PFLUGSCHAREN ZU FUTTERKRIPPEN

aus telegraph #104
von  Niko Tenten

Traditionelle Revolutionen sind gekennzeichnet durch ein starkes Verlangen nach irgendwelchen Essbarkeiten. Rebellisches Denken umfasst revolutionäres Handeln und findet seinen Beleg in Form irgendeines Brotbelags oder Essensgrundlage.

Unterdessen postiert sich das geistige, kulturell revolutionäre Erbe um die Ecke. Über den Teller hinaus piepst und trällert es so vergnügt vor sich hin, das es einem Freude macht. Wie im Rausch sprießen Geistesblitze im kulturellen Quadrat umher, füllen sie Ideen mit Wissenslücken, bilden neues, erkämpftes Wissen, kombinieren Erleuchtendes mit Erprobtem, formen überraschende Wendungen und fangen an, eine eigene Dynamik zu entwickeln: eine Attacke hier, einen Return da, alles schritt- und dann aber auch sprungweise. Moment mal: eingefangene Wehwehchen kennen keine Pause. Sie verfärben die blaue Flecken im revolutionären Fleische, planschen im Becken der Sprache herum und verreden sich zu stählernen Vollsätzen, so, als hätten sie die Steine der Weisen schon einmal von unten betrachtet. Wir beißen uns in der Geschichte fest, in dem Diktat des Moments. Was bleibt ist diese eine Kartoffel um dessen Liebe wir unser Leben lassen wollten. Aber was tat sie? Sie raubte unsere Seele. Sei verflucht, du Kartoffel, denn in deinem Namen möchten wir unsere Zeit nicht verplempern.

So ungefähr muss das alles gelaufen sein, jedes Mal von neuem, jedes Mal ein bisschen raffinierter, ein wenig ausgefeilter. Wir blicken darauf zurück, glauben etwas über den Kampf zu wissen, glauben an das Opfer, an die verstorbenen Seelen im Märtyrertum revolutionärer Zeitgeschichte, wissen um unser Erbe, um die Pflicht sich selbst gegenüber dieses Erbe weiter zu tragen. Bloß wie….

Letztendlich hat sich bei uns, im neuen Jahrtausend einiges grundsätzlich geändert.
Glaubt man dem Zeitgeist, so sei das ganze Leben ein Ratespiel mit Partywahr-scheinlichkeit. Ein wenig anekdotisches Wissen reicht aus um einen intellektuellen Ruf zu ergattern. Kombiniert man dieses mit bösem Wortschatz und proletarischem Sportanzug, so ist man sich nicht nur den Ruf eines Revolutionärs sicher, sondern gilt als prophetische Lichtgestalt, als Seher, dessen geistige Illuminationen mittels immenser Bankkonten voll zur Geltung kommen können.

“Glüh, Würmchen, Glüh“, neige ich zu rufen, während mir bewusst wird, wie konservativ meine Zeilen denn wohl nicht sind. „Brenn, mach schon, Brenn“, schreie ich mir zu, denke, heimlich und leise, „warum immer ich…“. Also, bin ich doch noch da, eine unabsichtliche kurze Berührung. Letztendlich bin ich kein Berufsjugendlicher: “Nenn mir ein Gemüse und ich sage euch wann, warum, in welcher Revolution, zu welchem Brotaufstand es Gegenstand des Kampfes war“.

Die Revolution findet im Fernsehen statt. Als Wetteinsatz sollte der fröhlich gelockte, mit Steuergeldern um sich rum spendierende Diktator des „Wetten Dass“-Dogmas seine Schönheitsoperationen rückgängig machen. Obwohl, wir sind hier in einem Text, nicht in der Frequenzsuppe farbfröhlich geklonter Bilder. Ein kurzer Zwischentraum sollte gestattet sein. Irgendwie erinnern mich die Spezies, wie sie in Hundertschaft über den Bildschirm irren, an den Londoner Doktor Graham, der zur Zeit der französischen Revolution das Geheimnis des Hungerns entdeckt haben soll:

-Straßburger Kurier 1793, Nummer 103-
„London, den 12ten April. Der Exzentrische Doktor Graham, der sich ehemals durch sein himmlisches befruchtendes Bett und Vorlesungen über Befruchtung und Erdbad so berüchtigt machte, ist von Lissabon zurückgekehrt, und hat heute angezeigt, dass er am Abend eine Vorlesung über die Kunst halten will, ohne Essen ein gesundes und langes Leben zu führen. Er hat vor dem Lordmayor beschworen, dass er auf seiner Reise 14 Tage und Nächte gefastet und nichts als Wasser getrunken habe. Er verspricht, seine Zuhörer in die Geheimnisse der großen ehrwürdigen sich stets gleichbleibenden Natur einzuleiten und gibt vor, das Mittel erfunden zu haben, wie Leute bei Kuren in gewissen Krankheiten, in Hungersnot oder bei Belagerungen in Garnisonen, ganze Monate lang hungern können, ohne zu sterben. Er zeigt die von ihm erfundenen Erdmaschinen, wo die Natur, durch unzählige Mündungen der Haut, die feinsten nährendsten Teilchen einsaugt, die zu Leben, Gesundheit und Stärke notwendig sind.“

Die Beredsamkeit des Doktors war allgemein bekannt, wie er alle zum Narren hielt, der eigentliche Erfolg.

Unterdessen blieb es den Gutbetuchten vorbehalten, den feinen Unterschied zwischen Völlerei und Fasten zu erforschen, das Ying und Yang ihres Inhaltes zu entleeren, denn langsam aber sicher nähern wir uns der Gegenwart: das Fasten-Phänomen verliert seinen, in der Religion behafteten, traditionellen Zusammenhang und durchdringt den deutschen und übrigen westlichen Mittelstand. Der Gesellschaft gelingt es, das Armutsproblem in den Hinterhöfen zu verbannen. Die Strassen füllen sich mit bunten Bettlern, immer zu einem Scherz bereit, manchmal brutal oder auch entzückend lieblich, es ist egal. Während die Fischers und Kohls ihre Körper abschlanken, um damit eine königlich anmutende Erhabenheit über ihre eigene, absolute Macht zu demonstrieren, massakriert sich die Unterschicht im Rausch. Unter dem Motto „Spaß von unten“ vereinigt sich die Armutsjugend und erbettelt sich ihr Recht auf Party. Etwas Wesentliches hat sich verändert.

Irgendwie hat es etwas mit der Entwicklung der beiden deutschen Staaten zu tun. Seit der Teilung Deutschlands landeten unterschiedliche Gerichte auf den jeweiligen deutschen Tischen. Im Rahmen der Essensbeschaffungsmaßnahmen füllten die Westmächte den Wessi-Teller. Als Gegenleistung sollte sich die BRD dem vorgeschriebenen politischen Gebilde fügen.

Die DDR hatte neben ihre Identifikationsprobleme den undankbareren finanziellen Part abbekommen. Sie musste Wiedergutmachung leisten, für die entstandenen Schäden des Krieges aufkommen. Aus dieser Sollstellung, dieses weniger als Nichts, galt es nicht nur zu überleben, sondern das Dasein auch schmackhaft zu gestalten. Die Lebensmittelindustrie stand in ihren Kinderschuhen und musste sich dem Vergleich einer alliierten Westmacht stellen, die auf die Erfahrung einer Industrie bauen konnte, die sich, auch während des Weltkrieges kontinuierlich weiter entwickelt hatte. Die viel verfluchte Amerikanisierung trat in das Leben der Westeuropäer ein. In Wirklichkeit gab es keine andere Möglichkeit, als sich dieser Entwicklung anzuschließen. Aus damaliger Sicht gab es dringende hygienische und ernährungstechnische Gründe, die eine Rationalisierung der Essgewohnheiten notwendig machten. Der kapitalistische Hintergrund dieser Entwicklung war ein anderer, eher als beiläufig definierter Effekt der Sauberkeits- und Automatisierungswelle. Als Beispiel einer solchen Rationalisierungsfirma darf Kelloggs dienen. John Harvey Kellogg gründete sein Unternehmen nicht nur in Hinblick auf eventuelle große Gewinne. Die Erfindung der Corn Flakes sollte die Hausfrau entlasten, forderte quasi die Untergrabung des Patriarchats. Natürlich darf man nicht vergessen, das alle dadurch die Zeit finden würden, der Gesellschaft, und damit der Industrie komplett zur Verfügung zu stehen, deshalb waren Fast Food Produkte auch ein notwendiges Übel. Die beißfertigen Produkte sollten dafür sorgen, dass die Amerikaner ihren täglichen Bedarf an Ballaststoffen, Vitaminen, usw. abbekommen. Natürlich spreche ich jetzt von dem Stand der Ernährungswissenschaft aus frühen Tagen. Die Firma war ja schon im ersten Weltkrieg Armeelieferant.

“Die Reform des Magens ist die beste Vorbereitung, um einen Sünder zu bekehren“ war der Leitspruch des Firmengründers und seine Nachfahren werden sich wohl etwas dabei gedacht haben, als sie ihre Produkte zur Eroberung Europas losschickten. Wie groß der Einfluss Kelloggs war, möge der Gesundheitsfanatiker Bircher-Benner illustrieren, der seinen ältesten Sohn Max Edwin zur Ausbildung zu Kellogg schickte. Beide verband die Vision einer glücklich gesättigten Bevölkerung. Meistens geraten solche Aspekte zum Amerikanismus in Vergessenheit, was der Beurteilung nicht gut tut. Kurz gesagt entwickelte sich der Westen in Richtung Essensindustrialisierung und es wurde hart daran gearbeitet, damit die Einwohner jede neue Errungenschaft und Erfindung als Beweis ihrer Überlegenheit und Stärke empfanden.

Derweil nippelte die DDR am Tropf der Billigungstaktiken östlicher Hardliner. Die Infrastruktur musste komplett neu definiert werden und befand sich im ökonomischen Tief. Genau da, in diesem Tal, lag die Qualität. Statt zu industrialisieren, war der Erfindungsgeist und der Mut zum Experiment das Kriterium zum Überleben. Allerlei neue Ingredienzien kamen auf den Tisch. Jeder kennt noch die Knollen der Sonnenblume, die als Topinambur auf dem Tisch landeten. Alle haben wenigstens zwei, drei Onkel und Tanten mit einem Schrebergarten, der eher wie eine kleine Gemüsezuchtkanzlei aussieht, als wie ein Erholungstempel bürgerlichen Klabauter-tums.

Intensiv wurden die Gaumen erforscht, die kleinsten Geschmackseigenschaften aus den Ingredienzien hervor gekitzelt und mit den seltsamsten Worterfindungen wie Affenfett, Panzerplatten, Topfenhalluschka, Buchteln, Butterkolatschen oder Pörkelt versehen. Allgemein könnte man sagen: der Westen kümmerte sich ums Quantitative, der Osten hatte sich mit dem Qualitativen zu begnügen. Die Resultate einer damaligen Zusammenarbeit, einer friedsamen Koexistenz wären höchst reizvoll gewesen. Es kam aber ganz heftig anders. Zurück zu den Fünfzigern.

Zur Illustration: 1948 – 1954, die Westsektoren empfangen 1,4 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau, während der Ostsektor bis dahin Reparationszahlungen an die Sowjetunion leisten musste und erst 1958 die Lebensmittelmarken abschaffen konnte.

Die Entwicklung zum Essen außerhalb der Wände des vertrauten Heimes teilten sich die beiden deutschen Länder, das jeweilige Land musste neu aufgebaut werden. Beide drohten unter dem Druck, den notwendigen Erfolg zu schaffen, mangels Fröhlichkeit in Selbstmitleid zu ersticken. Fünf Jahrespläne hüben wie drüben erzwingen andere Prioritäten. Die Industrialisierung schreitet voran, erfasst beide Seiten in unterschiedlichen Rhythmen.

Es wird gekocht was das Zeug hält. Denn es muss geschafft werden, für den Frieden, den Eierkuchen, den Trabbi, den Volkswagen, das Eigenheim, die Solidarität, die Sauberkeit, das Ansehen, in welcher x-beliebigen Reihenfolge auch immer. Galoppierend kriechen und kriegen die Staaten voran. Lang gestreckt reihen sich die firmen- und volkseigenen Kochkessel an-, neben- und gegeneinander. Für den tagtäglichen Eintopf brauchte man immer weniger zu kämpfen. Die Preise standen auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau zu den restlichen Gütern, die sich der Mensch meint aneignen zu müssen.

Natürlich gab es in der DDR erhebliche Engpässe bei der Zutatenbeschaffung, musste man sich reichhaltig mit Zeit eindecken, um dieses oder jenes schöne essbare Detail zu bekommen. Trotzdem wurde das Angebot langsam etwas großzügiger. Innerhalb der Ernährungsindustrie konzentrierte man sich auf internationale Entwicklungen und ließ sich auf der küchentechnischen Ge-schwindigkeitswelle mittreiben. Schnell-Fertiggerichte, wie Tempolinsen, erleichterten das Küchenleben.
Das Aussehen der Lebensmittelverpackungen innerhalb der DDR kam über einem bestimmten Standard nicht hinaus. Anfangs im Westen belächelt, wurden die Packungen später zu Kultgegenständen. Leider muss man vielen aus dem westlichen, linken Spektrum unseres politischen Firmaments, den Vorwurf machen, dass sie über das Ausschlachten irgendwelcher ästhetischen Auffassungen oder Debatten um Gebrauchsgegenstände nicht hinaus denken wollten und somit die DDR, mit allem was der Staat war, ihrer Einwohner inklusive, zum Fremdkörper degradierten. Diese Verniedlichungsstrategie hatte zum Zweck, die Verantwortung für die neuere Geschichte von sich zu schieben, sich hinter der Fassade des Exotischen sicher aufzuhalten, um die Situation zu kommentieren statt mitzugestalten. Meiner Meinung nach hat diese Haltung, dieses Mangeln an Solidarität, die Neuentwicklung eines humanitären DDR-Staates verhindert, bzw. den Kohls und Anverwandten das Leben übertrieben leicht gemacht. Nun muss man sagen dass, obwohl Kohl über Jahre Hauptbestandteil eines jeden DDR- Tellers war, diese Tatsache für Helmut nie Grund gewesen ist, das Alleinrecht auf die Abwicklung des Staates der DDR zu beanspruchen. Die Degradierung zum östlichen Reservat und die Plünderung der wirtschaftlichen Reserven, wurde Helmut Kohl angetragen, auf dem Teller serviert und ohne äußerlichen Protest der bundesrepublikanischen linken Seite schmackhaft gemacht. Während die DDR-Bevölkerung und mit ihnen der Rest des Landes darüber hinweg getäuscht wurde, dass der Kohl eigentlich eine Sättigungsbeilage und keine Hauptspeise ist, begann eine gierige, unermessliche Völlerei, wurde die Vorratskammer namens DDR leergegessen, wurde der Staat, ohne auch nur mit den Zähnen zu kauen, von einigen Wenigen verschlungen.

Unterdessen saßen die Familien, die bald als Ossis bezeichnet wurden, zu Tisch. Ihre Münder zermahlten westlichen Designer Food. Sie bemerkten nicht, dass dieses Essen nicht zum Kauen gedacht war, wunderten sich nur über den luftigen Geschmack, dachten dass es so sein soll. Unbemerkt nisteten sich alte imperialistische Taktiken in den Töpfen der Ostdeutschen ein. Das Trauma der verpassten Chancen mischt sich mit Neugier, Futterneid, kapitalistischer Betriebsblindheit und falscher Naivität. Die Intellektuellen eröffnen ihre Kneipen, die Proleten ihren Imbiss. Bei solchen Gegensätzen, sind Verständigungsschwierig-keiten vorprogrammiert.

Niko Tenten ist bildender Künstler und lebt in Hamburg.

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