Nichts Neues im Osten

Eine Buchbesprechung zum 6. Weißbuch von Andrej Holm
(Aus telegraph #100)

Kein Aufruf zum Aufstand, keine überraschenden Einschätzungen und trotzdem ein Buch mit hohem Gebrauchswert: Das Weißbuch „Enteignung der Ostdeutschen“, inzwischen das sechste seiner Art, herausgegeben von der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde1 .

In den gut 500 Seiten werden ökonomische, rechtliche und soziale Folgen des Anschlusses als Enteignung beschrieben. Enteignung verstanden im doppelten Wortsinn von Raub des Sachvermögens und als Zerstörung von Selbstbestimmung. In systematischen und generalisierenden, aber auch exemplarischen Beiträgen wird versucht, die Bandbreite von Motiven, Formen und Folgen der Enteignung aufzuzeigen.

So verweist Ralph Hartmann auf die Kontinuität einer bundesdeutschen Wiedervereinigungspolitik, die von Beginn an auf die Zurückgewinnung des im Osten verlorenen Besitzes zielte. Die Geschichte des „Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung“ zeigt, dass seit den 50er Jahren die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse in der DDR genauestens beobachtet und analysiert wurden, um mögliche Strategien einer Reprivatisierung zu entwerfen. Ende 1960 verabschiedete der Forschungsbeirat ein Dokument unter der Überschrift „Empfehlung zur Einfügung der ‚volkseigenen‘ Industriebetriebe der SBZ in die nach der Wiedervereinigung zu schaffende im Grundsatz marktwirtschaftliche Ordnung“ verabschiedet. Im Dritten Tätigkeitsbericht des Beirats 1961 wurde unbeeindruckt vom Mauerbau die Struktur einer „Oberen Behörde“ vorgestellt, der im wesentlichen die spätere Treuhandanstalt entsprechen sollte. Auch wer Interesse an noch größeren historischen Zusammenhängen hat, kann auf seine Kosten kommen: der erste Leiter des Beirates und Vorsitzende des Verwaltungsrates der Berliner Zentralbank war niemand anderes als Dr. Friedrich Ernst, vormaliger Reichskommissar für die „Verwaltung feindlichen Vermögens“.

Erich Buchholz geht der juristischen Genese des Einigungsvertrages auf den Grund und konstatiert die Festlegung eines Sonderrechtes für Ostdeutschland, mit dem der „Raub des Volksvermögens” legitimiert wird. Zwei Punkte sind dabei besonders bemerkenswert: zum einen hätte – zumindest nach den Buchstaben des Gesetzes – das Volkseigentum mit dem Ende der DDR-Staatlichkeit in die „abschließende Verfügung ihrer Eigner“, also den Bürgern des Landes übergeben werden müssen, zum anderen werden die Vertragsverhandlungen als „praktisch mit sich selbst beschlossen“ beschrieben, da die Berater aus dem Westen die Übergabemodalitäten von DDR-Institutionen praktisch selbst erarbeiteten. Mit umfangreichem Quellenmaterial von Gesetzen, Gesetzesentwürfen und Verordnungen versehen, gibt der Text zudem einen guten Einblick in die Fülle von z.T. verschieden interpretierbaren Verfahrensregelungen, die zumindest für ostdeutsche Laien ein „dämonenhaft wirkender Rechtskoloß“ war.

Eine Reihe von Beiträgen beschreibt für bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche, wie die Enteignung organisiert wurde und welche Folgen sie hatte. Dabei – das ist ein zentraler Punkt im Buch – werden nicht nur die Verluste, sondern auch die Verteilung von Gewinnen bilanziert. So führte die Privatisierung des industriellen Vermögens zur „Degenerierung der ostdeutschen Wirtschaft zur Filialökonomie“ und sicherte zugleich 1,5 bis zwei Millionen Arbeitsplätze im Westen, die die dadurch zusammengebrochene Versorgung des Ostens gewährleisteten. Auch die Förderung der ostdeutschen Wirtschaft soll – so jedenfalls das zitierte Handelsblatt am 3.4.1996 – zu 80 Prozent an Westunternehmen zurückgeflossen sein. Damit kann der Anschluß in seinen Folgen nicht nur als Ost-West-Vermögenstransfer, sondern zudem als Umverteilung von Unten nach Oben angesehen werden. Ob es sich um die Übernahme fast des gesamten Handelsnetzes in Ostdeutschland oder des Außenhandelsmarktes Osteuropa, die Flächenprivatisierung der Landwirtschaft oder Rentenungerechtigkeit handelt, in allen Fällen materialisieren sich die Bedingungen der Fremdbestimmung. Dieser Zustand wird als „neokolonial“ beschrieben: kolonial, weil neue Machtverhältnisse etabliert und Gewinne abgeschöpft werden, neo, weil zugleich Bedingungen einer effektiven Kapitalverwertung geschaffen und gesichert werden. In diesem Sinne wird der Anschluß an die Bundesrepublik auch als „Bereicherungsprogramm für die westdeutsche Elite“ bezeichnet: für die 15.000 Beamte, die zum Aufbau der neuen Verwaltungen und zur Übernahme der Universitäten in den Osten zogen, wurden allein bis 1998 ca. 30 Mrd. DM an Lohnkosten ausgegeben. Angesichts der speziell eingerichteten Arbeitsräume kommt man schnell zu dem Ergebnis, dass Gelder in der Höhe eines Nettojahrestransfers vom Aufschwung Ost ausschließlich dem „Wohlleben der westdeutsche Satrapen“ diente…

Die Darstellung der politischen Macht- und der ökonomischen Verteilungsverhältnisse zwischen Ost und West sind eindeutig. Die historische Revanche der Reprivatisierung hat – so Wolfgang Richter im zentralen Beitrag des Buches – eine dreifache Funktion. Die Auflösung von Volkseigentum ist „Expropriation der unmittelbaren Produzenten“ und damit Voraussetzung für den Kapitalismus. Zugleich dient sie der „Befriedigung eines unmittelbaren Profitinteresses“ und ist als Garant für eine auf Dauer gestellte Abhängigkeit ein „Instrument der Herrschaftsstabilisierung“..

Trotz dieser klassenanalytischen Einschätzung der Lage wird der geschichtspessimistische Weg der Integration angestrebt: „Es gab keinen Aufstand Ost und es wird vermutlich absehbar keinen geben. Die Ostdeutschen werden sich auf ein Leben langwierigen und zähen Ringens um ihre Rechte einstellen müssen.“ Wie dieses Ringen aussehen kann wird am Beispiel des Rentenunrechts und am „Kampf“ der PDS um ihr Parteivermögen exemplarisch beschrieben – wirklich zäh. Insofern ist das Weißbuch tatsächlich ein Weißbuch. Es werden Fakten präsentiert, aber keine Strategien entwickelt – das Buch ist ein ausgezeichnetes Nachschlagewerk und ein schier unerschöpfliches Reservoir an Informationen, Zahlenmaterial und kleinen Geschichten. Ein politischer Diskussionsbeitrag ist es nicht. Die Texte sind rückblickend, beschreibend und anklagend. Viel Wind in den Segeln, aber keine volle Fahrt.

Richter, Wolfgang (Hrsg.) 1999: Unfrieden in Deutschland 6. Weißbuch Enteignung der Ostdeutschen. ISBN 3-932725-60-3

1 Die Gesellschaft für Bürgerrechte und Menschenwürde (GBM) hat sich in der ersten Hälfte der Neunziger Jahre vorrangig mit Themen der Berufsdiskriminierung, des Rentenstrafrechts und der Siegerjustiz in Ostdeutschland beschäftigt und stellte insbesondere in Fragen der Rentenversorgung die effektivste Interessenvertretung der abgewickelten DDR-Eliten dar. Die entsprechende Klientel der GBM bot v.a. Bürgerbewegten und undogmatischen Linken immer wieder Raum für Gerüchte und erleichterte die vielfache Distanzierung von der Organisation. So blieb auch eine politische Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der GBM bisher aus, obwohl dort in den letzten Jahren ein umfassender Begriff von der Diskriminierung Ostdeutschlands erarbeitet wurde.

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