Kolonie DDR – Zur ökonomischen Lage in Ostdeutschland

von Andrej Holm
(Aus telegraph #1 _ 1998)

„Herrschaft ist in der DDR nicht nur durch den Besitz von Fabriken und durch ein dickes Bankkonto gekennzeichnet, sondern vor allem dadurch, daß sie von außen kommt, eine Fremdherrschaft ist.“ (O.S.T.B.L.O.C.K. 1993 frei nach Fanon)

In den letzten Jahren hat sich in Ostdeutschland unverkennbar so etwas wie ein neues Selbstbewußtsein – in den öffentlichen Debatten oft denunziert als „Osttrotz“ oder „Ostalgie“ – entwickelt. Hintergrund ist die tiefe Unzufriedenheit mit den neuen Bedingungen in der BRD, die zumindest in Meinungsumfragen und Trendstatistiken zu einer postmortalen Renaissance von Errungenschaften der DDR-Gesellschaft führt. Ob es dabei eher um eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach der verlorengegangenen Beschaulichkeit geht, oder ob sich hinter diesem „Ost-West-Konflikt“ eine antikapitalistische Kritik am neuen System verbirgt, ist noch nicht gänzlich auszumachen, zumal ja bekanntermaßen Identitäten im Fluß sind – also beeinflußbar. Tendenzen einer realitätsbezogenen Auseinandersetzung (mit den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen) bekam diese Haltung immer dann, wenn das Streben nach kultureller und politischer Eigenständigkeit auf ökonomische Verhältnissen projiziert wurde. Seit Heiner Müller im Osten den „geilen Blick des Neides, den Blick des Kolonisierten“ ausmachte, wurde über die Grenzen der Politischen Milieus und Subszenen hinaus das Verhältnis von Ost und West entlang des Kolonialbegriffs unter die Lupe genommen. Da sprechen Soziologen vom „Kolonialisierungsdiskurs, der den einheitsfreundlichen Liberalisierungsdiskurs übertönte“ (Wiesenthal), da verfassen Politökonomen einen dicken Forschungsband mit dem Titel „Kolonialisierung der DDR“ (Dümcke/Vilmar) und Wirtschaftsjournalisten parlieren über die „Kolonie im eigenen Land“ (Christ/Neubauer) und Schriftsteller sprechen von „der Unzucht mit Abhängigen“ (Hilbig). Selbst die regierungsfreundliche Beilage zur Zeitschrift „Das Parlament“ sieht sich in die Pflicht genommen, sich mit der „Kolonialisierungsthese“ auseinanderzusetzen. Nur die Linke im Osten – so scheint es – hat zum Thema bisher wenig beizutragen. Bis auf wenige Ausnahmen gab es weder Auseinandersetzungen darüber, ob denn die Entwicklung seit 1990 als Kolonialisierung zu betrachten sei, und erst recht nicht darüber, was das denn für die politische Praxis bedeuten würde.

Im folgenden Text sollen erst einmal die mit dem Anschluß ausgelösten Veränderungn der ökonomischen Bedingungen in Ostdeutschland unter den Gesichtspunkten einer möglichen Kolonialisierung beschrieben werden. Als die wesentlichen Merkmale für ein koloniales Verhältnis werden dabei die politisch-ökonomische Dominanz, die Bereicherung des Mutterlandes und die Verarmung des kolonisierten Gebietes überprüft. „Kolonialisierung ist mehr als die Expansion des europäischen Machtbereiches im 16.-19. Jahrhundert. Kolonialisierung bedeutet in ihrem Kern die politische, ökonomische und kulturelle Dominanz eines gesellschaftlichen Systems im Verhältnis zum anderen. Die Ausbeutungskolonien können ihrer Natur gemäß zur Bereicherung des Mutterlandes beitragen und zur Verarmung des kolonisierten Territoriums führten.“ (Carrodo Gini: Handbuch der Sozialwissenschaften)

 

Die Eroberung des Ostens – Politisch-ökonomische Dominanz
Der tiefgreifende Umbau fast aller wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, sozialpolitischen und rechtlich-administrativen Strukturen folgte Entwicklungszielen, die vom Westen vorgegeben wurden. Unter der Losung der schnellstmöglichen „Angleichung der Lebensverhältnisse“ wurde im wesentlichen die Wiedererrichtung der Marktwirtschaft betrieben. Kernpunkte des Umwandlungsprogramms waren die Privatisierung des Volkseigentums, die Deregulierung der Arbeitsbedingungen und ein Marktdogmatismus, der auf eine Anpassungperiode und gezielte staatliche Struktur und Industriepolitik verzichtete. Unter dem Vorzeichen einer konservativen Wirtschaftspolitik wurde auf den bedingungslosen Anschluß gesetzt. Der totale Umbruch im Osten war dabei ein wissentliches Machtkalkül der westdeutschen Eliten. Nicht nur aus wahltaktischen Gründen, sondern vielmehr im direkten Interesse des westdeutschen Kapitals wurden die hohen sozialen Kosten des Anschlusses in Kauf genommen. Nichts zeigt dieses bewußte, interessengeleitete Handeln deutlicher als die mit der Privatisierung hergestellten Eigentumsverhältnisse in Ostdeutschland1 :

– 85% der ostdeutschen Vermögenswerte (Fabriken, Häuser und Boden) gehören inzwischen Westdeutschen oder Ausländern. Damit nimmt Ostdeutschland als europäische Region den letzten Platz in einer Rangliste der EU ein – selbst in den „klassischen“ Abhängigkeitsregionen Baskenland und Nordirland ist der Anteil einheimischer Besitzer und Eigentümer höher.

– 81% der Arbeitsplätze gehören Westdeutschen, der Großteil der in der Produktion gepreßten Werte wandern also direkt in die Taschen des westdeutschen Kapitals.

– Bei 87% der im Osten ansässigen Aktiengesellschaften hat ein Westdeutscher den Vorsitz

– Nur 5% der von der Treuhandanstalt privatisierten Betriebe gingen an Ostdeutsche, 10% an Ausländer (vor allem US-Firmen und westeuropäische Unternehmen) und 85% an Westdeutsche.

Eine historisch beispiellose Umverteilung der Immobilien und Sachwerte verwandelte Ostdeutschland in wenigen Jahren zu einem weitgehend abhängigen Land, in dem alle wesentlichen ökonomischen und politischen Entscheidungen von der herrschenden Klasse der BRD getroffen werden. Vor allem westdeutsche Unternehmen und Immobilienbesitzer sind die Profiteure der Annexion – sie sicherten sich im Osten Filetstücken der zerschlagenen DDR-Wirtschaft, Kapazitätspuffer in ausgelagerten Zuliefer- und Tochterunternehmen, eine Marktbereinigung durch die Ausschaltung von Konkurrenz und die Besetzung eines umfangreichen Konsum- und Handelsmarktes.

Dieser Raubzug läßt sich in zwei zusammenwirkenden Teilprozessen – Zerschlagung und Bemächtigung – darstellen

 

Zerschlagung der DDR-Wirtschaft – roll back des Kapitals
Das industrielle Potential der DDR wurde innnerhalb von 3 Jahren (1990-1993) auf etwa ein Drittel abgebaut. Selbst der 2. Weltkrieg und die russischen Reparationsdemontagen nach 1945 konnte die Industriekapazität in Ostdeutschland nur halbieren. Ausschlaggebend für diesen Prozeß sind vor allem die Konditionen der Währungsunion und die Privatisierungpolitik der Treuhandanstalt.

Mit der Währungsumstellung zum Kurs von 1:2 ohne flankierende Rahmenprogramm wurde die DDR-Wirtschaft einem Wettbewerbsschock ausgesetzt, der fast zwangsläufig zu Konkursen der Betriebe führen mußte. Durch den massiven Aufwertungseffekt der Währung halbierten sich die Exporterlöse schlagartig, die Lohnkosten und Materialkosten jedoch blieben stabil. Fast alle Betriebe mußten also in Zahlungsschwiergkeiten kommen. Rainer Maria Golke, erster Präsident der Treuhand erklärte später vor dem Treuhand-Untersuchungsausschuß des Bundestages: „… Tatsache ist, daß im Grund genommen in dem Augenblick, wo die Währungsunion kam, kein Unternehmen mehr wettbewerbsfähig war.“ Diese Tatsache ist jedoch nur bedingt auf die „von der Planwirtschaft deformierte Wirtschaft“ zurückzuführen – eine derartige Währungspolitik hätte in allen Ländern und in allen Branchen zu Liquiditätsschwierigkeiten geführt. Der ehemalige Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl warnte bereits im Frühsommer 1990 vor einer „Roßkur, die keine Wirtschaft aushält“. Das Ignorieren dieser Warnung ist – so jedenfalls der Wirtschaftskritiker Wilhelm Hankel – eigentlich nur machtpolitisch zu erklären: „Das Versprechen des Bundeskanzlers, die DM .. schon vor der deutschen Vereinigung auf dem Gebiet der DDR einzuführen, sicherte seiner Partei … den grandiosen Wahlsieg vom 19.März 1990.“

Der politische Wille, die „deutsche Einheit“ zu vollziehen, ohne dabei die gesellschaftlichen Muster der BRD in Frage zu stellen, ließ sich nur in der weitgehenden Zerschlagung und Denunziation der gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen der DDR verwirklichen. In diesem Sinne war die Privatisierungsarbeit der Treuhandanstalt konsequent. So lautet der erste Satz ihres gesetzlichen Auftrags: „Das volkseigene Vermögen ist zu privatisieren.“ Erst als bereits der Hauptbestand der Betriebe geschlossen oder verkauft war – ein Treuhandpräsident gegangen ist, ein anderer erschossen wurde – kommt es zu einer Kurskorrektur. Am 13.10 1992 verkündet Frau Breuel, daß „durch Sanierung und Privatisierung Arbeitsplätze gesichert und eine neue Wirtschaftsordnung in Ostdeutschland begründet werden (soll)“.

industriell Beschäftigte im Vergleich
(je 1.000 Einwohner)

West (konstant) 110
Ost 1990           132
Ost 1993             47

 

Die Bilanz der Treuhand bis zu ihrer Auflösung am 31.12 1993 jedoch ist eindeutig:

13.643 Unternehmen und Unternehmensteile
18.813 ha Liegenschaften
34.704 ha landwirtschaftliche Nutzfläche
02.155 ha forstwirtschaftliche Nutzfläche wurden privatisiert.

Das heißt, in nicht einmal 4 Jahren vollzog sich ein umfassender roll-back der Eigentumsverhältnisse in Ostdeutschland – über 90% der volkseigenen Betriebe wurden an private Besitzer übereignet oder in die Liquidation geschickt. Entscheidend für diese schnelle Privatisierung war die Zerstückelung der Kombinate. Nur auf dieser Grundlage konnten modern ausgestattete und rentable Betriebsteile als Filetstücken an westdeutsche Unternehmen übergeben werden, nur so konnte für „unwirtschaftliche“ Bereiche eine Gesamtvollstreckung eingeleitet werden. Folge des Privatisierungskurses war die nachhaltige Zerschlagung des industriellen Rückgrads der ostdeutschen Wirtschaft.

Die Treuhandarbeit zielte ganz bewußt auf die Vernichtung der industriellen Basis in Ostdeutschland. Die Wirtschaftsintegration war politisch und nicht ökonomisch motiviert, die Privatisierung war für die ostdeutsche Wirtschaft eine „Therapie auf dem elektrischen Stuhl“, die vor allem das Interesse der westdeutschen Eliten nach Marktbereinigung und Abschirmung der BRD vor vereinigungsbedingten Veränderungsimpulsen widerspiegelt. Machtpolitisch zielte die Arbeit der Treuhand auf die Unterordnung der ostdeutschen Bevölkerung unter das zunehmend neolibereale Gesellschaftsmodell der BRD und die rasche Beseitigung von allen Strukturen und Spuren der DDR auf wirtschaftlichem Gebiet. Ordnungspolitisch setzte sie auf Marktdogmatismus ohne Anpassungperiode und den völligen Umbau der Eigentumsformen. In diesem Sinne war die Treuhandanstalt Instrument und Vollstrecker einer auf Annexion zielenden Regierungspolitik. Birgitt Breuel´s Aussage vor dem Untersuchungsausschuß zu diesem Zusammenhang ist erstaunlich offen: „Die Treuhand lebt in einer gewissen Distanz zur Politik … Die Treuhand ist nach meiner Einschätzung auch ausdrücklich gegründet worden, um diese Distanz zu ermöglichen. Keine Regierung der Welt hätte so schnell so viele, auch schwierige und bittere Entscheidungen treffen können …“.

Die Treuhandanstalt war also im Kern – zumindest für die ökonomische Entwicklung – eine Schattenregierung, die eine Deregulierung der ökonomischen Beziehungen vollzog. Die wesentlichen Akteure der Transformation agierten außerhalb der sonst üblichen demokratischen Prozesse, so daß der ökonomische Umbau Ostdeutschland von einer quasi-Diktatur durchgesetzt wurde. Unter dem Druck des politischen Projekts „Deutsche Einheit“ verzichtete die kapitalistische Herrschaft der BRD auf die sonst sorgsam gepflegte parlarmentarisch-demokratische Maske.

 

Bemächtigung der politisch-ökonomischen Entscheidungspositionen
Die Zerschlagung der wirtschaftlichen, politischen und institutionellen Strukturen der DDR war für die westdeutschen Eliten die wesentliche Voraussetzung zur um den eigenen Machtapperates, die eigene Wirtschaftsordnung zu installieren. Die zentralen Punkte dieser Bemächtigung waren die Eigentumsfrage, der Verwaltungstransfer und die damit verbundene Besetzung aller wesentlicher Entscheidungspositionen durch westdeutsche Beamte und Manager.

 

Wem gehört der Osten – Neue Eigentümer
Neben der Privatisierung der volkseigenen Betriebe und LPGen wurde auch das zumindest formell vergesellschafteten Eigentums den Bereich des Wohnungswesens aufgelöst. Als Weg in diesem Bereich wurde die Restitution, also die Übertragung des Eigentums an ihre früheren Besitzer gewählt. Im Einzelnen bedeutet das:

  • Ehemals volkseigene und staatlich verwaltete Wohnungen und Immobilien werden an Alteigentümer und ihre Erben zurückgegeben. Davon betroffen sind etwa 560.000 Altbauwohnungen.
  • Der Bestand genossenschaftlich und kommunal bewirtschafteter Wohnungen muß zu 15% verkauft werden. Hintergrund dieser offiziell „Altschuldenhilferegelung“ genannten Zwangsprivatisierung ist die Übernahme von Verrechnungssummen des DDR-Staatshaushaltes in reale Bankschulden, die jetzt von der Bundesbank mit Zinsen eingefordert werden. Insgesamt geht es dabei um einen Betrag von mehr als 50 Mrd. DM. Eine Minderung dieser „Schuld“ ist für die einzelnen Wohnungsbaugesellschaften und Genossenschaften durch die Privatisierung ihres Bestandes möglich. Umfang dieser Privatisierung: 380.000 Wohnungen.
  • Hinzu kommen noch einmal 200.000 Wohnungen, die an Betriebe oder LPGen gebunden waren und von der Treuhand privatisiert wurden.
  • Nicht zu vergessen die etwa 1 Millionen Haus- und Datschenbesitzer, die mit Ansprüchen sogenannter Alteigentümer konfrontiert werden.

Insgesamt werden also weit mehr als 1 Millionen Wohnungen privatisiert. Die Folgen für die Mieter solcher Häuser sind erheblich: war es für die sogenannten Alteigentümer, die quasi über Nacht in den Besitz längst verlorengeglaubter Immobilien gelangten, die einfachste Lösung, durch den Verkauf des Hauses schnelles Geld zu machen, so sahen viele Anleger in den Schnäppchen der Treuhand oder den Zwangsprivatisierungen eine außerordentliche Gewinnchance. Der Immobillienmarkt im Osten boomte. In vielen Städten ist ein „massenhaft spekulatives“ Verhalten zu verzeichnen. So werden in Leipzig vier von fünf restituierten Gebäuden zum Teil mehrmals verkauft, in Ostberliner Innenstadtbezirken liegt der Anteil der Alteigentümer, die ihr Grundstück behalten wollen, sogar bei nur 5-8%. Entstanden ist so eine Eigentümerstruktur, die sich sowohl hinsichtlich der Grundstücksgröße wie auch hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung von denen in der BRD unterscheidet: vor allem professionelle Grundstücksverwertungsgesellschaften und Investorenfonds zählen zu den Nutznießern des Anschlusses. In ihrer Anonymität und Rationalität sind sie in ihrer sozialen Verantwortung nicht mehr direkt mit den Bewohnern konfrontiert. Die strukturelle Ungleichheit von Eigentümern und Mietern im Kapitalismus wird dadurch verschärft und verdeutlicht vielen Ostdeutschen die Entwicklung der Wohnung vom festen Bestandteil der sozialen Grundsicherung zu einem Wirtschaftsgut. Faktisch hat eine externe Vermögenskonzentration ostdeutscher Immobilien stattgefunden – eine Untersuchung über die Herkunft der Alteigentümer ergab, etwa 70% kommen aus der BRD oder Westberlin und jeweils 15% aus dem Ausland und Ostdeutschland. Mit dieser „Entostung des Grundbesitzes“ hat sich ein Ungleichgewicht eines dauerhaften Ost-West-Miettransfers etabliert. Die im Osten bekannte Schriftstellerin Daniela Dahn hat – unter dem Titel „Wem gehört der Osten“ – gleich ein ganzes Buch zum Thema geschrieben. Darin heißt es: „Die Abschaffung des Volkseigentums eröffnete die Chance eines gigantischen Vermögensabfluß von Ost nach West.“

 

Aufbau der Kolonialverwaltung – Neue Herren im neuen Land
Neben den neuen Eigentümer bestimmen die neuen Herren das Bild in Ostdeutschland – die neuen Herren der Verwaltungen und Institutionen. Nachdem das politische Führungspotential in allen Kommunen und Städten ausgetauscht wurde, kamen sie als Entwicklungshelfer, Projektplaner und Berater in den Osten – der Zugewinn an formaler Demokratie hatte so von Anfang an den Charakter einer Fremdverwaltung. Entweder hatten die neuen Beamten keinerlei administrative Erfahrung und waren den Verhandlungen mit professionellen Investoren nicht gewachsen, oder aber die Führungspositionen (vor allem in den großen Städten) wurden direkt mit Personal aus den „alten Ländern“ besetzt. Sie organisierten die schnellstmögliche Verwertung westdeutschen Kapitals im Osten – dafür stehen die überdimensionierten Kläranlagen in vielen Gemeinden Brandenburgs ebenso wie die fast unzählbaren Golfplätze im Umland von Berlin, die überdimensionieren Einkaufszentren am Rande jeder Kleinstadt und die meist ungenutzen Büros der Abschreibungsbauten in den Innenstädten. Selbstständige Entscheidungen der Gemeinden, Formen direkter Demokratie sind so gut wie ausgeschlossen. Der Umbau Ostdeutschlands ist Ergebnis externer Intervention. Zum einen wurden Tempo und Richtung von Entwicklungen in den meisten Regionen weitgehend durch Bonner Förderprogramme und die Politik der Treuhandanstalt bestimmt, zum anderen waren kommunale Planungskapazitäten nicht entwickelt, so daß eine Großzahl der Planungsaufgaben an mehr oder weniger routinierte Büros aus Westdeutschland übertragen wurde. So konnte sich das selektive Investitionsinteresse westdeutscher Akteure in der Regel ungebremst, ungesteuert und unkoordiniert in den Städten Ostdeutschlands durchsetzen. Diese wild east seit 1990 stellte die Weichen für kaum umzukehrende Entwicklungen und löste ein wachsendes Mißtrauen der ostdeutschen Bevölkerung gegenüber den neuen Institutionen und Verwaltungen aus. Die „rapiden Akzepteanzverlusten des raschen Umstrukturierungsprozesses“ lassen beispielsweise einen Kommunalpolitiker aus Jena zu folgender Einschätzung kommen: „Die frühere, dem politischen Zentralismus geschuldete Fremdbestimmung der Kommunen wurde nun durch eine andere Form der Fremdbestimmung ersetzt“.

 

Gewinner der Annexion – Westler im Osten
Die Bemächtigung der ostdeutschen Entscheidungspositionen ist nicht nur ein Umbau, ein quasi verwaltungstechnischer Vorgang, sondern eine von konkreten Beamten, Managern und Spezialisten durchgeführte Besetzung der Schaltstellen eines ganzen Landes. Da mit dem Anschluß an die BRD die hegemoniale Deutungsmacht über das, was im Osten gewesen ist, im Westen liegt, haben sich Versionen durchgesetzt, die die Lage in Ostdeutschland in die Kategorien Opfer und Täter, Mitleid und Vorwurf pressen. Vor diesem Hintergrund werden Erfahrungen aus der DDR negiert, alle sollen 1990 vom Punkt Null anfangen. Während im Osten ein ganzes Volk im Chrashkurs sitzt – fast wie früher ist der „Ossi“ als Lehrling der neuen Gesellschaft wieder Objekt der geduldigen Bemühungen anderer; verschaffte der schnelle Anschluß den Westdeutschen einen Kompetenzvorsprung ohne irgendeine zusätzliche Kraftanstrengung. Selbst der durchschnittliche Westdeutsche ist darin Gewinner der Einheit, nicht nur die Manager der Vorstandsetagen und leitenden Beamten der neuen Verwaltungen. Hier liegt auch der Ursprung für die sozialen Aggressionen gegenüber dem breit akzeptierten Feindbild des „Westlers“ ganz allgemein, der durch den Anschluß nicht nur einen Statussprung vollziehen, sondern oftmals auch direkte materielle Vorteile verbuchen konnte. Bernd Okun, ein Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaftler versucht es auf den Punkt zu bringen: „Scheinbar sind sie die Spezialisten beim Aufbau der neuen Ordnung. Westdeutscher Durchschnitt vermag mehr als die intelligentesten Ostdeutschen, egal ob in Politik, Verwaltung, Wirtschaft …“. So ist Udo Reiters, der bayrische Intendantenexport beim MDR der Ansicht, daß „auch noch so begabte Ostdeutsche eine so komplizierte Aufgabe wie den Aufbau und die Gestaltung eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht leisten können“. Im Ergebnis des auch noch öffentlich subventionierten „go east“ sind Westdeutsche als Investoren, Immobilienbesitzer, Staatssekretäre, Kommissionsvorsitzende und Unidekane im Osten quasi unter sich. „Man begegnet sich untereinander wie gehabt, auf neuen Spielwiesen … Mittlerweile ist man hervorragend in informellen Strukturen vernetzt. Auf bestimmten Kommandohöhen ist die Übersichtlichkeit perfekt…“2 . Bei der Treuhandanstalt stellen sich diese Kommandohöhen folgendermaßen dar: Die Anstalt hatte 1993 insgesamt 4.839 Mitarbeiter. In einer sich nach oben verengenden Leitungshierarche verringert sich der Anteil der Ostdeutschen deutlich. Während die Mehrheit der einfachen Mitarbeiter aus Ostdeutschland kommt, ist unter den 40 Direktoren (durchschnittliches Jahresgehalt 380.000 DM zuzüglich Bonuszahlungen von bis zu 95% dieser Summe) kein einziger mehr zu finden. Hinzu kommen noch Hunderte von externen Beratern und Gutachtern aus der BRD. Der größte Teil von den Treuhandmitarbeitern in Entscheidungspositionen kam direkt aus der westdeutschen Privatwirtschaft. So kamen die für die „Abteilung Privatisierung“ verantwortlichen Vorstandsmitglieder Karl Schirner von Daimler-Benz und der spätere Hero Brahms von Hoesch, der für das Personalwesen zuständige Alexander Koch hatte sich zuvor bei Grundig einen Namen gemacht – für die Sanierung und Entlassung von 12.500 Mitarbeitern. Bei einer solchen Besetzung der Entscheidungspositionen kann die weitgehende Privatisierung im Interesse der westdeutschen Konzerne nicht verwundern.

 

Übersicht über die Herkunft der Treuhandanstalt-Mitarbeiter und Manager:

 

Bereicherung des Mutterlandes
In der öffentlichen Diskussion um die Folgen der „Wiedervereinigung“ wird vor allem die Lage im Osten beurteilt. Die regierungsnahen Kreise versuchen, ein Bild vom planmäßigen Aufschwung zu vermitteln – die Kritiker das Gegenteil. Für die These der Kolonialisierung sind aber auch die Auswirkungen auf die BRD von Interesse – denn dort sind die Gewinner des Vermögenstransfers auszumachen. Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau – der keineswegs eines übermäßig vorteilhaften Blicks auf Ostdeutschland verdächtigt werden kann – ließ Ende 1996 verlauten: „In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat“ (Die Welt 04.12.1996). Vor allem vor dem Hintergrund der immer wieder neu aufkeimenden Debatten um den „hemmungslosen Subventionshunger“ (Handelsblatt 09.04.1996) des Ostens ist eine Bilanz der tatsächlichen Transferleistungen interessant.

Die Ausgaben der BRD für das angeschlossene Ostdeutschland belaufen sich nach Angaben des Finanzministeriums auf etwa 200 Mrd. DM pro Jahr. Mit dieser Zahl wird öffentlich argumentiert und gefordert, die „Ostdeutschen sollen ihre Ansprüche zurücknehmen“ (Hans-Olaf Hankel, BDI-Präsident). Übersehen wird dabei zweierlei: die Rückflüsse aus Steuer- und Verwaltungseinnahmen in Ostdeutschland betragen rund 50 Mrd. DM jährlich und die etwa 100 Mrd. DM, die als „Leistungen für die Bevölkerung“ in Form von Arbeitslosenhilfe, Sozialversicherung, Kindergeld usw. sowieso jedem Bürger zustehen. Auch die Bundesbank kommt zu der Einschätzung: „Insgesamt dürfte sich der Umfang der speziellen Leistungen für die neuen Bundesländer … auf eine Größenordnung von 50 Mrd. DM belaufen..“ (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 1996).

 

Gewinntransfer von Ost nach West
Dem stehen aber die Gewinne gegenüber, die vor allem auf den erweiterten Markt im Osten zurückzuführen sind. So liegt die „inländische Verwendung von Gütern“ im Osten bei 17% – daß heißt, der Konsum entspricht in etwa dem Bevölkerungsanteil. Der größte Teil davon waren die Warenlieferungen der westdeutschen Handelsketten, die sich schon vor der Währungsunion den Osten aufgeteilt hatten und mit ihren Produkten überschwemmten. Die Lieferungen belaufen sich inzwischen auf jährlich etwa 200 Mrd. DM – die Bundesbank schätzt die Wachstumsimpulse aus dem Handel in den „neuen Ländern“ auf ca. 50% des Wachstums in den ersten Jahren nach der Annexion. Denn über die Kassen der Supermärkte und Kaufzentren fließt jährlich ein Großteil der Warenlieferwerte in den Westen zurück.

 

Warenlieferungen zwischen West und Ost in Mrd.DM:

Insgesamt kann von einem Gewinntransfer von etwa 150 Mrd. DM ausgegangen werden. Denn im Gegenteil zu den im Osten abgesetzten Konsumgütern liegen die Unternehmensgewinne und Einnahmen durch indirekte Steuern mit 3 bzw. 4% deutlich unter dem Nominalwert von 17%. Statt der 119 Mrd. DM Unternehmensgewinne, die bei einer Gleichverteilung von Absatz und Umsatz in Ostdeutschland realisiert werden müßten, liegt der tatsächliche Wert bei lediglich 21 Mrd. DM – die Differenz beträgt fast 100 Mrd. DM. Bei den indirekten Steuergewinnen fällt ein Defizit von 50 Mrd. DM auf – nur 14,5 Mrd. DM statt der 64 Mrd. DM bleiben im Osten.

Das heißt, verrechnet mit den „spezifischen Leistungen“ für die neuen Länder bleiben satte 100 Mrd. DM, die jedes Jahr von Ost nach West wandern. „Die westdeutsche Wirtschaft (konnte) insbesondere in den Jahren 1990 bis 1992 stark von der Maueröffnung und der deutschen Vereinigung profitieren. Der transferfinanzierte Einigungsboom bescherte den alten Bundesländern im Durchschnitt dieser Jahre eine reale Wachstumsrate von gut 4%… Das starke Wachstum in den alten Ländern trug wesentlich dazu bei, daß sich die Anzahl der Erwerbstätigen in Westdeutschland in diesem Zeitraum um fast 1,8 Mio. erhöhte. Die deutsche Vereinigung führte damit in den alten Bundesländern infolge der Wachstumsgewinne zu erheblichen Steuermehreinnahmen und Minderausgaben, die den vereinigungsbedingten Belastungen gegen zu rechnen sind.“ (Deutsche Bank Research/ 25.09.1996)

 

Westler immer Reicher?
Dieser Vereinigungsboom – ausgelöst durch die direkte Aneignung fester Vermögenswerte und die transfervermittelte Konjunktur der Handelsketten ebenso wie durch die Übernahme der Absatzmärkte in Osteuropa – spiegelt sich auch in den privaten Geldvermögen wider. Die Zahl der Einkommensmillionäre ist im Westen von 1989 bis 1992 um 38% auf 24.975 gestiegen – im Osten gibt es zur gleichen Zeit 290 Millionäre (1,1%). Daß es sich bei dieser Zunahme des privaten Geldvermögens um Vereinigungsgewinne handelt, belegen folgende Zahlen: während im Zeitraum 1985 bis 1990 die Steigerung des Geldvermögens (31,5%) an das Bruttoinlandprodukt (+33,1%) gekoppelt war, weichen diese Werte im Zeitraum 1990 bis 1995 weit voneinander ab. Obwohl das Brutto-Inlandprodukt nur um 14,4% wuchs, stieg das Geldvermögen der westdeutschen Haushalte in der selben Zeit um 46,5%.

Insgesamt kann eine durch den Anschluß Ostdeutschlands ermöglichte Bereicherung der westdeutschen Unternehmen und Haushalte festgestellt werden. Seit 1990 sind Vermögenswerte im Wert von 650 Mrd. DM direkt an Westeigentümer gegangen, hinzu kommen die 150 Mrd. DM jährlichen Unternehmensgewinne und indirekte Steuereinnahmen. Das heißt, seit dem Anschluß sind etwa 1.700 Mrd. DM aus Ostdeutschland abgezogen wurden – dieser Summe stehen ca. 350 Mrd. DM „spezieller Leistungen für die neuen Bundesländer“ gegenüber. Für die westdeutschen Gewinner der Einheit beziffert sich also die Bilanz der letzten 7 Jahre auf 1.350 Mrd. DM. Dieser gigantische Vermögenstransfer wird aber in der BRD nicht gleichmäßig aufgeteilt, sondern verschärft auch dort die Polarisierung von Armen und Reichen.

 

Verarmung des kolonisierten Gebietes
Die von Ostdeutschland abgesogenen Vermögenswerte und Gewinne konnten für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung hier nicht ohne Folgen bleiben. Nach der Zerschlagung der DDR-Wirtschaft und dem gescheiterten „Aufschwung Ost“ ist die Situation gekennzeichnet durch eine „industrielle Verödung“ und eine auf Dauer gestellte Abhängigkeit von Subventionszahlungen.

 

Industrielle Verödung
Durch Währungsunion und die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt ist die Produktion in nur wenigen Jahren auf weniger als 70% des Niveaus von 1989 gesunken. Vor allem in den Bereichen Industrie (34%) und Landwirtschaft (25%) waren die Folgen drastisch. Die Beschäftigtenzahl verringerte sich von fast 10 Millionen auf unter 6 Millionen. Was von westdeutschen Wirtschaftsinstituten als „genereller Abschmelzungsprozeß, Abwicklung systemnaher Organisationen und sektoralen Wandel der Wirtschaftsstruktur“ (Lutz/Holle) angesehen wird, war Zerschlagung einer wenn auch nicht besonders leistungsfähigen, so doch zumindest selbständigen Wirtschaftsstruktur. Vor allem die industriellen Kernbereiche – Basis einer jeden Volkswirtschaft – und die für Innovationen notwendigen Forschungs- und Entwicklungsbereiche wurden aufgeteilt und abgewickelt. So wurden beispielsweise in der Zeit bis 1992 mehr als 100.000 wissenschaftliche Angestellte aus den Forschungs- und Entwicklungsbereichen der Industrie entlassen – das waren mehr als 80%. Kamen noch 1990 auf 1.000 Einwohner 6,45 wissenschaftliche Mitarbeiter, sind es heute nur noch 1,2. Der Vergleichswert im Westen liegt bei 4,4 Personen in diesem Bereich. Auf dieser Grundlage ist eine eigenständige Wirtschaftsentwicklung nicht möglich. Produktion kann fast nur noch als „verlängerte Werkbank“ stattfinden.

In allen Belangen ist die Ostdeutsche Wirtschaft benachteiligt. Obwohl etwa 20% der Bevölkerung in Ostdeutschland leben, konzentriert sich hier nur ein geringer Anteil von wesentlichen Wirtschaftseinrichtungen:

  • der Ostanteil am Industriepotential 6%
  • der Ostanteil am Exporthandel 3%
  • der Ostanteil an Forschung und Entwicklung 2,5%

Selbst das Bundesfinanzministerium spricht inzwischen von „Deindustrialisierung“ und schätzt ein, daß auf dieser Basis kein „Aufschwung“ möglich ist. Die industriellen Kerne sind zu Miniaturen verkommen, die Versorgung der Inlandsnachfrage muß fast zur Hälfte mit Leistungen von außen gesichert werden. Diese Situation ist auf Dauer gestellt, da es so gut wie keine Anzeichen für eine dauerhaft eigenständige Wirtschaft gibt. Im Gegenteil: „Der Osten der Republik muß als ein Land der Klein- und Kleinstbetriebe angesehen werden“ (Die Welt/ 13.10.1997). Im statistischen Durchschnitt hat jede Firma in Ostdeutschland gerade mal 6,7 Mitarbeiter. Großbetriebe – das Herzstück einer jeden Wirtschaft – sind in Ostdeutschland eigentlich nur im Versorgungsbereich (Energie und Wohnungen) zu finden. Bei einem Ranking der „größten ostdeutschen Unternehmen“ wurde auch die Schieflage im Vergleich zu Westdeutschland deutlich. Die 77 Unternehmen (mit einem Jahresumsatz von über 250 Mio. DM) haben zusammen soviel Umsätze wie die Telekom AG und soviel Beschäftigte wie der Bayer Konzern.

 

Soziale Verelendung
Damit ist zum einen eine sich selbst tragende Wirtschaftsstruktur so gut wie ausgeschlossen – ökonomische Impulse sind fast ausschließlich auf Konjunkturschwankungen im Westen zurückzuführen, zum anderen verschieben sich die Felder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Durch die Klitschenökonomie im Osten werden trade-unionistischer Kämpfe in den Betrieben (wenn es überhaupt noch so etwas wie gesellschaftliche Kämpfe geben sollte) abgelöst von Auseinandersetzungen um eine wirtschaftliche Basis überhaupt und die Lebensbedingungen im gesamten Reproduktionsbereich. So hat in den meist kleinen Betrieben eine klassische Gewerkschaftsarbeit („Kampf“ um Flächentarifverträge) keine Basis. Der Stand der gewerkschaftlichen Organisierung ist im Vergleich zum Westen geringer (die IG Metall verlor von 1991 bis heute etwa 2/3 ihrer Mitglieder und von den verbleibenden 20.000 sind mehr als die Hälfte arbeitslos) und für die Unternehmen ist die Tarifpolitik in Ostdeutschland schon lange das Versuchsfeld zur Aushöhlung bisheriger Standards. In Sachsen beispielsweise haben sich mehr als die Hälfte aller Betriebe aus den Unternehmerverbänden und somit aus den Tarifbindungen ausgeklinkt. Die meisten Betriebsräte akzeptierten diese Entscheidung, da auch sie die „überzogenen tariflichen Leistungen“ als Hindernis für die schnelle Sanierung des Betriebes ansahen. Auch in anderen Branchen bestimmen deregulierte Arbeitsverhältnisse, Subunternehmen und in die Selbständigkeit Gedrängte das Bild.

Hans Christoph von Rohr – „ich bin im Ausland Verkäufer des Standortes Deutschland Ost“ – Leiter des IIC (The New German Länder Industrial Investment Council), einer Gesellschaft zur Investoren-Werbung für Ostdeutschland kommt darüber richtig ins Schwärmen: „Zwei Drittel der ostdeutschen Unternehmen stecken längst nicht mehr im Korsett der aus Westdeutschland importierten Tarifverträge, sie verhandeln Löhne, Arbeitszeiten usw. so, wie der Markt es verlangt. Ostdeutsche arbeiten jährlich 150 Stunden länger als ihre westdeutschen Kollegen, feiern weniger krank. Wer als Investor seine Maschinen 24 Stunden täglich, sieben Tage in der Woche laufen lassen möchte, hat damit im Osten nirgendwo Probleme. Wo in der industrialisierten Welt haben sich Menschen in so kurzer Zeit so erfolgreich an so dramatische Veränderungen angepaßt…“.

Arbeit selbst ist also im Osten kein Garant für soziale Sicherung und ein bißchen Wohlstand. Die Tendenzen von working-poor – typisch für die Armut in Metropolen – bestimmen schon jetzt, neben der Arbeitslosigkeit das Bild einer ostdeutschen Depressionsregion, einer dauerhaften Peripherie.

Hinzu kommt eine Zahl von etwa 1,5 Mio. Arbeitslosen, die in den nächsten Jahren noch steigen wird. Die offiziellen Prognosen des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaft) für 1998 mit einer Arbeitslosenquote von 19,6% im Osten wurden bereits im Januar deutlich übertroffen 21,3% – der Vergleichswert in der BRD liegt bei 9,5%. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (der einzige Ostvertreter bei den „Fünf Weisen“) rechnet bis 2010 sogar mit einer Arbeitslosigkeit von bis zu 1/3 aller erwerbsfähigen Personen. Nirgendwo sonst in Europa liegen die Reichsten und ärmsten EU-Regionen so dicht beieinander. In den Berichten der Europäischen Gemeinschaft werden die „fünf neuen Bundesländer“ unter der Rubrik der rückständigsten Regionen geführt.

Wegen der ökonomisch aussichtslosen Situation bestimmen also vor allem Sozialleistungen der öffentlichen Kassen den Lebensstandard im Osten. Diese Abhängigkeit von staatlichen Zahlungen ist nicht nur auf Dauer gestellt, sondern unterliegt einer Deregulierungs- und Spardynamik, die sich auf die materielle Versorgung eines größer werdenden Teils der Bevölkerung auswirken wird. Sowohl ökonomisch als auch sozial ist also der Zustand einer weitgehenden Abhängigkeit gegeben, der die Tendenz zur Verarmung – materiell, als auch im Sinne sich beständig einschränkender Entwicklungsmöglichkeiten – aufweist. Die „Vorteile“ des Westens – Freiheit und Demokratie – basieren im wesentlichen auf der sogenannten Arbeitsgesellschaft. Doch gerade „Arbeitsdemokratie“ und „industrielle Bürgerrechte“ sind im Osten genau an dieser Basis ausgehöhlt. Vor allem hier werden sich soziale Verelendung und Entdemokratisierung überlagern und damit zugleich die Seifenblase der Hoffnung auf den Westen zerstören.

 

„free the land“- Chancen für eine sozialrevolutionäre Perspektive
Ausgehend von dieser kolonialen Situation ergeben sich für soziale und politische Bewegungen spezifische Bedingungen. Die Folgen des Anschlusses könnten als politisches Interventionsfeld zum Brennglas für soziale, politische, kulturelle kurzum, für gesellschaftliche Bewegung werden. Die ähnlichen Erfahrungen seit 1990 können Koalitionen und Zusammensetzungen ermöglichen, die bei gesellschaftlichen Diskussionsprozessen aus der begrenzenden Enge der politischen Milieus und subkulturellen Nischen herausführt. Dieses höhere Maß an Gesellschaftlichkeit in einer zu entwickelnden politischen Praxis wird sich nur über einen Separatismus materialisieren – verstanden nicht als verkrustete Staatlichkeit, sondern als das Beharren, eigene Wege zu gehen, selbstbestimmte und basisdemokratisch legitimierte Entwicklungen durchzusetzen. Dabei werden Fragen nach der Verteilung öffentlicher Ressourcen in verstärkter Form ein Rolle spielen.

Denn im Vergleich zu den anderen osteuropäischen Gesellschaften unterliegt die Entwicklung in Ostdeutschland einer wesentlichen Besonderheit. Durch den politisch gewollten und fiskaltechnisch vollzogenen Anschluß an die BRD wurde den Bewohnern Ostdeutschlands eine Steigerung des materiellen Lebensstandards gesichert. Zugleich jedoch wurde wirtschaftlich, politisch und kulturell alle Eigenständigkeit zerstört. So gibt es nirgendwo in Osteuropa so viele Arbeitslose wie in Ostdeutschland, aber auch nirgendwo so viele neue Häuser, Einkaufszentren und Autos – Wohlstand ohne ökonomische Basis. Ohne Tendenzen der sozialen Polarisierung und der tatsächlichen Verarmung ausblenden zu wollen, das Grundgefühl des ostdeutschen Unzufriedenheitssyndroms ist geprägt von Bevormundungserfahrungen, Statuseinbußen, Unsicherheit und eine auf den Westen bezogene Deklassierung. Die weitgehend externe Durchsetzung des gesellschaftlichen Umbaus und die Folgekosten des Anschlusses (industrielle Verödung, Massenarbeitslosigkeit, Umstrukturierung der Städte) wurden vielen erst in den letzten Jahren richtig bewußt. Die „erkaufte Einheit“ folgte der Prämisse „erst die Vorteile, dann die Nachteile“ und eröffnet als Enttäuschungslogik den politischen Raum, Normalitäten und gesellschaftliche Grundstukturen – also das im Westen Übliche – in Frage zu stellen. Ob dabei auch sozialrevolutionäre Vorstellungen mitschwingen, hängt vor allem davon ab, ob sich eine ostdeutsche Linke konstituiert, die als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung für eine eigenständige Entwicklung Forderungen nach Selbst- und Mitbestimmung und sozialer Gerechtigkeit mit einander verbinden kann.

Die mit dem Anschluß ausgelösten Veränderungen vollziehen sich nicht nur in rasantem Tempo und Schärfe, sondern kollidieren zugleich mit vielen Alltagserfahrungen aus DDR-Zeiten. Vor allem die Erfahrung einer relativen Gleichheit und einer grundlegenden Existenzsicherung führte zu deutlichen Ost-West-Unterschieden in gesellschaftlichen Wertmaßstäben. Diese Vorstellung einer „moralischen Ökonomie“ in fast allen Lebensbereichen und auch die Erfahrung von Gemeinsamkeit bietet die Chance, soziale Konflikte aus der Enge einer individualisierten Besitzstandssicherung herauszureißen und ihnen Tendenzen einer wirklich gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu geben. Entlang den Themen Enteignung, Fremdbestimmung und sozialer Zerstörung konstituieren die Alltagserfahrungen eine soziale Identität, die eine Vermassung von Auseinandersetzungen ermöglicht. Die Forderung nach gesellschaftlichen Eigentum und Mitbestimmung kann gerade durch einen separatistischen Kontext zum Auslöser für soziale Mobilisierungen der gesamten ostdeutschen Gesellschaft werden. „Ostidentität“ als Konfrontation mit den durch den Anschluß gesetzten Bedingungen ist ein notwendiger Bezugspunkt für eine linke Politik im Osten, die Revolution als gesellschaftliche Bewegung versteht.

 

1 Die hier angeführten Beispiele für die Verteilung der ostdeutschen Vermögenswerte sind im wesentlichen Angaben des Treuhandnachfolgers BvS und Ergebnisse einer Studie der britischen Wirtschaftswissenschaftler Wendy Carlin und Colin Mayer)

2 Auch hier ist der Leipziger Bernd Okun zu Wort gekommen, der sich in seinen Arbeiten vor allem mit dem Elitentransfer im Zuge der sogenannten verei-nigung beschäftigt. Weiter gelesen werden kann in der Zeitschrift „utopie kreativ – Diskussion sozialistischer Alternativen“ Heft 60, wo der Autor einen längeren Artikel veröffentlicht hat.

 

Lesetips zum Thema:

Hanna Behrend: Abwicklung der DDR. Wende und deutsche Vereinigung von innen gesehen. Berlin 1996

Daniela Dahn: Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten. Hamburg 1994

Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar: Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses. Münster 1995

Michael Jürgs: Die Treuhändler. Wie Helden und Halunken die DDR verkauften. München/Leipzig 1997

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