Wie Sicherheitsbedürfnisse Freiheitsrechte einschnüren

von Friedrich Schorlemmer
aus telegraph #105

Nun wird die Bundesrepublik der DDR wenigstens an einem Punkte ähnlicher: in den Befugnissen der Sicherheitsorgane. So wie die BRD ein Freiheitsstaat war, so war die DDR ein Sicherheitsstaat – so, wie erstere die Bürger durch den Staat schützte und der Staat dem Bürger gegenüber eine Dienstfunktion hatte, so hatte letztere darauf bestanden, dass alle Bürger „ihrem Staat“ dankbar, treu und ergeben zu sein hatten. Der Staat seinerseits tat alles, sich zu schützen, indem er seine Bürger belauschte und kontrollierte. Das Leben war Einordnung des Einzelnen in die Organisationen mit einer Gehorsams- und Unterordnungserwartung. So diente der Mensch dem Staat, nicht der Staat den Menschen. Der Staat behauptete, identisch mit der Gesellschaft zu sein. Und wer sich außerhalb stellte, stellte sich „außerhalb der Gesellschaft“. Der Staat nahm den Menschen im Dienste angeblicher Sicherheit den Atem. Staatssicherheit wurde zum höchsten Ziel derer, die alles beherrschten. Nach Freiheitsrechten hatten sich diejenigen gesehnt, die sich plötzlich die Freiheit nahmen, auf die Straße zu gehen, um der Freiheit willen – und das zu Zeiten, als es noch ziemlich gefährlich war.

Freiheitsrechte sind Entfaltungsrechte des Einzelnen sowie das Recht, sich mit anderen zu versammeln und zu verbinden. Geschützt bleibt sein privater, also der vom Öffentlichen abgetrennte und geschützte Raum (Artikel 10 und 13 GG). Der freiheitliche Staat hat prinzipiell eine offene Flanke, die durch diejenigen missbraucht werden kann, die die Offenheit kriminell oder in subversiv-politischer Absicht nutzen – durch Raub, Vandalismus, Überfall oder auch fremdenfeindliche Zusammenrottungen, durch Aufmärsche mit nazistischen Parolen. Zweifellos ist eine neue, tiefe Verunsicherung dadurch entstanden, dass zu allem entschlossene terroristische Fundamentalisten in (selbst)zerstörerischer Absicht tätig wurden. In der globalisierten, extrem mobilen und offenen Welt wird es keine 100 % Sicherheit geben können, mehr noch: wir müssen auf die Illusion totaler Sicherheit verzichten und mit dem Risiko leben, wenn wir keinen Super-Sicherheitsstaat wollen, wo jedes „Objekt“ – sichtbar oder unsichtbar – bewacht wird. Wenn wir an unserer freien Entfaltung festhalten wollen, brauchen wir Selbstvertrauen der überwiegenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in die Regeln eines gedeihlichen Zusammenlebens und Vertrauen darauf, dass die ganz große Mehrheit die Regeln freiwillig einhält und sicher sein kann, dass die zur Verfügung stehenden Sicherheitskräfte nach rechtsstaatlichen Prinzipien, auf der Grundlage der Gesetze, mit ausreichender Konsequenz Straftätern das Handwerk legen.

Unsichere Zeiten sind stets Zeiten, in denen die Demokratie dadurch gefährdet ist, dass sich antiliberale Strömungen breit machen, wo sich „der Staat“ allmählich wieder breit macht. So sind die Sicherheitspakete, die der Bundesinnenminister geschnürt hat, Mittel, auch unbescholtene Bürger einzuschnüren. Sie stellen im Prinzip alle unter einen Generalverdacht, wobei einzelne Erkennungs- und Fahndungsmethoden sehr zweifelhaften Erfolg haben werden, z. B. alle biometrischen Maßnahmen werden nur dann sinnvoll sein, wenn sie an die Grenzen Europas und in allen europäischen Staaten eingeführt würden. Auch die Rasterfahndung ist kaum tauglich, zumal viel zu viele Unbescholtene hineingeraten. In den USA, der ältesten Demokratie, wird die Freiheit in nationalem und antiterroristischem Rausch geopfert – ein erneutes Mc Carthy-Klima kommt auf. Freiheit wird real beschränkt und Sicherheit illusionär versprochen. „Law-and-Order“, Recht und Ordnung sind so stabilisierende wie missbrauchbare Tugenden menschlichen Zusammenlebens. Das Recht nennt Grenzen und Verpflichtungen für das Tun und Lassen. Ordnung – auch öffentliche – ist für einen geregelten Ablauf menschlicher Austauschbeziehungen zweifellos hilfreich, – sofern sich beide nicht verselbständigen und menschliche Entfaltungsfreiheit einengen. Wie wären schulische und betriebliche, parlamentarische oder medizinische Abläufe ohne Recht und Ordnung denkbar? Zugleich macht das, was gegenwärtig im Sicherheitspaket I und II von Otto Schily vorgelegt wird, einem Ostdeutschen angst und bange, sofern er einmal erlebt hat, was Sicherheitsorgane mit ihm machen können. Die stets braven und gehorsamen, nur nach „Recht und Gesetz“ schielenden und funktionierenden Bürger brauchten nicht einmal den DDR-Sicher-heitsstaat fürchten. Es muss weiter eine strikte parlamentarische Erfolgskontrolle für neue Sicherheitsgesetze gelten! Denn Rasterfahndung, Kontaktsperre, beobachtende Fahndung, verdeckte Ermittler, beschleunigte Verfahren, erleichterte Untersuchungshaft, Vorbeugehaft, Kronzeugenregelungen, Anzeigepflicht der Banken, elektronisches Belauschen, Überwachung von Auslandsgesprächen, Verdachtsdateien, Schleierfahndung, Speicherung von Personen, die nach „ihrer Persönlichkeit“ in Zukunft eine Straftat begehen könnten, sind jetzt schon möglich. Das schnellgestrickte Schilysche Terrorismusbekämpfungsgesetz verrät kaum noch Respekt vor der Rechtstradition unseres Landes, vor Würde und Privatheit der Bürger. Aus ihm spricht ein merkwürdiger totalitärer Geist. Welche der Maßnahmen, wenn sie in Deutschland schon in Geltung gewesen wären, hätten die Anschläge von New York wirksam verhindern können? Meine Sorgen richten sich vor allem auf umfassendes Kontrollieren von Personen, ohne Benachrichtigung der Betroffenen und ohne richterliche Kontrolle. Der Verfassungsschutz kann umfassend tätig werden. Das weckt Erinnerungen an die Staatssicherheit. Verdacht gegen Ausländer wird künftig genügen, sie abzuschieben, der Verdacht, dass sie eine Straftat begangen haben oder eine begehen könnten. Wie viel Denunziation ist da Tor und Tür geöffnet? Die vorgelegten Gesetze bedürfen einer sehr sorgfältigen Prüfung, nicht einer schnellen Verabschiedung. Sie könnten geradezu als „Ermächtigungsgesetze“ künftiger, meist strammerer Innenminister gelten und angewandt werden. Sie verfolgen noch ganz andere Ziele. Wir könnten schleichend hinter die Grundprinzipien unseres Grundgesetzes zurückfallen. Merkt Schily, wie er Schill und anderen populistischen Sicherheitseinflüsterern nicht in den Arm fällt, sondern ihnen den Weg bereitet? Zu wie viel Selbstverleugnung ist die SPD noch bereit, um wahltaktisch Stimmungen abzufangen, die sonst die Rechtskonservativen – gewohnt schamlos – für sich zu nutzen bereit sind! Wer die Freiheit um der Sicherheit willen einschränkt, wird beide verlieren. Wenn unsere Parlamentarier und die deutsche Öffentlichkeit nicht aufpassen, wird sich der Rechtsstaat unmerklich in einen Überwachungsstaat verwandeln. Natürlich wie immer mit den allerbesten Absichten! Im Übrigen ist es sehr merkwürdig, dass der Innenminister nicht an einer „anderen Front“ tätig wird, wo rechte Schläger und rechte Parolengröler sich auf den Rechtsstaat berufen, den sie im Grunde verachten, zugleich mit Baseball-Schlägern drohend. Es ist konkret der Resignation der Polizei zu begegnen, die wenig Interesse hat, Straftäter dingfest zu machen, solange man diese sowieso gleich wieder laufen lässt. Der Staat muss Straftätern wirksam seine Grenzen zeigen. Sein Recht muss so beholfen sein, dass er die Grenzen nicht selber verletzt. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass alle die Grenzen einhalten, die im freiheitlichen Lebensinteresse aller liegen. Die Freiheit gilt es zu schützen, ohne sie substantiell einzuengen.

Friedrich Schorlemmer ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Wittenberg.

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