Ostberliner Schülerräte

aus telegraph 10/1989
vom 20. Dezember 1989

In allen Teilen der DDR sprießen gegenwärtig Schülerräte aus dem Boden. Selbst in der konservativen Hochburg Weimar gibt es einen zentralen Schülerrat, vor dem Lehrer und Schulleitungen nach anfänglichem heftigen Widerstand kapituliert haben.

In Ostberlin begann es am 27. Oktober mit einer Idee in der Kneipe „Seeterrassen“ in Lichtenberg. Angesichts einer Einladung in den Zentralrat der FDJ kamen EOS Schüler zu der Ansicht, daß sie nicht, wie es im FDJ-Statut heißt, „Kampfreserve der Partei“ sein wollen, sondern eine überparteiliche und nicht politische Interessenvertretung der Schüler brauchen. Der Redebeitrag, der aus dieser Idee entstand, konnte dann doch nicht gehalten werden. Aber an den folgenden Sonntagen trafen sich um 14 Uhr jeweils Schüler verschiedener EOS an dem skurilen Lokomotivenmonument auf dem Ostbahnhof, um die Organisation einer Schülervertretung zu diskutieren.

Am 14. November fand dann in der Andreas-Markus-Gemeinde eine Sitzung der Initiativgruppe statt, bei der ein Konzept erarbeitet wurde. Die Schüler brauchen, hieß es, eine Organisation, die unabhängig von Parteiinteressen und der FDJ ist. Schülervertreter bzw. -räte sollten die Interessen der Schüler gegenüber Lehrern, Schulleitungen und bis zum Magistrat deutlich machen. Schüler sollten in Zusammenarbeit mit dem pädagogischen Rat und dem Elternbeirat mitentscheiden können. Je Klasse wurde an 1-2 Sprecher gedacht, die die Klasse im Schülerrat vertreten sollten. Die Sitzungen des Schülerrates sollten öffentlich sein. Aus Vollversammlungen der Schule würde je ein Vertreter in einen Dreißiger-Rat der Berliner EOS entsandt werden. An Streik wurde zunächst nicht gedacht, sondern einvernehmliche Lösungen angestrebt.

Widerstand der Lehrer und Schulleitungen gab es in Berlin weniger. Das mag zum einen an einer gewissen Lähmung infolge der „Wende“ liegen. Zum anderen aber herrscht auch bei Pädagogen Unzufriedenheit, zum Beispiel mit dem über Nacht und ohne irgendeine Vorbereitung verkündeten Wegfall des Samstagunterrichts. Das führt, bei Beibehaltung der alten Lehrpläne, zu einer Überlastung von Schülern und Lehrern.

Auch die FDJ Grundorganisationsleitungen (GOL) hatten oft ein Einsehen in ihre ausweglose Situation und traten zurück. In bisher etwa 10 EOS fanden Urabstimmungen statt, bei denen von den Schülern die Notwendigkeit von Schülervertretungen befürwortet wurden. In bisher 5 EOS gibt es jetzt bestätigte Vertreter der Schüler.

In der Alexander von Humboldt-EOS entschied die Urabstimmung beispielsweise mit 95,7% für den Schülerrat. Bei einer Vollversammlung der Schule wurde am 12. Dezember der Programmvorschlag des Schülerrates bestätigt. Demnach ist der Schülerrat „antifaschistischhumanistisch, basisdemokratisch und autonom“. Der Schülerrat strebt Stimmrecht in allen Fragen an, die Schüler betreffen und möchte eine berlinweite Organisierung von Abiturienten und die Zusammenarbeit mit Studenten-, Lehrlings- und POS-Schülerräten erreichen.

In einigen Schulen sammelten sich die überzeugten FDJler in der marxistisch-leninistischen Jugend, die sich mittlerweile DDR-weit organisiert hat und mindestens in Berlin recht gut mit Schülerräten zusammenarbeitet.

Der geplante Dreißiger-Rat der Berliner EOS konnte sich allerdings bis jetzt noch nicht vollständig konstituieren. Wir berichten demnächst weiteres.
r.l.

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