LAST ORDERS, PLEASE!

von Jürgen Schneider
aus telegraph #102/103

Es war vor über zwanzig Jahren. Im März 1980, um genau zu sein. Nach einem Interviewtermin im Stern-Auftrag mit dem der RZ-Mitgliedschaft verdächtigten und schwer kranken Rudolf Raabe, der sich seiner Verhaftung durch die Flucht nach Irland entzogen hatte, weilte ich bei John McGuffin in der Malone Avenue, Belfast. Mein Gastgeber schaufelte Torf, um das Kaminfeuer zu entfachen. Die von den nordirischen ‘Troubles’ unberührte Malone Avenue gilt in Belfast als ruhige und ‘bessere’ Adresse. Doch während der Rauch des Torffeuers angenehme Trägheit aufkommen ließ, quietschten vor dem Haus Reifen, Autotüren wurden zugeknallt, es klingelte, klopfte, krakeelte an der Eingangstür im Erdgeschoß. McGuffin ließ einen Stapel Papier unter der Schreibmaschine – ja, ihr gameboy-sozialisierten Youngsters, es gab tatsächlich eine Zeit vor Playstation und PC –  verschwinden, da stürzten blauuniformierte Polizisten der Royal Ulster Constabu-lary (RUC) ins Wohnzimmer. Johns kleine Tochter plärrte keck und von der hochgerüsteten Heerschar völlig unbeeindruckt: “Daddy, ich mag diese Kerle nicht. Sag ihnen, sie sollen sich verpissen.” Das taten sie denn auch. Allerdings erst nach etwa einer Stunde, in der sie das Haus auf den Kopf stellten, und in unserer höchst unfreiwilligen Begleitung. Das Gör durfte bei Nachbars geparkt werden, während wir uns wenige Minuten später in Einzelzellen des Verhörzentrums Castlereagh wiederfanden. Verhörzentrum ist ein Euphemismus, haben doch Menschenrechtsorganisationen in der Vergangenheit immer wieder auf die in Castlereagh geübten Folterpraktiken hingewiesen. Diese RUC-Institution ist mittlerweile dicht gemacht worden, allerdings nicht wegen der Foltervorwürfe, sondern als eine Art De-Eskalie-rungsgeste im Rahmen des sog. ‘Friedensprozesses’.

Wie dem auch sei, wir wurden damals die ganze Nacht über Verhörversuchen ausgesetzt. Das beharrliche Schweigen führte zu der Drohung der Special Branch der RUC, man werde einer loyalistischen Todesschwadron übergeben, wenn man nicht endlich den Mund aufmache. Irgendwann gaben die Herren allerdings ihre Verhörversuche auf. Exakt vierundzwanzig Stunden später wurden wir wieder freigelassen, nachdem sogar der deutsche Honorarkonsul in Nordirland den Weg in den Besuchertrakt von Castlereagh gefunden hatte, nur um mitzuteilen, dass er leider rein gar nichts für mich tun könne.

Später stellte sich heraus, dass das Bundeskriminalamt bei diesem Ding die Finger im Spiel hatte. Schon in ihrem Verhörraum hatten die RUCler stolz auf die Akte aus Wiesbaden verwiesen. Der Bundesanwalt Morré, damals wie heute auf RZ-Jagd, sowie BKA-Beamte mit gezückten Ballermännern empfingen mich denn auch in schlechtester Krimi-Manier bei meiner Rückkehr auf dem Rhein-Main-Flughafen: „Keine falsche Bewegung! Gehen Sie unauffällig vor uns her.“ Auf dem Revier der Frankfurter Flughafenpolizei fragten die Herren mit kaum erstaunter Stimme, ob die eiternden Wunden an meinen Beinen von Zigarettenstummeln ihrer nordirischen Kollegen herrührten. Nein, ich war in deren Zelle lediglich von Ungeziefer angenagt worden.

Unser Wiedersehen mußten John und ich nach unserem Castlereagh-Aufenthalt natürlich ausgiebig feiern, wobei ich ihn gelöchert hatte: „Was sind das für Papiere, die du vor den RUClern versteckt hast?“ „Kid, was faselst du von Papier?“ antwortete McGuffin, „das sind Unikate. Short Stories. Literatur. Nichts für Bastarde und Peace Wankers. Hier, lies so du kannst.“

Irgendwann lagen Kopien der Kurzgeschichten in meinem Briefkasten. Ich übersetzte sie nach und nach und konnte das Hamburger Verlagskollektiv der Edition Nautilus als Verleger gewinnen. 1985 erschien die erste Geschichtensammlung mit dem Titel Bomben, Bullen, Bars – Geschichten aus Nordirland, 1987 folgte Der Knieschußclub – Irische Abendunterhaltung. Und 1993 wurden alle bis dahin vorliegenden McGuffinschen Short Stories unter dem Titel Der Mann, der mit Chuck Berry getanzt hat veröffentlicht – Geschichten aus Nordirland, so komisch wie das wirkliche Leben, alkoholdurchtränkt und von großmäuliger Radikalität, aber auch empfindsam und von gerechtem Zorn bei der Beschreibung der Not der kleinen Leute im kriegszerrissenen Nordosten der Grünen Insel. „Ein Lach-Blizzard,“ lautete das Urteil im Stern, während die in Augsburg erscheinende Zeitschrift Trash mit dem folgenden Urteil aufwartete: „Zur Katastrophe kommt es hier eigentlich nie, denn in McGuffins Irland werden die genüßlichen Expeditionen nicht ins unvermeidliche Unglück führen – dazu ist der Zustand des Vollrausches zu sehr gesellschaftlich assimiliert.“

Schon 1990 war McGuffins Polit-Thriller Der Hund erschienen, in dem es um eine Spezialeinheit der IRA geht, die ihre Zeitbomben weltweit ticken läßt und durch nichts und niemanden zu bremsen ist. Der Thriller hatte für Aufsehen und Lobeshymnen in den Printmedien gesorgt. So schrieb etwa Franz Dobler in der Zeitgeistpostille Prinz: „Sein wahnwitziges Spektakel verbindet McGuffin mit Schlaglichtern auf die irische Mythologie und Geschichte. Es ist getragen von bitterem Humor und politischer Unversöhnlichkeit, wie von Oskar Maria Graf und Franz Jung auf einer ihrer Sauftouren mit traurigem Gelächter herauserzählt.“ Und Martin Hielscher ergänzte in Szene Hamburg: „Mutter Courage auf irisch: heftig, drastisch, und grotesk…“

Spätestens seit Erscheinen seines Thrillers Der Hund hat McGuffin eine treue Fangemeinde von Kiel bis Konstanz, von Rostock bis Plauen. A propos Plauen. „Ich bin nicht ein merry Plauenboy“, schrieb mir McGuffin einmal, sich an eine Lesung im Vogtland erinnernd, die etwas behämmert angekündigt worden war. Als unser intellektueller Hooligan in Plauen im Rahmen eines Irlandfestivals auftreten sollte, konnte jemand ‘liest’ nicht buchstabieren. Daher hatten die Veranstalter folgendermaßen geworben: „Mc Guffin Kleist in englischer Sprache.“ Der englische Kleist hatte außer einem Lokalreporter niemanden zur Lesung gelockt, und der eigens aus seinem Exil in San Francisco eingeflogene irische Schriftsteller hatte sich frustriert in den örtlichen Irish Pub zurückgezogen, dort nahezu sämtliche Whiskeyflaschen geleert, um sodann bahnschnell nach Chemnitz zu entfleuchen. Dort ließ er sich samt Cowboy-Hut, den Madonna sich nun angeeignet hat, vor dem einfamilienhausgroßen Karl-Marx-Monument ablichten und fluchte: „Schau dir diese Scheiße ringsum an! Hinter dem Denkmal Handgeschnitztes aus der Region, und dann ein McFuck neben dem nächsten Guanoburgerschuppen. Jeansläden. Yankeedekor. Armer amigo Carlos.“

McGuffin suchte flugs das Weite und schrieb weiter an seinem opus magnum, dem Roman Der fette Bastard, der schließlich 1996 erschien und in dem nicht weniger als vier Erzählstränge von ebenso vielen Verfassern vereinigt sind. Der McGuffin erzählt von einem Rechtsanwalt in San Francisco, dem außer seinem alkbedingten Delirium nichts heilig zu sein scheint. John McGuffin legt die Memoiren eines widerlichen Pinkerton-Agenten vor, der amerikanische Arbeiterführer an den Galgen brachte, während Sean McGuffann eine Hommage an einen bis dahin weitgehend unbekannten IRA-Helden zu Papier bringt. Und schließlich taucht Setanta auf und verschwindet ebenso schnell im Dschungel Borneos. Die Drogen der dortigen Kopfjäger lassen ihn in einer 4000 Jahre alten keltischen Sprache parlieren.

Der Roman, so tönte es im Klappentext, ist „so fulminant, als feierte der Geist Flann O’Briens in einem amerikanischen Comic-Thriller eine unverhoffte Auferstehung.“ Flann O’Brien? Ja, noch heute schwärmt McGuffin von seiner Begegnung mit dem vielnamigen Chamäleon der irischen Literatur. Nach der Veröffentlichung von Der fette Bastard stand mein Telefon nicht still, wollten doch viele McGuffin-Fans wissen, ob es dem Autor wirklich so beschissen gehe, wie es seinem neuen Buch zu entnehmen sei. Dort ist in einem fünften Strang von der „Geistesstörung“, von der vielfach gespaltenen Spaltung der Persönlichkeit des Autors die Rede. Die Tatsache, dass so mancher Leser Fiktion und Realität nicht zu unterscheiden vermochte, erfreute den fetten Bastard, der putzmunter in San Francisco hockte und sich das ein oder andere Glas Buena Vista genehmigte.

Just neunzehn Jahre nach den bis heute unaufgeklärten Ereignissen von Stammheim wies Jürgen Busche, seinerzeit Chefredakteur der Wochenpost, seine Leserschaft auf die ungeklärte Identität von McGuffin hin, nachdem er in Belfast vergeblich versucht hatte, eines von dessen Büchern in Originalsprache zu erwerben: „Wer McGuffin ist, weiß man nicht so richtig. Er lebt, heißt es, seit er Belfast verlassen hat, als Rechtsanwalt in San Francisco. In Belfast kennt ihn niemand. Auch seine Bücher sind dort unbekannt. Es scheint sie nur auf deutsch zu geben. Besser bekannt ist Jürgen Schneider, der als Übersetzer dieser Bücher firmiert. So muß man sich, was Lob und Liebe betrifft, an ihn halten.“ (Wochenpost, 17.10.1996)

In einem irrte Kohl-Biograph Busche nicht, es gab die Bücher tatsächlich nur auf deutsch. Eine Auswahl der McGuffinschen Kurzgeschichten, die 1990 im kalifornischen Santa Barbara unter dem Titel Tales from the Barricades erschien, gelangte nie in die irischen Buchläden. Dort ist seit wenigen Tagen allerdings das Buch Last orders, please! zu haben. Es enthält 24 Kurzgeschichten von McGuffin aus 25 Jahren, darunter sieben Geschichten, die erst 2001 bei Nautilus auf deutsch erscheinen werden. Wer also des Englischen mächtig ist, der sollte sich das Originalwerk aus dem neuen Verlagshaus Irish Resistance Books nicht entgehen lassen. Dessen Kauf lohnt allein schon die Geschichte ‘Hi-Jack in the Honk Kong Horror Hotel’, worin ein McGuff in mafiotische Machenschaften hongkongchinesischer Steuerbetrüger verstrickt wird. Und eine neue Story über Norman, den dümmsten Blödmanndeppen, der je der irisch-republikanischen Bewegung in Derry als ‘Intelligence Officer’ diente, gibt es auch. Diesmal geht es darum, dass Normans Recken noch zu duselig sind, für einen dicken Batzen Kohle eine pakistanische Spelunke anzustecken.

Last orders, please! beweist natürlich nicht hinreichend, dass ein McGuffin tatsächlich existiert. Doch, großes Ehrenwort, Herr Busche, Sie können sich getrost an ihn persönlich halten, wenn der Alkoholteufel unserem McGuffin nicht gerade in der mit den Konterfeis von süd- und mittelamerikanischen Revolutionshelden dekorierten Bar Sandino’s in Derry ein Liedchen singt, und er in fremder Zunge ins tote gelbe Wasser zischt: „Rache!“

McGuffin, Last orders, please! – Derry: Irish Resistance Books, 2000,
ISBN 0-9539482-0-X, 200 S., Pfund Sterling 8.99
Bestellungen via E-Mail:
irb@mcguffin.freeserve.co.uk
Weitere Details unter:
http://www.mcguffin. freeserve.co.uk/irb.htm

Jürgen Schneider ist Autor, Übersetzer und Ausstellungsmacher. Er lebt in Berlin.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph