverfahren wurde am 5. Januar 1988 aufgenommen. Allerdings verlief dies im Sande. Erst nach der „Deutschen Einheit“ wurde das Verfahren auf Antrag des Pfarrers der Zionsgemeinde erneut aufgenommen und es kam zum Prozeß.

Währenddessen erhielt die hauptstädtische Polizei die Anweisung, skinverdächtige Personen verstärkt zu überprüfen und gegebenenfalls festzunehmen. Das Ergebnis war, daß Kurzhaarige und Glatzköpfige aller Couleur auf den Straßen Berlins nicht mehr sicher waren. Die Umweltblätter vom 20.01.1988 berichteten über aberwitzige Beispiele polizeilichen Übereifers: „…Axel, der kurze blonde, vielleicht ein wenig zu dünne Haare trägt, wurde am 18.Dezember aus einem fahrenden Bus geholt, der zu diesem Zwecke angehalten wurde. Gleich beim Aussteigen bekam er von den Polizisten „eine eingeschenkt“. Während einer vierstündigen Zuführung wurde dann seine Gesinnung überprüft. Pech nur für die behandelnden Polizisten, daß der Vater höherer Kulturfunktionär ist und eine empörte Eingabe machte. So mußte ein hoher Polizeioffizier auf Anweisung des Berliner Polizeipräsidenten sich bei Axel entschuldigen. Er wies dabei auf die kranke Frau und die Kinder des fehlgeleiteten Polizisten mit zu Herzen gehenden Worten hin und gelobte, daß für die Zukunft präzisere Anweisungen dafür sorgen werden, daß dergleichen nicht mehr passiert. Aber schon am 21.Dezember kam Till, 17 und mit einem unvernünftig kurzen Stoppelhaarschnitt (wenn auch im Trenchcoat) an die Reihe. Er wurde mit einem VP‑Streifenwagen direkt in den Innenhof des Polizeipräsidiums in der Berliner Keibelstraße transportiert. wo Till aus den Fenstern mit einem vielstimmigen zustimmenden „Oi, Oi, Oi!“ empfangen wurde. Nach mehrstündigem Warten wurde Till vernommen und sollte, nachdem seine Nichtzugehörigkeit zur Kategorie „Skin“ festgestellt wurde, eine Belehrung über die Befolgung der § 95 und folgende unterschreiben. Till unterschrieb nicht ‑ gegen ihn lief ohnehin wegen angeblichen Druckens in der Umwelt-Bibliothek ein Verfahren nach § 218. Statt nun nach Hause gefahren zu werden, wie angekündigt wurde, begann für Till nun wieder eine Zeit des Wartens. Als er sich dann beschweren wollte, wurde er vom bewachenden Polizisten ins Gesicht geschlagen. Der Vorgesetzte, bei dem er sich darüber beschwerte, kündigte Till an, daß er ihm “auch gleich eins in die Fresse schlägt“. Dann beschimpfte ihn der Bewacher als „Nazi‑ Drecksau!“. Der später erscheinende Vernehmer ging auf Tills Beschwerde gar nicht ein.

Till der sich als eines der Opfer des Nazi‑Uberfalls auf die Zionskirche beleidigt und ungerecht behandelt fühlt, hat vor drei Wochen eine Beschwerde an das Innenministerium und das Polizeipräsidium gerichtet. Bisher ohne Ergebnis…“

Hans-Dieter Schütt sieht einiges anders

Ein Monat nach dem Überfall der Skinheads auf die Zionskirche erfährt die Kirchengemeinde einen weiteren ganz anders gearteten Überfall. Am 18. November 1987   startet das MfS die Aktion Falle gegen die in der Zionsgemeinde ansässige Umwelt-Bibliothek. Räume werden durchsucht, unzähliges Material beschlagnahmt, Mitarbeiter der Umwelt-Bibliothek werden festgenommen. Die politische Opposition reagiert prompt. In der Zionskirche wird eine Mahnwache installiert. Man fordert die Freilassung der Inhaftierten, die Zurückgabe der beschlagnahmten Sachen und die Einführung demokratischer Grundrechte.

Da erscheint in der Jungen Welt unter der Rubrik „So sehe ich das“ ein Kommentar des Chefredakteurs Hans-Dieter Schütt. In einer Meisterleistung propagandistischer Verdrehung gelingt es ihm, rechtsradikale Skinheads und oppositionelle Mahnwächter in einen Topf zu werfen, gut durchzurühren und das Ganze als ein und das Gleiche hinzustellen. Die Oppositionellen sind empört. In einem Kommentar gehen die Umweltblätter in ihrer Ausgabe vom 15. Dezember 1987 auf diese Hetzaktion ein:

„…Hexen‑Einmaleins in der „Jungen Welt“

“Der Feind“, so dieser Tage der Chefredakteur der“Jungen Welt“ Hans Dieter Schütt, „hat bei uns keine Chance“. Und mit Pathos: „Bei uns stimmen Recht und Gerechtigkeit prinzipiell überein.“ Es ging dem hochdotierten Schreiber um die Verschärfung des Gerichtsurteils gegen die Nazi‑Skins, die vor Wochen ein Rockkonzert in der Berliner Zionskirche überfallen hatten. En Passant wurden aber auch andere vom Feind gesteuerte Kreaturen benannt: „Literaten, .die des Talent haben, ein Talent zu verkaufen, das sie gar nicht haben“ und Mahnwächter“, die „stets pünktlich wie auf Bestellung mit Fernsehkamera vor Kirchentore ziehen.“ Das alles unter der Überschrift: „Warum freue ich mich über den Protest gegen ein Gerichtsurteil?“ und: „So sehe ich das.“

Irgendwo las ich neulich, was jemand im vorigen Jahrhundert mit feinem Humor einem solchen regierungsoffiziellen Schreiberling erwiderte: „Es freut mich, daß es ihnen erlaubt wurde, eine Meinung zu äußern!“

Herrn Schütt also wurde es erlaubt, eine Meinung zu äußern. Oder wurde er sogar beauftragt, und von wem? Dient die Meinungsäußerung dazu, die „Junge Welt“ noch stärker zur Speerspitze der kalkrieseln­den konservativen Freunde zu machen? Oder wurde hier sogar Regierungsmeinung ausgedrückt und exklusiv in einem auflagenstarken Organ veröffentlicht, das bevorzugt der Aigitationsarbeit unter jungen Leuten dienen soll? Das müßte geklärt werden.

Ist es gleicherweise Zufall, daß Lehrer in der ganzen DDR die Kinder belügen, im Keller der Zionskirche sei faschistische Literatur gedruckt worden, daß unter Erwachsenen systematisch Gerüchte verbreitet werden, die Mahnwache habe nicht für die verhaften Drucker, sondern für die Nazi‑Skins stattgefunden? Wem dienen diese Lügen und falschen Gerüchte? Und ist es wirklich Zufall, daß die “Junge Welt“ jetzt schwarz auf weiß wiederholt, was vorher verbreitet wurde?

Mit Pressefreiheit jedenfalls hat diese Art von platter Haßpredigt ebensowenig zu tun wie mit sachlicher Information, differenziertem Denken und Abbau der Feindbilder. Die Gegenaufklärung hat mal wieder Flagge gezeigt.

Ich denke, daß wir uns nicht darüber freuen können, daß das Urteil gegen die Nazi‑Skins verschärft wird, wer dort vor Gericht stand, das waren nicht die Hauptfiguren. Ungeklärt blieb, ob tatsächlich eine Frau (… ?) verlor oder sogar das Gerücht über einen Toten zutrifft. Möglicherweise soll das verschwiegen und hinter den Kulissen in dem noch ausstehenden Prozeß gegen weitere Nazis‑Skins geklärt werden. Aber eben um eine öffentliche Klärung hätte es gehen müssen.

Eine ganz andere Frage aber ist es, ob die DDR‑Haftanstalten in irgendeinem Sinne Resozialisierungshilfe geben können. Alle Erfahrungen besagen das Gegenteil. Bliebe höchstens noch das ganz blutige und primitive Rachebedürfnis einer Gesellschaft oder das Anliegen, das Problem durch „Wegschließen“ für ein paar Jahre zu vertagen, um es dann und noch profilierter auf den Tisch des Hauses zu bekommen. Eine Lösung jedenfalls ist das auf keinen Fall. Schärfer ausgedrückt: Für die Bewältigung von Kriminalität gibt es in unserem Land bis jetzt kein einziges greifendes Konzept.

Aber für Hans‑Dieter Schütt‑ sind das natürlich gar keine Fragen. Auch die erhebliche Ausbreitung von Neonazismus bei jungen Leuten in der DDR kann ihn nicht zum Grübeln bringen: Der Ungeist kommt aus dem Westen ,  ganz klar. Und vom gleichen Ungeist sind auch oppositionelle Literaten und Mahnwächter erfüllt. Und so ist denn alles geklärt und wir können zum Schluß kommen: Etwa mit der Beschwörungsformel der Hexe in Goethes Faust:

Hexe: Du mußt verstehn!

Aus eins mach´ zehn,  

Und zwei laß gehn,

Und drei mach´ gleich,

So bist du reich

Verlier die vier!

Aus fünf und sechs,

So sagt die Hex´,

Mach sieben und acht,

so ists vollbracht.

Und neun ist eins

Und zehn ist keins.

Das ist das Hexeneinmaleins

Faust: Mich dünkt, die Alte spricht im Fieber!  – r.1. ‑…“ 

Hans-Dieter-Schütt arbeitet heute beim „Neuen Deutschland“, und leitet dort das Ressort Menschenrechte.

Fortsetzung im nächsten Heft.

D.Wolf