Editorial telegraph 1/1999

SANKT 1989

Herbst 1999: Die Konrad-Adenauer-Stiftung organsiert Kongreße über „Zivilcourage im Wendeherbst“, Kriegstreiber loben die Gewaltlosigkeit von ´89 und Abhörfanatiker empören sich über Stasi-Methoden.

Zehn Jahre nach der Wende hat die bundesdeutsche Rechte die Deutungsmacht über ´89 übernommen. Die „friedliche Revolution“ gegen den real existierenden Sozialismus wird dabei zur Apologie des real existierenden bundesdeutschen Kapitalismus umgelogen und es scheint, als wären die heutigen Zustände das Ziel der Hunderttausenden gewesen, die damals – viele das erste und einzige Mal in ihrem Leben – auf der Straße waren.

Leider folgt mittlerweile auch ein Großteil der Linken dieser Interpretation der damaligen Ereignisse. „Deutschland einig, stark und groß – die Scheiße ging von vorne los“ scheint hier alles zu sein, was von den damaligen Ereignissen übrig geblieben ist.

So oder so wird ´89 zur Ikone gemacht, zu einem Heiligenbild, das mit damals nichts zu tun hat. Damit geht verloren, daß der Herbst vor zehn Jahren nicht nur das beste war, was die DDR je hervor gebracht hat, sondern auch alles, was der heutigen Beutegesellschaft fehlt: nämlich die Existenz einer echten basisdemokratischen Volksbewegung, die nicht nur die SED vom Hocker gehauen hat, sondern an vielen Stellen in Bürgerkomitees, Soldatenräten und Betriebsausschüssen dabei war, die Selbstverwaltung der Gesellschaft in die Hände zu nehmen. Wählbarkeit von Direktoren, Selbstverwaltung der Häuser, Abschaffung von Geheimdiensten – alles das sind Parolen von ´89, die auch heute noch auf ihre Einlösung warten.

Warum ist so wenig daraus geworden? Wie konnte die Bewegung für demokratische Reformen so schnell zu einer Anschlußbewegung werden? Warum wurden die Impulse nicht im Westen aufgenommen? Was also war eigentlich ´89? Vielschichtige Fragen erfordern vielschichtige Zugänge. In diesem Heft schreiben darum Autoren über ´89, wie sie verschiedener kaum sein können. Vom Westberliner Autonomen über den Ostberliner Dada bis hin zum IM, der die Opposition aufgebaut hat.

10 Jahre 89 sind auch 50 Jahre DDR. Bevor der emanzipative Gehalt von beidem nicht auf den Punkt gebracht ist, ist – zumindest östlich der Elbe – auch für alle kommenden gesellschaftlichen Umwälzungen, von Linken und Intellektuellen wieder nichts zu erwarten.

Bis zum nächsten Heft Eure telegraph – Redaktion

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