Mexiko – zwischen bewaffnetem Klientelismus und offenem Krieg

von Klaus Dieter Löbau

Im folgenden Artikel sollen einige Aspekte zur Geschichte der mexikanischen Linken der letzten 30 Jahre zusammengetragen werden. Zum einen geht es um die städtische Linke und zum anderen um die vorwiegend im Süden Mexikos zu findenden Guerillaorganisationen EZLN, EPR und ERPI. Ein wesentlicher Aspekt bei dieser Betrachtung ist die Militarisierung der Gesellschaft und deren sozialer Konflikte.

Obwohl der Bundesstaat Chiapas einer derjenigen mit den meisten Rohstoffen ist, lebt die überwiegende Mehrheit der Landbevölkerung in absoluter Armut. Ein Drittel dieser Bevölkerung sind indígenas. Der zentrale Konflikt um das unmittelbare Überleben ist hier, wie in allen südlichen Bundesstaaten von Mexiko, die Landfrage. Trotz der geographischen und sozialstrukturellen Nähe zu Guatemala unterliegt Chiapas jedoch zumindest im politischen Bereich der Logik des eigenwilligen mexikanischen Regierungssystems, das als eine besonders klientelistische Form des Staatskapitalismus, inklusive Einheitspartei beschrieben werden kann.

Grundlegend für das Selbstverständnis des mexikanischen Staates sind die Revolution und der Bürgerkrieg von 1910-1917. Die seit 1859 bestehende Verfassung enthält eine Reihe von progressiven Bestimmungen wie die Trennung von Staat und Kirche, die allerdings partiell 1992 wieder aufgehoben wurde. Seither gab es darüber hinaus juristische Einschränkungen gegen die private Nutzung von Großgrundbesitz und Bodenschätzen. Andererseits wurden die indianischen Völker, die indígenas und die Frauen von den verfassungs­mässigen Rechten ausgenommen. Bis heute gehören rassistische und patriarchale Aus­grenzung zu den wichtigsten Konstanten der politischen und sozialen Kultur Mexikos. Seit über 70 Jahren wird das Land von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) regiert, die seitdem ein Machtsystem aufgebaut hat, das auf der mafiösen, klientelistischen Verteilung des nationalen Reichtums beruht, und in Bezug auf seinen Zentralismus, Bürokratismus und Autoritarismus den ehemals staatssozialistischen Systemen Osteuropas nicht unähnlich ist. Insbesondere durch seine Außenpolitik, die aufgrund des Konfliktes mit den USA von einer stark antiimperialistischen Rhetorik bestimmt war1 , hatte die mexikanische Regierung immer ein positives Image in der lateinamerikanischen Linken. Neben der Aufnahme von antifaschistischen Flüchtlingen aus Europa während des II. Weltkrieges, waren es vor allem die Unterstützung für Flüchtlinge aus Chile nach dem Staatsstreich und die Vermittlung im Bürgerkrieg El Salvadors, die dieses positive Bild der mexikanischen Politik beförderten.

1. Ausgangspunkte und Ergänzungen
Den ersten innenpolitischen Bruch seit der Revolution gab es, wie in vielen Ländern, auch in Mexiko 1968 mit der Studentenbewegung. Nachdem im Juni 1968 die Polizei zwei studentische Demonstrationen angegriffen hatte, die sich gegen verschiedene Repressionsmaßnahmen richteten, gingen die im weltweiten Aufbruch politisierten Studenten in die Offensive und besetzten die Universitäten. Höhepunkt der Repression war das Massaker des Militärs an einer friedlichen Demonstration am 2. Oktober 1968 auf dem Platz der 3 Kulturen. Alleine bei diesem Massaker gab es mehr als 200 Tote und Tausende Verhaftete. Lange vor dieser ersten Auseinandersetzung mit der PRIis­tischen Macht in den Städten kam es auf dem Land, in Guerrero (Acapulco) zu ersten Auseinandersetzungen mit campe­sinos. Guerrero gehört gemeinsam mit den südlichen Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca zu den ärmsten Regionen des Landes und dem höchsten Anteil an indigener Bevölkerung. Seit 1963 organisierten sich die Bauern für ihre Forderungen nach einer gerechteren Landverteilung in der Nationalen revolutionären Bürgervereinigung (ANCR). Die einzige Antwort des Staates bestand in einer verschärften Repression. Auf dieser Grundlage gründete der Grundschullehrer Lucio Cabañas 1967 die bewaffnete Bauernbewegung Partido de los Pobres (Partei der Armen), die in den folgenden Jahren eine breite Unterstützung in der Landbevölkerung gewann. Mit Hinterhalten, Überfällen auf das Militär und die Geheimpolizei – die judiciales, mit Entei­gnungsaktionen und Entführungen von Politikern und Großgrundbesitzern gewann die Gruppe zunehmend an Popularität unter den rechtlosen campesinos. Nach 1968 gab es über mehrere Jahre den Versuch, beide Bewegungen, die der Studenten und die der kämpfenden Landbevölkerung, zusammenzubringen. Aus der Studentenbewegung gründeten sich zunehmend marxistisch-leninistische Gruppen und eigene Guerillagruppen. Der mexikanische Staat antwortete mit einer geradezu klassischen Bekämpfungsstrategie von Zerschlagung und Integration. Die unmittelbare Repression richtete sich hauptsächlich gegen die Landbevölkerung. Dutzende von Massakern in den Dörfern, hunderte von “Verschwundenen”, die gefoltert und ermordet, oder lebendig vor der malerischen Küste von Acapulco aus Hubschraubern geworfen wurden, bestimmten das eine Gesicht der Repression, das heute aus dem öffentlichen Bewußtsein Mexikos fast vollständig verschwunden ist. Andererseits nahmen hunderte von studentischen Kadern das konsequente Inte­grationsangebot der PRI wahr, und sitzen heute als ehemalige Maoisten in den Aufstandsbekämpfungsstäben der immer noch regierenden PRI. Der dritte Faktor für die Niederlage der Linken in den siebziger Jahren waren die internen Auseinandersetzungen der Linken, bei denen einzelne Gruppierungen im Versuch, sich gegenseitig zu hege­monisieren, auch vor Hinrichtungen von Genossen nicht haltmachten. Besonders diese Entwicklung erzeugte ein Bild des Guerillakampfes, das diese Zeit als ein besonders düsteres Kapitel in den Köpfen der meisten städtischen Linken erscheinen läßt. Selbst Radikale Kommentatoren wie Paco Ignacio TaiboII behaupteten vor diesem Hintergrund nach dem Aufstand in Chiapas, dass die mexikanische Linke noch nie für die Guerilla gewesen sei.

Fakt ist, daß während der gesamten 70er und 80er Jahre sowohl bewaffnete bäuerliche Selbstverteidigungsstrukturen, als auch Guerrillagruppen existierten. In Chiapas begannen die landlosen Bauern Anfang der 80er Jahre sich mit Streiks und Landbesetzungen gegen die Großgrundbesitzer zu wehren. Im Gegensatz zu anderen Gebieten Mexikos hatte sich die postrevolutionäre Bodenreform in Chiapas niemals gegen den Widerstand der lokalen Machthaber durchsetzen können. Diese kaziken verbinden in ihrer Person die juristische und soziale Autorität. Sie sind oftmals auch die Großgrundbesitzer in ihren Gemeinden und ihre Macht korrespondiert eng mit der PRI. Die Strukturen in derartig autokratisch beherrschten Gemeinden ähneln bis heute der kolonialen Leibeigenschaft. Verschärft wurde das Problem durch die zunehmende Zentralisierung des Grundbesitzes sowie durch den Zuwachs der Landbevölkerung, wesentlich verursacht durch die Flucht von großen Teilen der guatemaltekischen Bevölkerung vor dem zu diesem Zeitpunkt im Nachbarland stattfindenden Völkermord an den indíginas. Nach verschiedenen Massakern an campesinos, bei denen die kaziken die Polizei als Privatarmee einsetzten, entwickelte sich ein Prozeß politischer Organisierung, der bis in die Gegenwart anhält. 1983 marschierten Angehörige verschiedener indigener Volksgruppen in die Hauptstadt Mexico-City und forderten die Legalisierung der Landbesetzungen. Die Regierung zahlte Abfindungen an Landbesitzer, die Land abgaben, was dazu führte, daß diese die Prämien kassierten und das Land behielten. Auch an der permanenten Verfolgung und Ermordung von Aktivisten änderte sich nichts. Die militärische Repression gegen die comunidades wurde mit der Suche nach “illegalen” Guatemalteken und Kubanern, also mit dem Konflikt im Nachbarland begründet.

In der gesamten Zeit seit 1974 war in Chiapas, hauptsächlich im ländlichen Gebiet um Ocosingo, die Guerilla Bewaffnete Kräfte zur Nationalen Befreiung (FALN) aktiv. Sie wurde im wesentlichen von städtischen Kadern verschiedener maoistischer Gruppen getragen. Obwohl es der Gruppe gelang, in diesem Zeitraum eine begrenzte Territorialkontrolle aufzubauen, blieb der große Durchbruch in der gemeinsamen Organisierung mit der chiapanekischen Bevölkerung aus. 1983 gründeten einige ehemalige Aktivisten der sich damals in Auflösung befindlichen Guerilla die EZLN.

Im Nachbarstaat Guerrero wurde 1986 der Bruder des Gouveneurs entführt. Er wurde von lokalen Bauernaktivisten des Drogenhandels und des illegalen Holzfällens beschuldigt. Die Entführer forderten eine Entschädigung für 80.000 Hektar gefällten Wald und ein Ende der Abholzungen. Die Bundesregierung verlegte Militär aus Chiapas nach Guerrero. Aus dem Protest gegen die anschließende Militäroperation entwickelten sich verschiedene ökologische Initiativen, die an die Forderungen der Entführer anknüpften. Mit Unterstützung der Lehrerge­werkschaft, die ebenfalls seit den 50er Jahren eine zentrale Kraft in der sozialen Organisierung ist, begannen die Bauernorganisationen selbstverwaltete Kooperativen zu gründen. Seit der Ermordung von Lucio Cabañas 1974 war in Guerrero die Guerilla PROCUP-PDLP2 aktiv. Die Gruppe versuchte, wie die FALN in Chiapas, mit Angriffen auf das Militär und die Polizei bzw. mit Entführungen von Industriellen die Forderungen der Bauernorganisationen zu unterstützen.

Die städtische Linke organisierte sich zum grössten Teil in den verschiedenen marxistisch-leninistisch geprägten Gruppen und Parteien. Erst das Erdbeben am 19. Oktober 1985 gab den Anstoß für neue soziale Bewegungen. Das Beben mit der Stärke 7,5 zerstörte die meisten Ministerien und Verwaltungsgebäude, sowie den größten Teil der städtischen Infrastruktur. Es gab über 20.000 Tote. Die Zahl der Obdachlosen lag bei 40.000. Die Regierung zeigte sich von Anfang an unfähig, auf die Katastrophe zu reagieren. Die Zahlen der Opfer wurden offensichtlich gefälscht, internationale Hilfsangebote wurden abgelehnt und es verschwanden Hilfsmittel in den korrupten Kanälen der PRI. Bereits wenige Tage nach dem Erdbeben kam es zu den ersten Massenprotesten auf dem Platz der 3 Kulturen. Nachbarschaftsorganisationen organisierten sich gegen Spekulation und gegen den Abriss ihrer Wohngebiete. Die traditionelle Linke wurde quasi überrollt durch die massenhafte Organisierung von Selbst­verwaltungsstrukturen in großen Stadtgebieten, der movimiento urbano popular. Etwa 80 Prozent der Mobilisierungen wurde von Frauen getragen. Dieser “Trümmerfraueneffekt” gab unter anderem der mexikanischen Frauenbewegung erstmals ein stärkeres politisches Gewicht. Durch die massiven öffentlichen Proteste sah sich die Regierung gezwungen, zum Mittel der Enteignungen zu greifen. 7.000 Häuser in barrios populares, den Armenvierteln, wurden enteignet und der kommunalen Verwaltung unterstellt. Es wurde ein nationales Kreditprogramm verabschiedet, das günstige Kredite an Personen und Kooperativen vergab, die ihre Häuser wiederaufbauten. Landbesetzungen auf kommunalem Brachland wurden automatisch legalisiert, sobald die Besetzter sich Häuser auf das Land bauten. Andere wichtige neue sozialen Bewegungen, wie die Näherinnengewerkschaft begannen z.B. mit der Organisierung der Arbeiterinnen, die infolge des Erdbebens ihre Arbeitsplätze verloren hatten. In den asambleas de barrios organisierten sich die betroffenen Obdachlosen, die dort Selbsthilfe zum Wiederaufbau entwickelten.

2. Die Macht liegenlassen
Die neoliberale Politik3 seit Anfang der 80er Jahre bewirkte eine ökonomische Krise, die letztendlich zu einem bis heute anhaltenden Verfall der PRIistischen Macht führte. Bei den Präsidentschaftswahlen im Juli 1988 trat erstmals ein Oppositionskanditat an, der gute Chancen hatte, in großen Landesteilen die Wahl zu gewinnen: Cuauthemoc Cardenas4 . Er kam aus der PRI und wurde nun Spitzenkandidat des Parteienbündnisses Demokratische Nationale Front (FDN). Doch die PRI gewann, wie bei allen vorherigen Wahlen, mit einem Traumergebnis von 50,2 Prozent. Vorgestopfte Wahlurnen, Tote, die wählen gehen, frühzeitig beendete Auszählungen, tonnenweise Wahlzettel mit Stimmen für die Opposition auf den Müllhalden des Landes, verspätete Verkündung des Ergebnisses aufgrund eines angeblichen Zusammenbruchs des Computersystems. Es gab wohl kaum eine Methode des Wahlbetruges, die von der PRI ausgelassen wurde. Die Reaktionen in der Bevölkerung waren drastisch und eruptiv. Das erstemal seit 1968 bot sich die Möglichkeit eines gleichzeitigen Handelns der städtischen Linken und der oppositionellen Landbevölkerung. In Mexico-City waren Hunderttausende auf der Straße und forderten die Annullierung des offensichtlich gefälschten Ergebnisses. In Guerrero besetzten bewaffnete Bauern die Rathäuser und lieferten sich Schießereien mit den Sicherheitskräften.

“Es gibt einen Haufen Leute, die am 6. 7. politisch geboren wurden und die sich danach komplett in den politischen Kampf geworfen haben,” beschreibt ein Guerillero rückblickend. Die Bauernvereinigungen boten dem betrogenen Oppositionskandidaten an, “ihr Leben für die Verteidigung des Wahlergebnisses zu geben”, mit den Waffen in der Hand. Die Oppositionsführung lehnte jedoch eine gesellschaftliche Eskalation ab. Sie etablierte ein überbetont legalistisches Programm, das hauptsächlich als Abgrenzung zur kriminellen PRI-Politik verstanden werden muss. Carde­nas fasste seine Position zur ausser­parla­mentarischen Aktion nach den Wahlen wie folgt zusammen: “Wir müssen vorsichtig sein, um nicht Provokationen zum Opfer zu fallen.” An diesem Misstrauen gegenüber jeder Form von direkter Aktion hat sich bis heute nichts geändert.

“Die Linke, die sich der neocardenistischen Bewegung anschloss, bewahrte ihre Präsenz in der Massenbewegung unter Inkaufnahme eines schweren Identitätsverlustes”, stellte der Sozialwissenschaftler Enrique Semo im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1988 fest. Wie so häufig in der traditionell-patriarchalen politischen Kultur Mexikos stand und fiel die Bewegung mit dem Führer und dessen politischer Ausrichtung. Die Nachfolgerin der FDN wurde die Partei der demokratischen Revolution (PRD). Sie profilierte sich als Oppositionspartei in den Auseinandersetzungen um die Wahlfälschung und die Korruption des PRI-Systems und behielt den Legalismus als Programm. Den einfachen Mitgliedern der PRD auf dem Land, die ausserdem gewerkschaftlich oder in der Bauernbewegung aktiv sind, kostete dieses Engagement oft genug das Leben.

Die PRI-Regierung verschärfte in der folgenden Amtszeit ihr De­re­gu­lie­rungs­pro­gramm, dessen Hauptziel die Integration Mexikos in das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) war. Anfang 1992 erfolgte die Ankündigung der “Agrarreform”. Ihr Kernpunkt war die Auflösung und Privatisierung des ejido-Landes, einer weitverbreiteten Form des Gemeindeeigentums. Grund und Boden gehören dabei dem Staat, werden aber von der Gemeinde verteilt und sind nicht zu verkaufen oder zu verpachten. Ca. 40 Prozent der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche Mexikos waren ejido-Land. Normalerweise wurde es individuell bewirtschaftet – im Süden, in den indígena-Gemeinden, herrschten jedoch kollektive Nutzungsformen vor. Ein weiterer Punkt dieser neoliberalen “Reform” war das Ende der Landverteilung an die landlose Bevölkerung. Speziell in Südmexiko leben zum Teil ganze Dorfgemeinschaften auf Landstücken, deren Besitzverhältnisse nicht geklärt sind. 5 Millionen Anträge sollten nicht mehr behandelt werden. Gleichzeitig gab die PRI damit ein wichtiges Machtinstrument aus der Hand, da die Landschenkungen immer ein wichtiger Bestandteil ihres klientelistischen Systems waren. Der wesentliche Effekt der “Landreform” war jedoch ein Angriff auf die Subsistenzstrukturen, die den Bauern trotz minimaler Einkommen das Überleben sicherten und deren Zerstörung sie nun zu Landlosen und Tagelöhnern machte. Diejenigen, die weiter landwirtschaftlich produzieren konnten, wurden durch die Öffnung des Binnenmarktes der Konkurrenz der US-amerikanischen Agrarindustrie ausgesetzt, was die Monopolisierungstendenzen verstärkte und Vertreibungen von Kleinbauern zur Folge hatte. Bauernorganisationen bewerteten diese “Reform” als “die antirevolutionärste Regierungsmaßnahme der letzten 70 Jahre”.

Fast gleichzeitig mit der Ankündigung der NAFTA begann die Modernisierung der mexikanischen Armee. Dabei stockten die USA die direkte Waffenhilfe und die Ausbildungsprogramme massiv auf. Allein 1992 schickte die PRI-Regierung 392 Offiziere in ein internationales Trainings- und Erziehungsprogramm (IMET), bei dem Aufstands­bekämpfer aus lateinamerikanischen Ländern US-Militärschulen durchlaufen. Schon ab 1990 bekam Mexiko, nachdem es 40 Jahre davon ausgeschlossen war, massiv Mittel aus dem militärischen Beistandsprogramm (MAP) der USA. Zwischen 1991 und 1994 schaffte das mexikanische Heer fast ausschliesslich Waffen zur Aufstandsbekämpfung an: Hubschrauber, kleine Amphibien-Panzerfahrzeuge, tragbare Granat- und Raketenwerfer, Fallschirmjägerausrüstungen und Waffen mit Nachtsichtgeräten und Laser-Zielhilfen.

3. Nach dem Aufstand …
Tatsächlich wusste die Regierung, was sich in Chiapas entwickelte. Drei Tage nach Beginn des Aufstandes erklärte das Innenministerium, dass es Kenntnis von 15 Ausbildungslagern der Guerilla hatte. Zusammenstösse zwischen Armee und unbekannten Bewaffneten hatten 1992/93 zugenommen. Später wurde bekannt, dass eine grosse Armeeoffensive für März ’94 geplant war. Aber die Zapatisten wussten wohl, dass die Regierung wusste … und so brach der Aufstand, der Mexiko wortwörtlich im Schlaf überraschte, in der Nacht zum 1. Januar 1994 los.

Nach mehreren Tagen zog sich die EZLN aus den über 17 Ortschaften, die sie besetzt hatte, geordnet zurück und wich der deutlichen Übermacht von 17.000 Soldaten. Nicht zuletzt aufgrund der grossen Solidaritätsmobilisierungen in der Hauptstadt kam es bereits im März zu einem Abkommen, dass es der Armee verbot, weiter in die Gebiete der EZLN vorzudringen. Noch während der Gefechte mit der EZLN hatte die Regierung auch in andere südliche Bundesstaaten – Guerrero und Oaxaca – Militär verlegt, wahrscheinlich um eventuellen Erhebungen dort vorzubeugen. Seit dem Waffenstillstandsabkommen verfolgt die PRI in den südlichen Bundesstaaten ein Programm, das von der unmittelbaren militärischen Repression bis zur banalen Desinformation alle Ebenen der counter insurgency und Destabilisierung umfasst.

Am 9. Februar 1995 brach die Regierung das mit der EZLN ausgehandelte Abkommen und die Armee besetzte 152 Dörfer, aus denen sie sich im März zwar teilweise wieder zurückzog, aber nur bis an die Dorfgrenzen. Bis September 1999 wurden 250 Militärposten neu gebaut, die zumeist an den Strassen unmittelbar vor den Ortseingängen gelegen sind. Die Folgen dieser Stationierungen sind ein sprunghafter Anstieg von Vergewaltigungen und (Zwangs-)Prostitution, Drogen- und Waffenhandel.

Während der Besetzung wurde in den zapatistischen Gemeinden alles Lebensnotwendige zerstört – Felder wurden abgebrannt, Saatgut vernichtet, Brunnen vergiftet und Wasserleitungen zerhackt. Das Vieh wurde von der Armee, zum Teil unter Aufsicht der Großgrundbesitzer, weggetrieben. Mit den Vertreibungen der Bewohner wurde eine riesige Welle innerchiapanekischer Migration in Gang gesetzt. Die Geflüchteten lebten monatelang in den Bergen, wo sie bei ungünstigsten klimatischen Bedingungen nichts weiter besaßen ausser dem, was sie tragen konnten. Die Verantwortung für ihre Versorgung übernahm die EZLN, die als relativ kleine Organisation bald mit nichts anderem mehr beschäftigt war – was wohl auch eines der Ziele der Vertreibungen war und ist.

Nach der militärischen Besetzung trafen sich die Regierung und die EZLN in San Andrés zu ersten Gesprächen, die einen Verhan­dlungs­prozess einleiteten, der 1996 mit den Verträgen von San Andrés endete. Die konkrete Umsetzung der Verträge wird jedoch bis heute ergebnislos eingefordert. Rückblickend lässt sich feststellen, dass die EZLN mit den Verhandlungen hauptsächlich auf eine Mobilisierung der mexikanischen und der internationalen Zivilgemeinschaft durch die Verbreitung ihrer Forderungen setzte, was als ein gewisser Schutz gegen militärische Massnah­men erschien. Die Regierung war ihrerseits in erster Linie daran interessiert, vor der Öffentlichkeit als „verhandlungsbereit“ zu erscheinen, um so die Hände für niedrigschwellige Bekämpfungsmassnahmen freizubekommen und Zeit zu gewinnen.

Die EZLN versuchte mit verschiedenen Initiativen, den Verhandlungsprozess auf die Gesellschaft zu erweitern, indem sie nationale und internationale Beratungen organisierte, und zu jeder Verhandlungsrunde Tausende von indígenas mobilisierte. Die Wirkung auf die Gesellschaft war durchaus beeindruckend. Die verschiedensten Spektren der Linken in und um die PRD, die nach der Niederlage von 1988 zunehmend an Initiative verloren hatten, wurden aus der Untätigkeit gerissen. Mit der Gründung des CND – Demokratischer Nationalkonvent im August 1994 hatte die EZLN ein grosses Bündnis aller oppositionellen Gruppen angeregt. Dieses Bündnis erwies sich wegen allzu unterschiedlicher Interessen der darin organisierten Gruppen jedoch schnell als nicht arbeitsfähig. So kam es im März 1996 zur Gründung der FZLN. Die Frente Zapatista versuchte die Solidaritätsarbeit und die Organisation der gesellschaftlichen Diskussion zu verbessern. Die Vorstellung der Gründungsmitglieder war, dass “der Beitritt eine individuelle Entscheidung ist. Aber Bauernorganisationen, Nachbarschaftsgruppen und andere Organisationen der Volksbewegung, die von Anfang an die EZLN solidarisch unterstützt haben, sollten nicht ausgeschlossen werden.” Die Führung der EZLN entschied sich jedoch gegen diese Doppelmit­glied­schaften. Was als ein Schutz gegen korpora­tistische Strategien der PRI gedacht war und aus der Erfahrung mit dem CND durchaus sinnvoll erschien, erwies sich jedoch schnell als Blockade für die Frente, da sich so ausschliesslich Unterstützer organisieren konnten, die selber kaum über soziale Erfahrung verfügten. So wurde die FZLN schnell zu einer Organisation radikaler studentischer Kader und ihre Wirkung auf die gesellschaftliche Diskussion blieb eher marginal. Die FZLN entwickelte sich zu einer von vielen Soli­daritäts­initiativen. Das Hauptproblem dieses an sich sehr breiten Spektrums war und ist jedoch der gnadenlose Legalismus und das Festhalten am status quo zwischen den Aufständischen und der PRI-Diktatur, um einen offenen Krieg zu verhindern. Die Beteiligten blieben fixiert auf einen angeblich drohenden Vernichtungsschlag gegen die EZLN und reduzierten sich auf Forderungen nach einer Fortsetzung der “Verhandlungen” bzw. später nach der Umsetzung der Verhandlungsergebnisse von San Andrés. Dabei entwickelten sich in der Solidaritätsbewegung weder eigene gesellschaftspolitische Vorstellungen noch eigene Aktionsformen. Mit ihrer Ausrichtung auf eine Anti-Gewalt- und Friedensrhetorik blieb sie eine rein defensive Kraft.

Die Regierung erwies sich ihrerseits als sehr geschickt bei der Verzögerung der Verhandlungen. Es ging von vornherein um angeblich überhöhte Forderungen durch die Zapatisten. Es wurden z.B. Sicherheitsgarantien für die Regierungsdelegation verlangt bzw. immer wieder die fehlende Verhandlungsbereitschaft der anderen Seite betont. Insbesondere dienen der PRI die nationalen Medien als ein wichtiges Instrument in der Auseinandersetzung um die öffentliche Meinungsbildung. So liefen im Fernsehen permanent Kampagnen gegen die verschiedenen Verhandlungsbeteiligten, z.B. gegen Samuel Ruíz5 . Die “soziale Hilfe” durch das Militär wurde ein täglicher Punkt der Berichterstattung und als Erklärung für den Konflikt wurden “ethnische Konflikte” zwischen indígena-Gruppen in den Mittelpunkt gestellt. Dieser Erklärungsansatz stiess in der rassistisch gespaltenen, mestizischen Gesellschaft auf weitgehende Akzeptanz. Auffällig ist jedoch, dass die Regierung nach diversen Scheingefechten auf jeden Forderungspunkt der EZLN einging. Wenn es allerdings um die reale Machtsituation in den aufständischen Gebieten ging, entwickelte die Regierung neben dem spektakulären Verhandlungs-Ping-Pong eine ruhige, ja nahezu unauffällige, mörderische Politik des roll-back. Schon mit Verhandlungsbeginn liess die Regierung zahlreiche fincas räumen, die im Zuge des Aufstandes besetzt worden waren. Die Begründung lautete, es müsse „Ruhe für die Verhandlungen“ hergestellt werden. Noch während der militärischen Besetzung begann die Armee, mit Todesschwadronen (guardias blancas) zusammenzuarbeiten. Sie konnte dabei auf die Unterstützung der Großgrundbesitzer und kaziken rechnen, die schon immer ihre Privatarmeen gegen die campesinos unterhalten hatten. Aus diesen Gruppen konstituierten sich paramilitärische Verbände, die mit finanzieller Unterstützung der PRI begannen, oppositionelle Bauern aus den von ihnen kontrollierten Gemeinden zu vertreiben bzw. zu ermorden. Zum Teil wurden auch ganze Dörfer, die sich nicht eindeutig auf die Seite der PRI stellten, angegriffen. Höhepunkt dieser alltäglichen Verfolgungspraxis wurde das Massaker in Acteal, einem kleinen Dorf im Nordosten von Chiapas. Dort lebte eine grosse Gruppe von Flüchtlingen, die bereits vorher vertrieben worden waren, zusammen mit der zivilen zapatistischen Basis. Im Dezember 1997 überfiel eine paramilitärische Gruppe aus einem Nachbardorf mit Unterstützung der Polizei Acteal und ermordete 47 Menschen, in der Mehrheit Frauen, Kinder und Alte. Diese Praxis des paramilitärischen Terrors folgt nicht immer einem zentralen Befehl. Jedoch beweist die prinzipielle Straflosigkeit für die paramilitärischen Gewalttäter die Unterstützung, die sie durch die Regierung geniessen. Darüber hinaus wurde kurz nach dem Massaker von Acteal durch die angesehene Wochenzeitung El Proceso ein geheimes Strategiepapier des mexikanischen Heeres veröffentlicht, das 1994 kurz nach dem Aufstand in Chiapas entstanden war. Darin wird minutiös der notwendige Aufbau und die Finanzierung der paramilitärischen Gruppen beschrieben. Durch das Militär und das staatliche “Projekt nationaler Solidarität” (PRONASOL) wurden medizinische Behandlungen, Medikamente, Lebensmittel und Wellblech verteilt. Es fand eine beachtliche Kanalisation öffentlicher Gelder in “Sozialprogramme” statt, allerdings nur für PRI-Unterstützer wie Paz y Justicia, ein Dachverband von PRI-Anhängern, der inzwischen jedoch eine Organisation zur Koordinierung der verschiedensten paramilitärischen Aktivitäten ist. Mit den Geldmitteln wurden zum einen die Loyalität der PRIistas gesichert und ausserdem Waffen gekauft. In den vorher schon extrem autoritär geführten PRI-Gemeinden wurden nun militärische Regime errichtet, Zwangsrekru­tierungen und Zwangsarbeit durchgesetzt und die Dörfer zu einem Ring von Wehrdörfern um das zapatistische Gebiet herum ausgebaut.

Der gesamte Verhandlungsprozess wurde flankiert von willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und der Ermordung oppositioneller Bauern durch die paramilitärischen Gruppen – und das nicht nur in Chiapas, sondern in allen südlichen Bundesstaaten, vor allem in Oaxaca und Guerrero.

4. … die Guerillas
Allein in Guerrero sind zwischen 1995 und 1998 207 Aktivisten der PRD von Paramilitärs ermordet worden. Die meisten von ihnen waren ausserdem in den Bauern- und Indígena-Organisationen wie der Unión de Comuni­dades Indígenas de la Montaña (UCIM) oder der Organización Campesina de la Sierra del Sur (OCSS) aktiv. Die OCSS war im Januar 1994, also fast gleichzeitig mit dem zapa­tistischen Aufstand in Chiapas entstanden. Auf dem Weg zu einer Protestdemonstration gegen die Ermordung eines Mitstreiters fingen Sicherheitskräfte einen Autokonvoi der Organisation ab und ermordeten 17 Bauern. Überlebende Mitglieder der Organisation wurden unmittelbar nach dem Massaker von der Polizei verhaftet. Das war am 27. Juni 1995 in Aguas Blancas.

Genau ein Jahr später, während einer Gedenkveranstaltung an das Massaker, traten dort 100 Bewaffnete auf und verlasen eine Erklärung, in der sie zur Bildung von Volkstribunalen aufriefen, um die Verantwortlichen endlich zur Verantwortung zu ziehen. Die anwesenden 2.000 Bauern applaudierten und der örtliche Pfarrer soll sie mit dem Ausruf: “Endlich!” umarmend begrüsst haben. Dies war der erste Auftritt der EPR. Die Reaktionen auf die neue Organisation waren sehr unterschiedlich. Die Regierung sprach von “Terrorismus” und kündigte eine verschärfte Repression an. Oppositionsführer Cardenas, der auf der Gedenkveranstaltung anwesend war, verschwand umgehend und sprach von einer “Provokation” und die städtische Linke stellte Mutmaßungen über eine neue PRI-Intrige an, die das Ziel hätte, die “Verhandlungen von San Andrés” endgültig zu beenden. Auch der Subcomandante Marcos schien in diese Richtung zu argumentieren, als er die Aktion als “propagandistischen Hinterhalt” bezeichnete und meinte: “Die Neuankömmlinge müssen erst ihre Legitimität unter Beweis stellen.” Nachdem sich die Verschwörungstheorien wieder gelegt hatten und von seiten der EPR klargestellt worden war, dass sie sich für ihr Auftauchen bei niemandem entschuldigen werden, konzentrierte sich die Kritik aus der Linken im wesentlichen auf den ML-Hintergrund (z.B. die Theorie des verlängerten Volkskrieges) und die Geschichte der PROCUP-PDLP in den 70er und 80er Jahren. Das speziell die “Urwaldnachtigall” Marcos in dieser für ihn ungewöhnlichen Schärfe reagiert hat, kann aber auch im Zusammenhang mit Gerüchten stehen, nach denen sich ein Teil der EZLN aus Protest gegen die Wiederaufnahme der Verhandlungen von der Organisation getrennt habe und zur EPR übergetreten sei.

Die Bauernbewegungen in der Region selber schienen jedoch eine differenziertere Meinung zu vertreten: “Wir haben nichts mit ihnen zu tun, aber wir respektieren sie, denn sie machen sich auch die Forderungen der indigenen Bevölkerung zu eigen. Es sind soziale Aktivisten, wie wir auch, aber auf anderen Wegen.”

Bereits im Mai 1995 war der Zusammenschluss von verschiedenen revolutionären Organisationen um die PROCUP-PDLP zur EPR erfolgt. Unmittelbar danach, im März und im April, wurden in Mexico-City der Hauptaktionär der Nationalbank und ein Besitzer einer Supermarktkette entführt. Im August 1996 schliesslich, einen Monat nach dem ersten öffentlichen Auftritt, begannen in Oaxaca und Guerrero Aktionen gegen das Militär und die judiciales, die Bundespolizei, bei denen bereits in den ersten drei Monaten über 70 Soldaten und Polizisten getötet wurden.

“Wir haben 20 Jahre Arbeit hinter uns, mit Leuten, die verhungern. Aguas Blancas hat diesen Prozess beschleunigt. Die soziale Basis wollte von uns wissen: ‚Was machen wir jetzt?‘ und wir haben geantwortet: ‚Hier sind wir‘”, beschrieb ein EPRista im Januar 1998 den Organisationsprozess. “Wir glauben, dass der bewaffnete Kampf allein den Umschwung nicht herbeiführen kann. Alle Formen des demokratischen, pazifistischen, parlamentarischen Kampfes sind notwendig. Doch in Anbetracht der Situation in Mexiko bedarf es auch bewaffneten Drucks.“

Tatsächlich spielte die ML-Ideologie in den Erklärungen der EPR immer weniger eine Rolle, sondern die Situation der Bevölkerung, und ein positiver Bezug auf die EZLN stehen zunehmend im Mittelpunkt der Äusserungen. Wenige Monate später wurde die endgültige Trennung eines grossen Teils der Organisation von ihrem “Überbau” bekannt. Auch hier war der traurige Anlass wieder ein Massaker der Sicherheitskräfte. Am 17. Juni 1998 griff die Armee in el Charco, einem Dorf an der Pazifikküste, die Schule an und ermordete elf indígenas, in der Mehrheit Dorfbewohner, die dort angeblich ein Treffen mit der EPR hatten. Die Guerilla reagierte unmittelbar und legte fünf Tage später einen Hinterhalt gegen die Armee und am 4. Juli griff sie eine Patrouille der judiciales an. Unter der folgenden Erklärung stand aber nicht, wie erwartet worden war, EPR, sondern revolutionäre Armee des aufständischen Volkes (ERPI).

Zu den Gründen der Trennung von der EPR sagte einer der comandantes im August 1998: “Die Differenz bezieht sich auch auf den Abstand, den es zwischen den höheren Instanzen der Führung und den Vorstellungen der Bevölkerung gab. Es ist so, dass es eine Entfremdung der compañeros gab, weil sie seit langer Zeit nicht mehr in den Gebieten waren, nicht mehr mit den Familien der Menschen konfrontiert waren, die die politische Gewalt hinterlassen hat. Damit zusammen hängen auch die Differenzen, die es um die Konzeption der Selbstverteidigung gab. In vielen Gemeinden gab es die Forderung nach einer Antwort auf die Aggressionen, unter denen sie zu leiden hatten. … Wir schlugen (der Führung) vor, auf die Repression, die sich gegen die Gemeinden entwickelte – Geschlagene, Verschwundene, Gefolterte, Erschossene – zu antworten. Trotzdem bekamen wir nicht die Erlaubnis, Aktionen durchzuführen. An diesem Punkt sagten wir den compañeros, dass sie eigene Wege gehen müssen”. Seit ihrer Entstehung – zunächst bestand die Organisation nur aus der ehemaligen EPR des Bundesstaates Guerrero – hat sich die ERPI schnell in den an Guerrero angrenzenden Bundesstaaten ausgebreitet. Einer der zentralen Punkte ist dabei das Konzept der Selbstverteidigung, das bedeutet, dass militärische Aktionen nur auf ausdrücklichen Wunsch der jeweiligen Gemeinden stattfinden. Das gibt den Aktionen in der Regel den Charakter von Vergeltungsaktionen für vorangegangene Repressionsmaßnahmen gegen soziale Aktivisten. Neben diesem Mandat der Gemeinden im bewaffneten Kampf spielt im Konzept der ERPI die Möglichkeit eines allgemeinen Aufstands eine zentrale Rolle. Aus der Erfahrung mit dem lokalen Aufstand nach dem Wahlbetrug 1988 und dem zapatistischen Aufstand 1994 setzt die ERPI stärker auf eine Massenbewegung als die EPR. Damit existieren drei grössere Guerillaorganisationen in Mexiko – EZLN, ERPI und EPR. Auch die EPR besteht weiter und verfolgt nach wie vor das Konzept des verlängerten Volkskrieges, das heisst, des langsamen und “ideologisch gefestigten” Aufbaus. Im August 1998 griff die EPR z.B. in sechs Bundesstaaten (Tabasco, Guanajuato, Guerrero, estado de México, Chiapas und Oaxaca) das Militär an. Das Ergebnis waren 15 Tote und 14 Verletzte in den Reihen des Militärs.

Die EZLN wiederum scheint sich selber weiterhin als ein rein chiapanekisches Projekt zu definieren, obwohl sie selbst in Chiapas unter dem andauernden paramilitärschen Terror an Boden verliert. Während die anderen beiden Guerillaorganisationen in unterschiedlicher Art und Weise auf militärische Intervention setzen, setzt die EZLN in erster Linie auf diskursive Intervention. Neben den regelmäßigen Meinungsäusserungen des “Sub” war es im letzten Jahr vor allem die consulta nacional, mit der die Zapatistas die mexikanische Öffentlichkeit bewegten. Im März 1999 schickte die EZLN 5.000 Delegierte in 2.500 Landkreise Mexikos, um eine Volksabstimmung durchzuführen. 3 Millionen Mexikaner beteiligten sich an der Abstimmung, bei der vier Fragen zur Umsetzung des Abkommens von San Andrés gestellt wurden. 95 Prozent der Befragten äusserten sich zustimmend. Trotz des Boykotts der grossen Medien wurde die Umfrage im allgemeinen als ein Erfolg für die EZLN bewertet, wobei dieser politische Erfolg die Regierung in keinster Weise daran hinderte, mit der Auflösung der autonomen zapatistischen Gemeinden fortzufahren. Bereits zwei Wochen nach der consulta liess die Regierung ausgerechnet die zapatistische Gemeinde San Andrés, die Sitz der “Friedensverhandlungen” und Namensgeber für den dort ausgehandelten Vertrag war, durch Polizei, Militär und bewaffnete PRIistas räumen. Die Regierung machte damit mehr als deutlich, dass sie “se caga en los acuerdos” – auf die Verträge scheisst. In der Räumung drückt sich das ganze Dilemma der Zapatisten aus, die nicht in der Lage sind, ihre allgemeinen politischen Erfolge in konkrete Ergebnisse zu verwandeln. Die einzigen, die eher indirekt von den politischen Beiträgen der EZLN profitieren, sind die ERPI und die EPR, die sich trotz unterschiedlicher Ideologien auch strukturell weiter ausbreiten.

In diesem Jahr gab es erste Anzeichen dafür, dass es zwischen diesen ungleichen Schwestern eine gewisse Annäherung gibt. Zunächst hatte die EZLN im März anlässlich der consulta nacional sowohl die beiden anderen Guerillaorganisationen als auch “alle revolutionären politisch-militärischen Organisationen Mexikos” höflich um Erlaubnis gebeten, auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten Umfragen machen zu können. Im Herbst 1999 kam es zu einem ersten offiziellen Austausch zwischen EPR und ERPI, zwischen denen seit der Trennung Funkstille geherrscht hatte. Anlässlich der Verhaftung einiger angeblicher Führungsmitglieder der ERPI versicherte die EPR den ehemaligen compañeros ihre Unterstützung und Solidarität.

Ausser diesen drei Organisationen registrierte die Bundespolizei 81 bewaffnete revolutionäre Gruppen in den letzten Jahren. Zwar waren es in der Mehrzahl temporär beschränkte Aktivitäten oder sogar nur eine Erklärung, aber es ist vorstellbar, dass diese Bekanntmachungen nur der Vorlauf für den Anschluss an eine der drei “grossen” sind6 .

Zur Ausbreitung von ERPI und ERP sagte Tello Peón, Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, im September 1999: “Hauptsächlich Guerrero, Oaxaca, Valle de Mexico, Puebla, Teile von Huasteca – dort haben wir eine Klarheit über angeschlossene Gruppen”. In der Hauptstadt, Distrito Federal (DF), habe es Attentate gegeben, dort seien Erklärungen und Zeitschriften verteilt worden und Studenten der Universität UNAM seien an dem “Zwischenfall” in el Charco beteiligt gewesen. Ausserdem gebe es in Tamaulipas, Nuevo León und Chihuahua Projekte, um neue Zellen zu bilden. Zusammen mit den oben im Zusammenhang mit der EPR genannten sind es insgesamt 11 von 31 Bundesstaaten, in denen die Guerrilla sich in den letzten vier Jahren etabliert hat und die zum Teil von ihr kontrolliert werden.

Die Regierung reagierte im letzten Jahr mit einer Umbildung der Bundespolizei und setzt auch weiterhin nicht, so zumindest Tello Peón, auf eine unmittelbare Konfrontation: “Länder wie unseres”, erklärte er, “müssen eher über einen Prozess der permanenten Eindämmung reden als über einen Prozess der Vernichtung.” Er erklärte auch, wo er dabei ansetzen wird. Die Bundespolizei (PFP) hätte legale Möglichkeiten, “um die mögliche Existenz von Waffen unter den Streikenden der UNAM zu untersuchen”, heisst es kryptisch. In Mexico-City war es im letzten Jahr vor allem der unbefristete Streik an Lateinamerikas grösster Universität, der die städtische Linke bewegt hat. Der Streik begann aus Protest gegen die geplante Privatisierung von Teilen des Bildungswesens und gegen die geplante Einführung von Studiengebühren. Ausser­dem, so Peón weiter, würden gegenwärtig die möglichen Beziehungen zwischen Guerilla und sozialen Organisationen untersucht. Eine Woche bevor das Interview mit dem Staatssekretär stattfand, hatte der Chef der Bundespolizei in diesem Zusammenhang mehrere Bauernorganisationen, u.a. die OCSS, benannt. Der Ex-Direktor des Planungszentrums für Drogenkontrolle und ehemalige Chef des Zentrums der Untersuchung und der nationalen Sicherheit (CISEN) führte in dem Interview mit der Wochenzeitung El Proceso weiter aus: “Ich glaube, dass sich in diesen Zonen, in denen es tatsächlich Drogenhandel gibt, die Guerilla und der Drogenhandel effektiv verbinden werden – wie in Kolumbien”.

Wenn man diese Meinungsäusserungen ernst nimmt, ist von einer weiteren “Kolum­bianisierung” des Konfliktes auszugehen, d.h. im Vordergrund wird weiterhin der staatliche Terror gegen soziale Aktivisten auf dem Land und in Mexico-City stehen, während auf dem Land darüber hinaus militärische Operationen unter dem Deckmantel der Drogenbe­kämpfung durchgeführt werden. Die Tarnung als Drogenbekämpfung erfüllt dabei in der Aufstandbekämpfung zwei wichtige Funktionen in der Öffentlichkeit: Zum einen die Delegitimierung der Aufständischen und zum anderen die Negierung des sozialen Konfliktes auf internationaler Ebene. Ausserdem erhält diese Argumentation ihren Sinn durch die Drogenpolitik der USA, die Drogenbekämpfung auf dem gesamten Kontinent als Innenpolitik definieren, und dafür, im Gegensatz zu direkter militärischer Unterstützung, enorme ökonomische und logistische Hilfestellungen leisten kann.

5. Epilog
Wie es in unmittelbarer Zukunft weitergeht, ist natürlich offen. Sicher ist nur, dass die Präsidentschaftswahlen am 1. Juli 2000 eine wichtige Rolle spielen werden. In den letzten Monaten hat sich die PRI, zumindestens in den Umfragen, wieder stabilisiert und auf Seiten der Opposition sieht es bisher nicht eben gut aus. Die PRD hat eine Reihe von internen Streitigkeiten hinter sich und tatsächlich versucht, gemeinsam mit der fundamentalistisch-katholischen PAN ein Oppositionsbündnis aufzustellen. Zusammen mit einigen lokalen Korruptionsskandalen ist nun der “erste Lack” abgeblättert.

Entscheidend wird sein, wie sich die außerparlamentarische Opposition verhält, und zumindest die ERPI und die EPR haben angekündigt, dass sie diese Wahlen als einen zentralen Punkt in der weiteren mexikanischen Geschichte betrachten. Bereits in den letzten Kommunalwahlen hatte die ERPI offen für die PRD mobilisiert und war sogar bewaffnet im Acapulco aufmarschiert, um dem dortigen frischgewählten PRD-Bürgermeister persönlich zu gratulieren.

Unabhängig davon, ob die PRD die Wahlen verlieren bzw. wie offensichtlich der Wahlbetrug sein wird, werden die Guerillagruppen eine Niederlage der PRD nicht einfach hinnehmen. “1968 hatten wir nicht die Kapazitäten, um die Ereignisse zu beeinflussen und die Gelegenheit war vorbei; 1988 – Zwanzig Jahre später! – hatten wir ebenfalls nicht die Kapazitäten und, das ist das Schlimmste, nicht einmal eine ausreichende Vision, um an der Seite der Bevölkerung zu marschieren und den Wechsel zu erreichen; 1994 hatten wir sie nicht, obwohl die Bedingungen weniger ungünstig waren; Werden wir sie 2000 haben? Es wäre schade, wenn nicht, und wenn es so wäre: Wann werden wir bereit sein?” (Aus einem ERPI-Papier)

1 praktisch aber auch immer der Abhängigkeit vom großen Nachbarn Rechnung getragen hat
2 Sie verfolgte ebenfalls eine maoistische Linie.
3 wie die Privatisierung von Staatsunternehmen, Haushaltskürzungen, strikte Senkung der Inflationsrate
4 Sohn des legendären Präsidenten Lazaro Cardenas, während dessen Amtszeit die transnationalen Konzerne enteignet und die Erdölvorkommen nationalisiert worden waren und der auch einen wichtigen Teil der Agrarreform durchgeführt hatte.
5 Bis 1999 war er Bischof von San Cristóbal und Vermittler bei den Friedensverhandlungen der EZLN und der Regierung.
6 Ein typisches Beispiel ist das Auftauchen eines “aufständischen Campesino-Kommandos” in Ometepec im März 1999. Die Gruppe erklärte, dass die Gemeinden, aus denen sie kommen, sich dem bewaffneten Kampf anschliessen. Kurz vorher hatte die ERPI in den gleichen Gemeinden Aktionen der bewaffneten Propaganda durchgeführt und die EZLN war mit ihren “Friedensbotschaftern” dort gewesen. Die Erklärung der neuen Gruppe schloss mit den Worten. “Wir solidarisieren uns mit unseren compañeros der bewaffneten Gruppen ERPI, EPR und EZLN, um unsere Kräfte zusammenzuschliessen”.

Weiterführende Literatur:
Dario Azzellini, Boris Kanzleiter (Hrsg.): Nach Norden, Mexikanische Arbeitsmigranten zwischen neoliberaler Umstrukturierung, Militarisierung der US-Grenze und amerikanischem Traum; Verlag der Buchläden Schwarze Risse Rote Straße
Lateinamerika Nachrichten: Gneisenau Strasse 2a; 10961 Berlin
POONAL: www.berlinnet.de/poonal
EZLN: www:ezln.org

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