aus telegraph #101
von Knobi
Vor Jahrzehnten wurde die Linke gewarnt, dem Bücherwurm nicht hinterher zukriechen, d.h. die Praxis sollte Vorrang vor der Theorie haben. Inzwischen haben wir jede Menge Theorie – Gruppen mit wunderlichen Namen, wie “nationale Anarchisten” (=dumpfbackige Nazis), oder Anarcho-Kapitalisten (=F.D.P.ler, die den “Freien Markt” als Liberalismus verkaufen wollen und den Anarchismus zur Hilfe rufen) usw. – aber wie steht es mit der Praxis? Egal mit welchen Argumenten beide Seiten kommen, es hilft nichts, wenn beides nicht Hand in Hand geht.
Mit reiner Theorie kommen wir dem Phänomen ‚Rechtsradikalismus‘ mit Sicherheit nicht bei, sodass es wichtig ist Informationen zu haben. Drei Themen spielen hierbei eine Rolle, a) Esoterik: AntiVisionen (Hrsg.); Schicksal & Herrschaft – Materialien zur Kritik an der New-Age-Bewegung. (Rat – Reihe antifaschistischer Texte, Hamburg. 80 S. / Din-A-4 / 8,- DM). Die Linke und Esoterik ist ein unendliches Thema, und während die Linken darüber diskutieren, haben sich die Rechten in der New-Age-Bewegung schon längst breit gemacht. Dieses Heft handelt davon, wo die Esoterik sich mit politischen Themen vermischt: Männer- und Frauenbewegung, Kommunen, Heiden-Bewegung, und vieles mehr. Als Einstieg zum Thema gut geeignet. b) Querfrontstrategien: J. Cremet / F. Krebs / A. Speit; Jenseits des Nationalismus. Ideologische Grenzgänger der “Neuen Rechten” – Ein Zwischenbericht. (Unrast Verlag Münster / 134 S. / 19,80 DM) Hierbei handelt es sich – wie oben schon kurz angerissen – um neue Strategien der Rechten, die sich nicht mehr scheut mit linkem Vokabular, ja mit Linken selbst sich zu ‚schmücken‘. Rechts ist auch kein Begriffe mehr, der nur dumpfe Kahlköpfe anspricht, sondern es werden auch Intellektuelle geködert (oder die sich selbst anbieten, und das geht durch alle Bänke – von Ex-RAFlern, PDSlern, SPDlern u.a.). Hier wird das führende Sprachrohr “Junge Freiheit” analysiert, was die Ziele der Rechten sind und wo sich rechtes Gedankengut überall festsetzt bzw. wo es in Querstrategien infiltrieren will. Die Linke war noch nie so ‚verletzbar‘ wie zur Zeit.
Und c) Die Kultur: Searchlight – Antifaschistisches Infoblatt / Enough is enough / rat (Hrsg.); White Noise – Rechts-Rock, Skinhead-Musik, Blood & Honour – Einblicke in die internationale Neonazi-Musik-Szene. (Unrast-Verlag Münster / 153 S. / 19,80 DM) Längst ist Nazi-Musik nicht mehr so isoliert, wie manche denken mögen. Sie ist weltweit vernetzt und macht Millionenumsätze. Der Machtfaktor (Nazi-) Musik hielt auch die Macher des Buches in Atem, die gegen Einstweilige Verfügungen etc. ankämpfen mussten. Mit einem Personen- und Sachregister versehen, dient das Buch gleichzeitig als Who is Who der rechten Musik-Szene. Aber wenn mensch sich zu sehr (geht das?) mit diesem rechten Dreck beschäftigt, dann kann das auch frustrierend sein. Neben dem Wissen über diese Szene braucht mensch natürlich auch Literatur, die Argumente gegen Nationalismus, Chauvinismus etc. bietet. Nach einigen Jahren der Willensbekundungen für eine Neuauflage hat es jetzt endlich geklappt: Rudolf Rocker; Nationalismus und Kultur. (Bibliothek Thélème Münster / 666 S. / geb. / 78,- DM). Nach über 20 Jahren wurde dieses Standardwerk der anarchistischen Kritik am (diktatorischen) Staat nun wieder neuaufgelegt und gegenüber der Erstausgabe von 1949 (als der Titel noch “Die Entscheidung des Abendlandes” hieß) und dem Reprint in den 70er Jahren, korrigiert und ergänzt von Heiner Becker. Trotz des Preises, der im übrigen durchaus berechtigt ist, werden wohl diejenigen, die sich da durchgearbeitet haben mit Thomas Mann sagen: ”Es freut mich aufrichtig, dieses bedeutende, tief fundierte und geistig reiche Buch zu besitzen,…”
Ein politisch denkender Mensch unserer Zeit von großem Format ist sicherlich der amerikanische Linguist und Sprachkritiker Noam Chomsky, über den jetzt eine Biografie vorliegt: Robert F. Barsky; Noam Chomsky – Libertärer Querdenker. Eine Biografie. (Edition 8 Zürich. 335 S. / 39,- DM). Seit den 60er Jahren gehört Chomsky zu jenen, die die Linke nachhaltig beeinflusst haben. Seine Beiträge zur Weltgeschichte sind bis heute anregender Diskussionsstoff, und ein ganz wichtiger Beitrag aus dem Land, welches sich immer wieder dazu aufschwingt in der Welt aggressiv seine Wirtschafts- und Machtinteressen zu vertreten. Auch dieses Buch ist besonders für jene geeignet, die noch nicht so viel von Chomsky gelesen haben. Ein guter Einstieg.
Seit dem Dadaismus hat es immer wieder Kunstrichtungen gegeben, die nicht nur künstlerisch wirken wollten, sondern auch politisch und gesellschaftlich. Eine, der interessantesten Gruppen dieser Art nach dem Krieg, war zweifelsohne die Situationisten. Ihr Wirken löste die Surrealisten ab, wandte sich gegen den Partei-Kommunismus und nahmen dennoch (oder deshalb) großen Anteil an progressiver Politik und Kunst. Eine Art Nachbereitung dieser Kunstepoche und seiner Protagonisten (und der wenigen Protagonistinnen) findet sich in: Roberto Ohrt (Hrsg.); Das große Spiel – Die Situationisten zwischen Politik und Kunst. (Nautilus Verlag Hamburg. 220 S. / 29,80 DM). Mit einer ausführlichen Bibliographie.
Eine Einführung bietet auch der folgende Band. Schließlich kann mensch nicht alle Philosophen und Denker kennen, und da kann es sehr hilfreich sein, wenn es Bücher gibt, die in allgemeiner Weise auf bestimmte Menschen hinweisen: Marvin Chlada (Hrsg.); Das Universum des Gilles Deleuze – Eine Einführung. (Alibri Verlag Aschaffenburg. 213 S. / 28,- DM). Selbst wenn der Deleuze-Freund Michel Foucault behauptet: “Eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein”, so kommt doch kein Mensch, der sich mit Philosophie und Gesellschaftskritik beschäftigt an diesem französischen Universaldenker vorbei. Auch das Denken sollte Spaß machen und nicht nur zur Arbeit verkommen. Zum Schluss nun noch zwei Bücher mit leichter Kost, aber nicht ohne Gewicht. Ein wunderschönes Buch mit Erinnerungen über den Kampf für die Emanzipation – im weitesten Sinne – bietet: Daisy Rubiera Castillo; Ich, Reyita – Ein kubanisches Leben. (Rotpunkt Verlag Zürich. 264 S. / geb. / 36,- DM). Die Ich- Erzählerin, die dieses ganze Jahrhundert kennengelernt hat ist vor kurzem 94jährig gestorben.
Es ist zwar eine wage Behauptung, aber ich denke, dass Peter Jacobi; Mein Leben als Buch. Roman (Nautilus Verlag Hamburg. 144 S. / 24,80 DM) wohl zur besten – auf alle Fälle, die unterhaltsamste – Lektüre dieses Jahres sein wird. Selten habe ich mich derart amüsiert, wenn der Antiquar (Held dieser Geschichte) sich in ein Buch verwandelt und dass Leben aus einer neuen Perspektive betrachtet. Manches ist vielleicht zu männerspezifisch, und wenn sich eine Frau finden würde, die das gleiche Thema feminisieren könnte, würde mein Bücherherz sicher Freudensprünge machen. Ein herrliches Buch für einen verträumten Nachmittag, auf der Wiese oder dem Sofa – rumlümmelnd. Zumal der Seitenumfang dieses Buches nicht dazu angetan ist, sich als Bücherwurm zu betätigen, es ließe noch genügend für die Praxis Zeit.
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