Hilferufe aus der NVA

aus telegraph 10/1989
vom 20. Dezember 1989

Aus Sassnitz erhielt der „telegraph“ folgendes Schreiben des Soldatenrates vom 13.12.:

Hilferuf

Mit diesen Zeilen wenden sich die in Sassnitz stationierten Armeeangehörigen hilfesuchend an die Öffentlichkeit.
Die vielen positiven Veränderungen in unserem Land haben offensichtlich vor der Armee halt gemacht. Betroffen müssen wir feststellen, daß sich die Situation für uns nicht verbessert hat. Die einzelnen, widerwillig gemachten Zugeständnisse sind relativ unwesentlich und Vorwand für eine Hinhaltetaktik.

Der Ausgang bis zum Dienst bringt effektiv für die meisten kasernierten Armeeangehörigen nichts, weil in der Vergangenheit der Wohnsitz bei der Kasernierung nicht berücksichtigt wurde. Der zusätzlich verlängerte Kurzurlaub ist in Wirklichkeit nicht mehr und nicht weniger als zuvor, denn der Feiertagsurlaub fällt dafür weg und dieser VKU wird an seine Stelle gesetzt. Was für revolutionäre (?) Neuerungen sind Regelungen wie das Tragen eines Schnurbartes, oder die Abschaffung des Frühsportes?

Wieviel Armeeangehörige besitzen ein eigenes Auto und sind gewillt, es für drei Benutzungen in einem halben Jahr draußen stehen zu lassen?

Die Reisezeitregelung bringt in Wirklichkeit mehr Ungerechtigkeit als Vorteile, weil sie, wie viele Anordnungen, eine zu weite Auslegung durch den Kompaniechef zulassen.

In unserer Einheit wurde ein Soldatenrat gebildet, dessen Aufgabe es sein sollte, z u s a m m e n mit Vorgesetzten strittige Fragen zu klären. So wollten wir die Gefahr einer Konfrontation ausschließen, Probleme konstruktiv lösen und jegliche Form von Anarchie vermeiden. Es wurden sowohl ein Statut als auch ein Programm vorgelegt. Jedoch wurde vom Kompaniechef jede Zusammenarbeit abgelehnt. Er besteht auf überholte Dienstvorschriften, die unsere Interessen in keiner Weise berücksichtigen und legt diese für die kasernierten Armeeangehörigen so nachteilig aus, wie es in seinen Kräften steht. Da uns bereits mit Arrest gedroht wurde, sehen wir uns als Vereidigte gezwungen, die Öffentlichkeit um Hilfe und Solidarität zu bitten. Wir halten es für wichtig, daß es bekannt wird, daß es einem Kompaniechef möglich ist, Abkommandierungen von dringend benötigten Arbeitskräften in der Volkswirtschaft aus fadenscheinigen Gründen zu verhindern. Während er seine persönlichen Interessen gefährdet sieht und deshalb, so wörtlich: eine Interessenvertretung von Berufsoffizieren g e g e n die Volkskammer wünscht, ignoriert er weiterhin eine Interessenvertretung der Soldaten. Eine Veröffentlichung dieser Zeilen halten wir für die einzige Chance, Hilfe bei der Durchsetzung von humaneren Verhältnissen bei der NVA durch die Öffentlichkeit zu erhalten.
K6HA
Der Soldatenrat
13.12.89 74826 Sassnitz“

Aus Bad Salzungen erhielt „telegraph“ einen Brief von Angehörigen der Grenztruppen, die Ende Juli mit der Zusicherung, Aufgaben im Rückwärtigen Dienst bzw. in der Volkswirtschaft übernehmen zu können, zu den Landstreitkräften nach Bad Salzungen versetzt wurden. Stattdessen mußten sie an der anstehenden Batailonsübung teilnehmen. Nachdem sie danach einen Einsatz in der Volkswirtschaft durchgesetzt hatten, dauerte für über die Hälfte der Soldaten der Einsatz nicht länger als 7 Wochen, danach mußten sie wieder in die Gefechtseinheit. Der Politstellvertreter des Regimentskommandeurs erklärte, daß niemand die Kompetenz zu Versicherungen über einen Einsatz in der Volkswirtschaft bzw. im rückwärtigen Dienst gehabt hätte und die Schuldfrage nicht zu klären sei.
Die Soldaten befürchten nun, daß die verkündete Reduzierung der NVA um 10.000 Mann durch gleichzeitiges Auffüllen aus den Grenztruppen hintertrieben würde. Das kann allerdings auch, wie „telegraph“ erfuhr, am gegenwärtigen Organisationschaos beim notwendigen Abbau der Grenztruppen liegen.

„Die Militärdoktrin hat sich zwar geändert“, schreiben die Soldaten weiter“, aber der regierende militärische Geist ist geblieben.“ Als Untergebener werde man ständig für dumm verkauft, Demokratie für Soldaten gebe es immer noch nicht.

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