DDR-Opposition ohne DDR

von Hans-Jochen Vogel
(Aus telegraph #1 _ 1998)

Wie lange nach dem Ende eines Staates kann man noch gegen ihn opponieren? Gegen den Vater kann man noch rebellieren, wenn er schon Jahrzehnte im Grab liegt. Die Psychoanalyse hat sich mit solchen Problemen beschäftigt. Natürlich ist es nicht verboten, sich sein Leben lang am Bild seines Vaters zu reiben, der einen unterdrückt hat und von dem man das Gefühl hat, er habe einem das Leben verdorben oder habe einen zu einem Menschen deformiert, der man selbst gern nicht wäre. Es ist aber mit solcher Bürde schwer, in die Zukunft zu schreiten. Man muß versuchen, sie – wenn das Abschütteln schon nicht ganz gelingt – sich wenigstens teilweise vom Hals zu schaffen oder Techniken des Tragens zu entwickeln, die einem bei den Bewegungen ein möglichst hohes Maß an Freiheit lassen.

Was also tun Menschen, die in der DDR eigenständig zu denken und zu leben versucht haben, die der damals herrschenden Politik und Ideologie widersprochen und eigene Vorstellungen umzusetzen versucht haben, die deswegen mit den Organen des Staates in Konflikt gerieten und sich Schwierigkeiten einhandelten, nun, da der Staat, auf den ihr Denken, Reden und Handeln bezogen war, Gegenstand musealer Präsentationen ist?

Die Frage muß unterschiedlich beantwortet werden, wie einem schnell klar wird, wenn man im Geiste den Blick über die Häupter der ehedem vielgenannten Oppositionellen oder der eigenen Mitstreiter am Ort schweifen läßt. Eine Stelle bei Gauck, ein Mandat im Bundestag, Parteimitgliedschaften von CDU bis PDS; einige aber telegraphieren noch immer. Womit das Stichwort gefallen ist: telegraph.

1.

Beginnen wir mit seiner Titelseite. Dort stoße ich mich, je länger je mehr, an der Selbstdefinition des Organs als „Behörden- und Unternehmerunfreundlich“. Schon in der DDR gab es nicht DIE Behörden: Die Verwaltung einer Provinzstadt hatte schon damals massiv andere Interessen als der Magistrat von Berlin und der Staatsrat – die einen sahen ihre Städte zusammenbröckeln, die anderen wollten ihre Hauptstadt aufmotzen; oder: ein Bezirksstasichef wollte ein Exempel statuieren bzw. sein Gesicht nicht verlieren, aber der Generalstaatsanwalt sah darin übergeordnete staatliche Interessen bedroht. Interessenskollisionen, Konflikte, Rivalitäten entstehen ja täglich neu in einer Gesellschaft. Das war in der DDR nicht anders. Auch damals galt dieses einschließlich des „Staatsapparats“. Der „monolithische Block“, dem wir uns damals gegenübersahen, war nicht monolithisch. Daß die Belagerungssituation und – mentalität, die in der DDR herrschten, zu einer Kaschierung der Widersprüche führte, hatte wiederum u.a. auch die Selbsttäuschung der „Staatsführung“ zur Folge, die sie so hilflos in den Untergang schlittern ließ.

Also: Behörden sollte man sich ansehen, sollte zu verstehen suchen, wie sie funktionieren, sollte dann von Fall zu Fall entscheiden, mit welcher Behörde man kooperieren, welche man wo unterstützen sollte, und welcher man sich entzieht, gegen welche man opponiert.

Ich bin beispielsweise gegenwärtig dabei, mit der Unteren Naturschutzbehörde von Chemnitz Brutmöglichkeiten für Dohlen und Mauersegler zu retten bzw. zu schaffen und habe darob kein schlechtes Gewissen.

„Unternehmerunfreundlich“ mußte in der DDR niemand sein – die Rolle des „Unternehmers“ war im Repertoire der DDR-Gesellschaft nicht vorgesehen. Wer ist nun heute ein Unternehmer? Die Betriebsleitung oder gar Belegschaft(!), die ihren Betrieb durch eigene Übernahme aus dem Konkurs gerettet hat? Der Vorsitzende eine PGH der heute eine GmbH leitet? Die Ärztin, die zwischen Arbeitslosigkeit und eigener Praxis zu wählen hatte? Der LKW-Fahrer, der sein eigener Chef ist? Der Bauleiter, der nur als selbständiger „Subunternehmer“ einen Job findet, weil keine Firma für ihn Sozialleistungen aufbringen will (und kann)? Wovon also ist die Rede, wenn einer in dieser Gesellschaft „Unternehmerunfreundlich“ sein will? Siemens ist kein „Unternehmer“. Manager sind keine „Unternehmer“. Aktionäre sind keine „Unternehmer“… Das Ganze jedoch und noch viel mehr ist der Kapitalismus. Aber wo dann nun überall diese „Unternehmer“ sitzen und inwiefern Unfreundlichkeit ihnen gegenüber etwas ändern würde, das ist mir doch nicht so klar. Unfreundlichkeit ersetzt keine Programmatik, nicht einmal fundierte Kritik. Bedient also dieser Untertitel nicht eine Einstellung und verstärkt sie, die gerade kritisiert und überwunden gehört? Wird hier nicht eine Erfahrung vorausgesetzt, die sehr realsozialismus – spezifisch war: Freund und Feind klar (anscheinend) benennbar, die Macht mit Namen und Adresse, und wenn es am Ende Erich persönlich war – dieser oder jener Erich. Wird hier nicht etwas fortgeschrieben, was in der (für uns relativ) neuen Situation wenig nützt, nicht mehr angemessen ist? Sitze ich doch da kürzlich einem jener zahllosen Vertreter gegenüber und erfahre von ihm: daß er a) seinen Job eigentlich für nicht sinnvoll hält, b) durchschaut, daß dieses System keine Zukunft hat, beispielsweise weil kaum noch reale Gewinne erwirtschaftet werden, c) mehr Autobahnen gebraucht werden und Atomkraftwerke nötig sind, d) er sein Geld in einem Investmentfonds angelegt hat und seine Gewinne steigen, wenn sich die Arbeitslosigkeit erhöht, e) er Angst hat, daß seine Frau arbeitslos wird. Ist dieser normale Schizophrene nicht eigentlich der Typ, dem wir am häufigsten begegnen, der zugleich Ausbeuter und Ausgebeuteter ist? Autophagie hat das kürzlich jemand genannt: sich selbst auffressen. Gegen welchen Unternehmer will man ein solches Wesen rebellisch machen? Die gesichtslosen Prozesse der Kapitalverwertung oder – entwertung sind das Problem. Natürlich profitieren einige noch davon, natürlich gibt es in diesem Spiel Rollen, die von konkreten Leiten gespielt werden – aber die Darsteller sind auswechselbar. Und die Apathie der meisten Menschen rührt doch gerade daher, daß sie das gemerkt haben. Gegen wen auch immer sie Sturm laufen: Der Mechanismus setzt sich durch – gegen sie. Also gebe ich zu bedenken, ob das telegraph – Motto nicht doch geändert gehört. Wie wäre es mit „kapital- und staatsfern“?

2.

Das ehemalige politische System nun hat auch eine bestimmte Art von Opposition hervorgebracht. Unsere gegenwärtige Erfahrung ist, daß Opposition entweder als „parlamentarische“ auf den Status einer Art Blockpartei(en) reduziert, domestiziert und integriert ist oder marginalisiert und kriminalisiert wird. Das Prinzip ist Aufspaltung: ordentlich integrierte Opposition hält sich tunlichst fern von den „radikalen“ und „extremistischen“ Schmuddelkindern; die Marginalisierten vollziehen ihre Ausgrenzung als Selbstausgrenzung nach.

Die DDR war ja dadurch gekennzeichnet, daß sich offiziell Interessen und politisches Handeln nur im SED-Rahmen organisieren ließen. Das hat einerseits bei oppositionell Denkenden und Handelnden dazu geführt, daß sie als Gegner relativ undifferenziert den Komplex SED – Staat – Stasi sich gegenüberstehen sahen.

Es hat andererseits aber auch dazu geführt, daß sich Menschen, die normalerweise niemals auf den Gedanken gekommen wären, sich miteinander zusammenzusetzen und sich gar als Geistesverwandte zu sehen, doch im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind vereint waren. Es war schon damals eine Illusion, in dieser erzwungenen Einheit mehr zu sehen als ein konjunkturelles Phänomen, das sich mit einer Veränderung der Verhältnisse erledigen würde. Reinhard Schults Fazit der Liebknecht- Luxemburg- Affäre hat ja 1988 mit aller Deutlichkeit aufgezeigt, daß da unvereinbare Einstellungen und Absichten im Spiel waren.

Es ist ein bißchen wie bei den SED-Funktionären, denen ihre Blockfreunde von einst heute als frischgebackene Originaldemokraten voller Verachtung auf den Kopf spucken. „C´est la vie ist wie das Leben“ – wie Heiner Müller zu sagen pflegte. Davon wenig berührt ist, wer schon damals vermutete, daß er mit bestimmten Leuten und dem, was sie trieben und wollten, nicht so viel zu tun haben sollte, und der seinen Weg mit denen gegangen ist, die ihn mitgehen wollten oder mit denen er mitgehen wollte – nach Prüfung der Auffassungen und Ziele.

Bei der Podiumsdiskussion zum 10. Geburtstag der Umweltbibliothek hat mir Bernd Albani vorgeworfen, ich habe seinerzeit die Opposition gebremst und meinte konkret, ich hätte 1988 im Januar beim Treffen der sächsischen Basisgruppen (das unser winziger Friedenskreis, nebenbei, überhaupt erst erfunden und mit List und Tücke nach zwei Jahren Lobbyarbeit durchgesetzt hatte, gegen den zähen Widerstand und die Angst von Kirchenfunktionären, die mich beispielsweise als „Roten“ mißtrauisch, angstvoll, feindselig behandelten) eine Solidaritätsabstimmung für Frau Wollenberger (Lengsfeld) abzublocken versucht (ich weiß nicht einmal, ob mit Erfolg). Nun lasse ich mich zu Solidarisierung nicht gerne zwingen oder erpressen. Wenn sich jemand aus Motiven, die ich nicht billige oder nicht genau genug kenne, in Schwierigkeiten bringt, hat er nicht das Recht, von mir eine inhaltliche Solidarisierung zu erwarten, sondern allerhöchstens Hilfsbereitschaft oder menschliche Solidarität, wie jeder, der in Not ist. Das ist zweierlei. Dennoch: wenn einem ein solcher Vorwurf aus solchem Munde begegnet, melden sich schon Selbstzweifel.

Nach dem Podium in Berlin habe ich mich noch einmal gefragt, ob ich damals richtig gehandelt habe ( so weit ich mich heute überhaupt noch erinnern kann). Und da habe ich mir dann gesagt: Wie oft hat eigentlich Frau W./L. seit damals wieder Rosa Luxemburg gelesen und wie oft hat sie sie wieder zitiert – und zwar nicht nur dieses eine viel mißbrauchte Sprüchlein von den „anders Denkenden“ (das gerne die in den Mund nehmen, die weder so noch anders, sondern gar nicht denken)? Und ich befand mich doch wieder in einem gewissen Frieden mit mir selbst. Daß Frau L. nun in der CDU gelandet ist, hat mich danach nun sehr kalt gelassen. Warum soll sie nicht? Ich habe ihr nichts übel zu nehmen. Es gibt diese Partei, und es gibt solche Leute. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ging es im Verhältnis zu ihnen um Fragen des Geschmacks oder der Ansichten, um Differenzen und Querelen, wie sie zwischen Menschen vorkommen, die nicht mehr als ihre Hände und Füße, ihr Hirn und ihr Mundwerk besitzen, um ihre Beziehungen zueinander zu klären. Heute finden sich die Leute auf verschiedenen Seiten von Barrikaden wieder, was – siehe Gorleben und Berlin! – schon kaum noch und in Zukunft immer weniger eine Metapher ist. Wer in der richtigen Partei ist, kann schlagen und schießen lassen, u.U. eben auf ihre / seine früheren Mitoppositionellen. Das ist die Demokratie.

Ähnliches gilt für Erhard Neubert. Er hat in der DDR schon einmal der CDU angehört. Es ist natürlich, daß er ihr jetzt wieder angehört. Vermutlich ist er sich im wesentlichen treu geblieben. Wer die Studien gelesen hatte, die er im Auftrag des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR angefertigt hat (u.a. die zu den „emanzipatorischen Gruppen“), der konnte wissen, daß er bei der bürgerlichen Soziologie in die Schule ging und sich selbst als bürgerlicher Soziologe sehen wollte, das heißt auch, daß ihm als Normalfall für das Funktionieren einer Gesellschaft in etwa das vorschwebte, was er heute hat. Insofern die gegenwärtige Gesellschaft sich nicht in jeder Hinsicht von unserer gehabten unterscheidet, waren seine religionssoziologischen Überlegungen auch DDR-kompatibel. Die „Theologische Literaturzeitung“, ein traditionsreiches Fachblatt, das in Leipzig erscheint, hat in den 80er Jahren einmal zwei Aufsätze veröffentlicht, die sich mit der Funktion von Religion in der Gesellschaft befaßten. Einer stammte aus der Feder (dem Computer) von Prof. Trutz Rendtorff, des Chefideologen der evangelischen Kirche in Deutschland (damals: West), der andere aus der (vielleicht echt) von Prof. Hans Moritz, Leipzig, IM des MfS und alter Freund Honeckers aus gemeinsamen FDJ-Tagen, nebenbei: Theologe und Direktor des Emil-Fuchs-Institutes für Religionssoziologie. Das Verhältnis der beiden Aufsätze zueinander war ein komplementäres: Das heißt, wenn man den unterschiedlichen Kontext der Herren subtrahiert, liefen ihre Grundpositionen auf das gleiche hinaus. Bei Rendtorff war der Akzent mehr: eine sehr abstrakte, verwässerte Form der christlichen Religion ist integraler Bestandteil der (bürgerlichen) „Moderne“ und wird zur Steuerung der Gesellschaft und ihrer Befriedung benötigt; bei Moritz lag der Akzent eher darauf, der SED diese Sicht der Dinge – mutatis mutandis – auch für ihren Machtbereich nahezulegen. Wer die gedanklichen Zusammenhänge, in denen sich diese Leute beweg(t)en, durchschaut und (in meinem Fall: von einer grundsätzlich anderen Position aus) zu kritisieren gelernt hat, der wird sich nicht wundern, daß Erhard Neubert dort gelandet ist, wohin er offenbar am ehesten gehört. Moralisch verurteilen kann ich ihn nicht; ich fühle mich von ihm nicht verraten.

Die Frage ist natürlich erlaubt, ob Erhard Neuberts Anteil an der von ihm analysierten Basisbewegung unter dem Dach der Kirche sich von seiner Seite aus nicht schon immer anders dargestellt hat, als es mancher meinte, der sich mit ihm im Schulterschluß wähnte. Waren die „emanzipatorischen Gruppen“ für ihn nicht viel stärker auch Objekte der soziologischen Analyse, die er in einen politischen Zusammenhang einordnete, in den sie damals möglicherweise nicht eingeordnet werden wollten? Hat er damals mit Euch eine andere Politik gemacht und im Sinn gehabt, als Ihr sie mit ihm im Sinn hattet? Aber kann man ihm das vorwerfen? Er hatte seine Sicht der Dinge, eine durchaus konservative, in die er Euch/uns einordnete. Aus seiner Sicht verstand er uns besser, als wir uns selbst verstanden und wußte, wozu wir zu dienen hatten. Hatte er auf das Ganze gesehen, damit nicht sogar Recht? Auch wenn wir alle Ursache haben, uns dieser Sicht nicht anzuschließen und den Fall nicht als erledigt zu betrachten.

Und ging von Neubert nicht auch jener Charme aus, der so viele politisierende evangelische Pfarrer kennzeichnete: eine gewisse Intellektualität, gespeist aus der Kenntnis vieler Bücher, die dem Normalbürger nicht zugänglich waren, das bezaubernde Spiel mit klugen Gedanken, das Berauschtsein von Ideen, die in sich so wunderbar schlüssig und von gefälliger Sauberkeit sind. Daß die Geltung (die immer noch und wieder umstrittene!) der Ideen, mit denen die Pfarrer hausieren gingen, von anderem mit ihrem Blut bezahlt wurde, daß die Ideen immer das Eine sind, das Leben, die konkreten Leiden und Kämpfe, das Andere, und daß die Beziehung zwischen beiden hochgradig problematisch und risikobeladen ist, das war diesen auf die Logenplätze der Geschichte abonnierten Geisteskämpfern nie ganz zugänglich. Logenplätze? Haben sie nicht auch Risiken, Konflikt, Schwierigkeiten in Kauf genommen? Nun, als Pfarrer immer weniger als andere. Und selbst wenn: Ihre Urteile über die Geschichte, über gesellschaftliche Prozesse, waren immer mit einem Geruch von Schulmeisterei, von Mäkler- und Kritikerkastertum behaftet, als ob die weltgeschichtlichen Pannen (wie z.B. Stalin) vor allem daher kommen, daß die Akteure nicht die richtigen Ideen hatten oder sie nicht richtig begriffen hatten. Es ist der unauslöschliche Schandfleck des ML made in GDR, daß, dank der geistigen (Selbst)Kastration der Ideologie(re)produzenten, dann als es zum Treffen kam, eben diese eigentlich für derlei nicht besonders geeigneten Menschen die Rolle der Revolutionäre spielen mußten.

3.

Nicht nur den „Systemträgern“ der DDR fällt offenbar der Abschied schwer, sondern auch ihren Gegnern von einst. Das kann durchaus ehrenwerte Gründe haben. Vielleicht war die DDR, wenn man die Schlachtfelder und Narrenhäuser des Jahrhunderts besichtigt, und wenn man ernsthaft ethische Kriterien zu Grunde legt, dann doch ein gewisser Lichtblick, oder wenigstens nötig, oder nicht viel andres möglich. Vielleicht sollte man sie als eingetragenen Verein neu gründen, wie es mir 1990 schon einmal vorschwebte: Zugleich mit der Aufgabenstellung der Erinnerungs- und Bewertungsarbeit, also als Erinnerungsgemeinschaft, wie auch als Versuch auf der Grundlage unserer alten und neuen Erfahrungen und Vorstellungen eine wirkliche DDR zu entwickeln – in den Grenzen der BRD und im internationalen Verbund.

Eine Haltung der Opposition, der Gegnerschaft, der Kritik ist nur dann sinnvoll und vermittelbar, wenn sie von einer für andere erkennbaren Ahnung von einem anderen Leben, einer möglichen anderen Welt getragen ist. Die Analyse der katastrophalen Dynamik des gegenwärtigen Systems muß zwar von den Schmerzen der Betroffenen ausgehen, sie braucht jedoch Maßstäbe und Kriterien für ein zu erringendes Anderes, das heißt, es geht nicht ohne nach vorn gerichtete Theorie (die etwas anderes ist als „wertfreie Wissenschaft“).

Eine Ursache für die Irritationen, die sich aus den Wandlungen, Überläufen, Absprüngen einiger ehemaliger DDR-Oppositioneller bei ihren einstigen Weggefährten ergeben, scheint mir die Theorievergessenheit zu sein, die allerorten grassiert. Fehlen von Theorie ist aber Fehlen von Perspektiven und verurteilt zum Zurückstarren, zum Aufrechnen, zur Sorge um Identität, zum bloßen Reagieren. Beispiel: Es geht um eine – bei Marx vorhandene oder wenigstens angelegte – globale wie detaillierte Sicht des komplexen Zusammenhangs einer Gesellschaft, in der sich die Herrschaft der Menschen über ihresgleichen in der Form scheinbar naturgegebener ökonomischer Sachzwänge realisiert und dabei dieses Gesellschaftssystem in ein Dilemma treibt, aus dem es nur einen humanen Ausweg gibt, wenn die Vergesellschaftungsform von ihren Grundfesten her umgewälzt wird. Es geht nicht um Wirtschaftspolitik, sondern um eine andere Zivilisation – oder das Ende aller Zivilisation. Ich kann nur dringend die Lektüre von Maximilian Rubels Essay „Marx als Theoretiker des Anarchismus“ empfehlen (Die Aktion III/96).

4.

Gibt es eine Kontinuität im positiven Sinne der DDR-Opposition über den Untergang der DDR hinaus? – das ist die Frage. Wenn nein, dann dürfen wir sie uns nicht einreden. Wenn ja, worin soll sie bestehen? Oder, besser: wie sollte sie realisiert werden?

Ich möchte noch einige Vermutungen äußern. Interessant an unserem Leben in der DDR und an dem, was wir da getrieben haben, ist, daß wir auf unsere Art an einem Prozeß teilgenommen haben, der mit dem Jahr 1917 begonnen hat und gewaltige Veränderungen auf dieser Erde insgesamt und im Bewußtsein von Menschen insbesondere bewirkt hat.

Dabei halte ich heute unsere Rolle für keine glänzende. Ich vermute, daß wir niemals voll begriffen haben, in welche Entscheidungen die russischen Bolschewiki hineingetrieben wurden, wieder und wieder. Wir haben im tiefsten keine Vorstellung – oder eben nur eine angelesene – von der Tragik der Umstände, der Notwendigkeit und den Fatalitäten, denen sich all jene gegenübersahen, die sich den Herausforderungen der Kriege (2xWelt-) und Faschismen, dem Elend und dem Chaos dieses Jahrhunderts in exponierter Position stellen mußten oder/und wollten.

Ich zähle zu den wichtigen Erfahrungen, die ich durch mein Leben in der DDR machen konnte, die folgenden:

Grundsätzlich ist Geschichte ein Raum menschlichen Handelns. Eigentumsverhältnisse sind veränderbar. Wirtschaft ist im Interesse aller gestaltbar. Lebensrisiken müssen keine Quelle des Profits für sich um Kunden balgende Versicherungsgesellschaften sein. Eine Fabrik, die Nudeln herstellt, muß keinen Eigennamen eines Besitzers tragen, sondern kann – ohne Aura, ohne Mythos – VEB Nudelfabrik x-Stadt heißen. Kein Verkäufer muß mir das Glück oder „endlose Weite“ verkaufen. Die Befriedigung von Grundbedürfnissen kann nicht als Nebenprodukt von Profitgesetzen verstanden und erwartet werden, sondern muß gewollt sein. Es ist nötig, ideologische Grundentscheidungen zu treffen, auch für ganze Gesellschaften. Der Horizont, in dem zu denken ist, ist die Welt. Sie ist zugleich eine begrenzte Welt, in der nicht gleichzeitig alles machbar ist.

Ein großer Teil meiner westlichen/westdeutschen Zeitgenossen hat diese Erfahrungen nicht gemacht. Ihr Denken ist, wie raffiniert auch immer es im Einzelnen funktionieren mag, dadurch zurückgeblieben. Sie leben in einer Welt, die sich bisher zu Unrecht durchgemogelt hat. Der vielleicht prägnanteste kulturelle Ausdruck dieser im Kern voraufklärerischen Welt ist das Zeitungshoroskop.

Wir sind nicht dadurch interessant, daß wir im „Realsozialismus“ Ideale (Demokratie, Menschenrechte etc.) verehrt haben, die uns nun in ihrem natürlich – kapitalistischen Biotop den Vogel zeigen. Sondern interessant an uns ist, daß wir zu der Zeit hier gelebt haben und wie wir uns damit auseinandergesetzt haben.

Der Text entstand 1997 und bezieht sich auf die Diskussion über den telegraph, alte Reihe.

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