Fünf Mythen über Tschetschenien

aus telegraph #101
von Aleksej Gussjev 

Die offizielle Propagandamaschine, die den Krieg in Tschetschenien bedient, arbeitet auf Hochtouren. Ihr Ziel – die Massen-Gehirnwäsche, die Errichtung des Feindbildes im gesellschaftlichen Bewusstsein („der böse Tschetschene“) und die Rechtfertigung der Richtigkeit „unserer“ Handlungen. Dafür werden Mythen in Gang gesetzt – sowohl neue, als auch alte, mit den Wurzeln noch aus der Zeit des Zarismus und des Stalinismus. Versuchen wir eine Gegenüberstellung der am meisten von ihnen verbreitetsten mit Fakten und Logik.

Tschetschenien – ein althergebrachter Teil Russlands
Die Eroberung Tschetscheniens durch das russische Imperium begann im 18. Jahrhundert und fand ihren Abschluss Mitte des 19. Jahrhunderts Ziel des Zarismus war die „Unterwerfung der Bergvölker und die Ausrottung der Widerspenstigen“ (Nikolai I.). Im Zuge der Eroberung sind die Tschetschenen von ihrer fruchtbaren Erde in den Bergen vertrieben worden, siedelten in die Türkei über und ihre Siedlungen wurden vernichtet (die „althergebrachte russische“ Stadt Grosnyi wurde auf dem Platz der zerstörten tschetschenischen Aule errichtet). Im Verlauf von ungefähr 80 Jahren – von 1780 bis 1859 – führten die Bergbewohner einen bewaffneten Aufstand gegen die Kolonisatoren. Seinen Höhepunkt erreichte er mit dem Kaukasischen Krieg (1817 – 1859), der langwierigste Kolonialkrieg der Geschichte. Zur Unterdrückung der Bergbewohner, deren Anführer Imam Schamil wurde, sind mehr Truppen benötigt worden, als gegen die Armee Napoleons. Aber nichtsdestoweniger lehnte die tschetschenische Bevölkerung es ab, in das Imperium aufgenommen zu werden. Ein Kriegskorrespondent einer Moskauer Zeitung meldete: „In Tschetschenien ist der Platz nicht mehr unserer, wo unsere Truppe steht, die vorgerückte Truppe, denn dieser Platz geht unverzüglich in die Hände der Aufständischen über“. Viele russische Soldaten, die kein Interesse daran hatten, sich an dem kolonialen Abenteuer zu beteiligen, desertierten und flohen nach Tschetschenien. Frei von der Festungsordnung bildeten sie in der Armee Schamils ein selbständiges russisches Regiment. Die demokratischen und revolutionären Kräfte in der ganzen Welt begrüßten den anti-imperialen Widerstand im Kaukasus als einen Teil des weltweiten Befreiungskampfes. „Das Volk Europas sollte sich unterweisen und dem Beispiel des heldenhaften Freiheitskampfes der Bergvölker gegen den russischen Zarismus folgen“, – schrieben in dieser Zeit Marx und Engels.

Allerdings waren die Kräfte in diesem Kampf viel zu ungleich. Nach einigen Jahrzehnten der blutgetränkten Kriege gelang es den Operationen des Zarismus, den Widerstand der kaukasischen Völker zu unterdrücken und sie in den Bestand des Imperiums gewaltsam einzuschließen.

So sieht es aus mit der „historischen“ Begründung des „Rechtes“ der russischen Mächte auf den Besitz von Tschetschenien.

Die Tschetschenen – eine Banditennation; die Neigung zur Räuberei, zur Geiselnahme – ihre ethnische Besonderheit
In der russischen Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts wurde anerkannt, dass im Grundriss der Raubzüge im Kaukasus (noch im 18. Jahr-hundert), die meisten Aktivitäten ursprünglich nicht die Tschetschenen zeigten, sondern russische Kosaken, die entlang dem Fluss Terek an den „kaukasischen Linien“ aufgestellt waren. Die systematischen Angriffe und die Räuberei von ihrer Seite aus, zwangen die Tschetschenen, sich möglichst weit weg von den kriegerischen Nachbarn anzusiedeln; innerhalb der Reichweite der Russen zu leben galt bei ihnen als Ausdruck großer Kühnheit.

Später wurden Überfälle von beiden Seiten angewendet, wobei es vor kam, dass sie „vertragsmäßigen“ Charakter trugen: die Kosaken – oft mit der Genehmigung der Behörden – gestatteten speziell einigen Tschetschenen Streifzüge durchzuführen, um Anlässe für „Expeditionen der Vergeltung“ und der Einnahme der Beute zu haben. (Erinnert das nicht an die Geschichte mit dem Feldzug der Einheit Bassaevs in Dagestan?)

Auch in puncto Entführung und Ermordung von Geiseln ist der historische Rekord nicht den Tschetschenen zu zuschreiben. Das System der Massenentführungen im Kaukasus wurde gerade von den russischen Feldherren breit angewendet, besonders vom „heldenhaften“ General Jermolov.(1)

Zahlreiche Geiseln hielt man in den Aulen gefangen und man hängte sie stehenden Fußes im Falle des Aufdeckens irgendeines „Verrates“ oder des Ungehorsams seitens der Bergbewohner. Darunter litten oft die unschuldigen Verwandten oder einfach die erst besten Leute, die ihnen in die Hände gerieten.

Über das „Sprudeln der Kriminalität“ und die Entführungen von Menschen in Tschetschenien bereits gegenwärtig zu sprechen, im Zeitraum zwischen den zwei letzten Kriegen, bedeutet aber auch, sich die Frage zu stellen: was wäre im gesamten Russland geschehen, falls seine Städte und Dörfer in Ruinen verwandelt wären, die Ökonomie praktisch vernichtet, wie es im Resultat des ersten Tschetschenien – Krieges geschehen ist? Unter den Umständen der fast völligen Abwesenheit normaler Existenzquellen und der allgemeinen Verbitterung der Leute, hätte dann nicht auch die Zahl der Verbrecher zugenommen? Man kann mit Sicherheit behaupten, dass es in diesem Fall unter den Russen nicht weniger Leute gäbe, die ihre persönlichen Probleme wie Banditen regeln würden, als unter den Tschetschenen.

Im übrigen sind im Allgemeinen die Empörung in den Mündern der offiziellen russischen Propaganda, der Mächtigen und der Militärs, anläßlich des „tschetschenischen Terrorismus und Banditentums“ voll des Zynismus. Die Leute, die den staatlichen Terrorismus sanktionieren, verwirklichen und rechtfertigen, sind die Verantwortlichen für Massenmorde, Folter, Vergewaltigungen, für die Verhöhnung friedlicher Bewohner, das Abschneiden der Ohren und dergleichen mehr. Sie haben kein Recht, als Ordnungshüter einer Rechtsordnung aufzutreten.

Während des zweiten Weltkrieges arbeiteten die Tschetschenen in der Massenordnung mit den Hitler-Okkupanten zusammen, wofür sie auch deportiert wurden
Tatsächlich war nur ein kleines Stückchen des Inguschetischen Territoriums von deutschen Soldaten okkupiert; Tschetschenien war im ganzen keiner Okkupation ausgesetzt. Deshalb konnte die „massenhafte Zusammenarbeit“ der Tschetschenen mit den Okkupanten nicht sein, eben wegen der Abwesenheit der Okkupanten. So wie dies Wirklichkeit war, so war auch der bewaffnete Aufstand der Tschetschenen gegen den stalinistischen, imperialen Staat eine Realität. Die Antwort darauf war die Deportation.
Der Aufstand der Tschetschenen hatte nichts zu tun mit dem expandierenden Nazi-Deutschland: er begann schon im Winter 1940, d.h. zu einer Zeit, als Hitler und Stalin noch Freunde und Verbündete waren. Der Aufstand war die logische Folge der stalinistischen Kolonialpolitik im Kaukasus, der fortsetzenden, verstärkenden Tradition des Zarismus.

Das ist seine Vorgeschichte
Während des Bürgerkrieges in Russland hat die Mehrheit der Bevölkerung Tschetscheno-Ingutschetiens die Revolution unterstützt. Die Tschetschenische Rote Armee kämpfte gegen die Weißen: Aufbrechend nach Moskau, war der General Denikin(2) sogar gezwungen, ein Drittel seiner Armee dort zurück zu lassen. Nach dem Sieg des roten Tschetscheniens hat das Land zunächst die eigene Autonomie bekommen und ist in den Bestand der Teilrepubliken aufgenommen worden.(3) Die erste Hälfte der Zwanziger Jahre, als sich an der Spitze Tschetscheniens Vertreter der einheimischen linken Intelligenz befanden, die vom Volk unterstützt wurden, stellte die wohl ruhigste und günstigste Periode der tschetschenischen Geschichte dar. Jedoch mit der Festigung des bürokratischen Regimes in der UdSSR hat sich die Situation verändert. 1925 wurde die Leitung Tschetscheniens durch unverhohlene Moskauer Protegés ersetzt und es begannen im breitem Maßstab Operationen des NKWD gegen mögliche unzuverlässige Elemente. Der gewaltsamen Kollektivierung wurde in Tschetschenien mit den Aufständen von 1929-1932 begegnet, die mit Hilfe grausamer Repressalien unterdrückt wurden (allein im Jahre 1932 wurden 35 Tausend Menschen verfolgt). Danach folgte der Terror der zweiten Hälfte der 30er Jahre.

Aber unter den Tschetschenen waren die Traditionen des Befreiungskampfes noch lebendig – und die volkseigene Empörung hat die Form eines Massenaufstandes angenommen. Die sich jetzt Auflehnenden kämpften bereits unter religiösen, islamischen Losungen: aus der ideologischen Bewegung, die sich an die Spitze der Vertreter der Intelligenz stellte, welche sich schon in der sowjetischen Periode formierte (der Schriftsteller Ch. Israilov, der Jurist M. Scherilov, Bruder des repressierten Führers der tschetschenischen Bolscheviki und andere), wurde ein Aufstand gegen den „roten Imperialismus“ für nationale Unabhängigkeit. Die Aufständischen stürzten die stalinistischen Stadthalter in einer ganzen Reihe der Bergregionen und riefen die Bildung einer „volks-revolutionären Übergangsregierung Tschetscheno-Inguschiens“ aus. Die Kriegshandlungen dauerten etwa drei Jahre, wobei zu keinem Zeitpunkt die aufständischen Truppen seitens der Hitleristen irgendwelche Unterstützung erhielten. Die Vertreter der Bewegung, die besondere Partei der kaukasischen Brüder, hatten unzweideutig die Möglichkeit einer Vereinigung mit den Nazis abgelehnt. Erst im Jahre 1942, nach den massiven Fliegerbombardierungen der Einheiten des NKWD gelang es, den Widerstand der Tschetschenen zu unterdrücken. 1944 wurden sie, wie auch eine Reihe der sich nicht ergebenden Völker, von ihrer eigenen Erde umgesiedelt. Im Zuge dieser Umsiedlung kamen mehr als 130000 Menschen um, unter ihnen mehr als 72000 Tschetschenen und Inguschen.

Die heutige Operation der russischen Truppen in Tschetschenien – Die Antwort auf die Invasion der Tschetschenen in Dagestan und die von ihnen organisierten Explosionen der Wohnhäuser in Russland
Nach dem Zeugnis S. Stepaschins, eines leitenden Funktionärs der russischen Regierung vor Putin, begann die Vorbereitung der Kriegskampagne gegen Tschetschenien bereits einige Monate vor den Ereignissen in Dagestan – schon im Frühjahr 1999. Die Rede Bassajevs wurde einfach als Anlass zum Losschlagen, für den Krieg verwendet. Aber selbst wenn wir die sehr glaubwürdige Version über den „vertragsmäßigen“ Konflikt und der Vorabmachung zwischen Bassajev und der Jelzinadministration unberücksichtigt lassen, sieht jene These von „der adäquaten Antwort Russlands auf die Aggression“ sowieso mehr als zweifelhaft aus. Als russische Gruppen in Abchasien für die Abtrennung von Georgien kämpften (nebenbei bemerkt, gemeinsam mit denen Bassajevs), kam niemand aus irgendeinem Grund auf den Gedanken, dass als „adäquate Antwort“ Georgien dem Kreml den Krieg erklären und seine Flugstaffeln zur Bombardierung Moskaus entsenden sollte. Ebenso hat die Teilnahme russischer Söldner an den Kampfhandlungen in Bosnien und im Kosovo an der Seite Milosevitschs nicht zu einer „Säuberung“ des russischen Territoriums durch albanische oder bosnische Formationen geführt. Bezüglich der Explosionen von Wohnhäusern gibt es keine Beweise oder Zeugnisse, welche auf tschetschenische Strukturen zurückzuführen sind. Im Gegenteil, es gibt gewichtige Gründe davon auszugehen, dass die Explosionen durch russische Spezialdienste selbst herbeigeführt wurden. So wurde im Herbst letzten Jahres in Rjasan von den dortigen Einwohnern und der Polizei Sprengstoff im Keller eines Wohnhauses entdeckt. In diese Angelegenheit mischte sich der FSB ein und erklärte lapidar, dass er eine „Übung“ durchführte und das Verbringen von Säcken mit Zucker in den Kellerräumen inszenierte (die man natürlich sofort beschlagnahmte). Inzwischen hat die operative Expertise, die sofort nach dem Entdecken der Säcke eingeleitet wurde, aufgezeigt: in ihnen befand sich tatsächlich ein explosives Gemisch mit einem Zeitzünder. Warum nur logen die Spezialdienste? Weil hier die nächste „aktive Maßnahme“ misslang, welche die „tschetschenische Bestialität“ demonstrieren sollte?

Wenn man Tschetschenien weggibt an die Tschetschenen, so wird Russland zerfallen
Wenn irgend ein Volk an einer Besetzung eines Staates mit Hilfe von Gewalt festhält, so ist dieser Staat – ein Imperium, und es wird unbedingt zerfallen, weil der Zerfall von Imperien – eine objektive, historische Gesetzmäßigkeit ist. Alle „großen“ Imperien, die in der Geschichte existierten, sind letzten Endes zerstört worden, selbst wenn ihre Herrscher Blutvergießen zur Erhaltung ihrer Kolonialherrschaft nicht scheuten. Genau so ist das gewalttätige Festhalten an Tschetschenien der direkte Weg zum garantierten Zerfall Russlands.

Eine echte Einigkeit der Russischen Föderation kann sich nur auf dem freiwilligen Streben ihrer Völker gründen, zusammen leben zu wollen. Die Achtung des Rechtes jeden Volkes auf die freie Selbstbestimmung, der Grundnormen der Demokratie – ist die notwendige Vorbedingung solcher Einheit.

1. Jerlomov, Aleksej Petrovich (1772-1861), Russischer General der Infanterie (1818; ab 1831 General der Artillerie), Kriegsteilnehmer gegen die Franzosen von 1805 – 1807, im vaterländischen Krieg 1812 Stabschef der 1. Armee, von 1813 – 1814 Divisions- und Korpskommandeur, von 1816 – 1827 Kommandeur des selbständigen kaukasischen Korbs und Hauptverwalter in Grusinien während des Kaukasischen Krieges, für die Protektion der Dekabristen 1827 in den Abschied entlassen.
2. Denikin, Anton Ivanowitsch (1872 – 1947), russische Kriegspersönlichkeit, 1916 Generalleutnant im ersten Weltkrieg Divisionskommandeur, ab April 1918 Oberbefehlshaber und ab Oktober 1918 erster Oberbefehlshaber der Freiwilligenarmee der Weißgardisten, ab Januar 1919 oberster Kommandierender der „Kriegsstreitkräfte Süd-Rußlands“ (der Freiwilligenarmee, der Donskaja- und der Kaukasischen Armee, der Turkmenischen Armee und der Schwarzmeerfront).
3. Im Januar 1921 wurde die Tschetscheno-Inguschetische autonome Sowjetrepublik ausgerufen, im November 1922 die Republik Tschetschenien, 1924 wurde Inguschetien zum autonomen Oblast der Russischen Sozialistischen Sowjetrepubliken erklärt, 1934 wurde dann der Tschetscheno-Inguschetische autonome Oblast gebildet, 1936 die autonome sozialistische Republik der RSFSR.

Aleksej Gussjev lebt in Moskau. Er arbeitet im Victor Serge Zentrum in Moskau.

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