DIE LANDWIRTSCHAFT IN POLEN UND DER EU-BEITRITT

von Marcin Wawrzyn
aus telegraph #106

KURZER HISTORISCHER ABRISS
Polen war immer ein landwirtschaftliches Land. In der Zeit der Renaissance entstand durch die Vereinigung der Länder, die heute zu Polen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine gehören, ein Staat, den seine Einwohner den „Kornspeicher Europas“ nannten. Über den Danziger Hafen wurde hauptsächlich Getreide, Holz, Honig und Fell/Leder exportiert. Im Gegensatz zum Westen, wo das Bürgertum überwog, brachte das damalige Polen auch eine ländliche Kultur hervor, die durch den Landadel – die Schlachta – repräsentiert wurde. Am Ende des 18. Jahrhunderts bricht dieser Staat zusammen und sein Land wird von den Nachbarmächten eingenommen. Während der Besatzung entstehen in der Bevölkerung viele gesellschaftliche Initiativen. Neben sozialistischen und Befreiungsbewegungen gibt es auch die Bauernbewegung. Die Ideen der Bauernbewegung sind dominiert durch Agrarismus, Genossenschaftswesen und Kooperationssystem. Wichtigster Theoretiker jener Zeit ist Edward Abramowski, der heute Vater der Solidarnosc genannt wird und zu dem sich auch die polnischen Anarchisten bekennen. Um die Jahrhundertwende entsteht eine Vielzahl von Agrargenossenschaften und unabhängigen Schulen auf dem Land. Es erscheinen Zeitschriften. Bis zum zweiten Weltkrieg besteht die allgemeine Ansicht, dass die Menschen auf dem Land eine Gemeinschaft bilden sollten, die beruhen sollte auf Nachbarschaftshilfe, Tauschhandel ihrer Erzeugnisse ohne Geld und Achtung der Natur. Nach dem zweiten Weltkrieg kommen die Zeiten der Zwangskollektivierung und Verstaatlichung – das heißt, die Partei will allen Boden und alle Betriebe beherrschen. Daraus gehen zahlreiche gesellschaftliche Proteste hervor, die sich in Polen ungefähr alle zehn Jahre verstärken: 1946, 1956, 68-71, 80-81, 1989. Die stärkste Blüte erlebt das ländliche Leben zur Zeit der Solidarnosc in den Jahren 1980/81. Es entsteht die Solidarnosc der Einzel-/Privatbauern, sie versucht, zum Agrarismus und zum Genossenschaftswesen zurückzukehren. Nach 1989, als es zu einer Verständigung zwischen den Kommunisten und einem Teil der Opposition kommt, beginnt die Zeit des Kapitalismus. (Walesa ist dafür bis heute in Polen unbeliebt.) Alle Werften, Bergwerke und andere Betriebe werden, genau wie die Staatlichen Agrarbetriebe (vergleichbar Kolchos, LPG), privatisiert; und die Gesellschaft bekommt davon nichts. Die 90er Jahre sind Jahre der gesellschaftlichen Apathie. Wenn es zu gesellschaftlichen öffentlichen Auftritten und Protesten kommt, dann geht es um Geld, das alle von der Regierung wollen. Niemand kämpft um Selbstverwaltung in Stadt und Land oder wenigstens um die Befreiung der Bauern von Steuern, so dass sie wirtschaftlich unabhängig sein und ohne den Staat leben könnten.

CHARAKTERISIERUNG DER POLNISCHEN LANDWIRTSCHAFT
In der jetzigen Situation zeichnet sich die polnische Landwirtschaft aus durch: – eine hohe Beschäftigungsrate auf dem Land (ca. 25%), – eine große Anzahl (ca. 2,1 Mio.) kleiner Familienbetriebe (mit einer durchschnittlichen Fläche von 8,5 ha), das sind 80% aller Betriebe, – eines der niedrigsten Nutzungsniveaus von Agrarchemie in Europa (infolge der Wirtschaftskrise), – eine große Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren (sowohl angebaut/gezchtet als auch wildlebend in der lndlichen Umgebung), – kurze Distanzen zwischen Produzent und Konsument. Das bedeutet: die Landwirtschaft ist Haupteinkommensquelle etwa der Hälfte der polnischen Bevölkerung. Sie hat lokalen Charakter, was den Transport von Nahrungsmitteln über weite Distanzen überflüssig macht (geringerer Verbrauch von Kraftstoff und Konservierungsstoffen). Man muss hinzufügen, dass der Großteil der Menschen, die in Städten leben, dort seit zwei bis drei Generationen lebt und ein großer Teil ihrer Familie auf dem Land lebt. Viele Leute haben also Zugang zu Grundnahrungsmitteln zu niedrigen Preisen oder sogar kostenlos; außerdem liefert der Wald Pilze, Kräuter und Waldfrüchte.

ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT IN POLEN
In dieser Lage hat Polen große Möglichkeiten im Bereich der ökologischen Herstellung von Lebensmitteln. Fragen wir uns aber zuerst einmal, was das bedeutet, dass Landwirtschaft ökologisch ist. Die internationalen Prinzipien für ökologischen Landbau kann man folgendermaßen zusammenfassen: Tier- und Pflanzenproduktion finden auf nicht verseuchten Flächen statt, ohne Agrar- und Veterinärchemie – nur die obligatorischen Impfungen sind zugelassen; die Lebensmittel sind frei von GMO; die Produktqualität wird durch eine produzentenunabhängige Stelle kontrolliert. Die ersten Organisationen von Ökobauern entstanden am Ende der 80er Jahre. Sie sind jedoch schwach und haben nur geringen Einfluss auf die Staatspolitik. Momentan gibt es in Polen ca. 180 Biobetriebe. Die S ??d ?Aituation verbessert sich jedoch: seit einigen Jahren subventioniert das Landwirtschaftsministerium die Gründung und Führung ökologischer Betriebe. Vor kurzem wurde auch ein Gesetz zum ökologischen Landbau verabschiedet, es ist jedoch kläglich, zum Beispiel reguliert es nicht den Handel mit nicht pasteurisierter Milch. Außerdem gibt es in Polen kaum Kontrolle genetisch veränderter Organismen, was bekanntermaßen viele negative Folgen haben kann.

DIE VERHANDLUNGEN ZWISCHEN POLEN UND DER EU

Bei den Verhandlungen mit der EU wäre es die vernünftigste Lösung, auf die Entwicklung der ökologischen Landwirtschaft zu setzen. Dies würde auch den Reformen entsprechen, die derzeit in den EU-Ländern vor sich gehen. Deutschland will beispielsweise den Flächenanteil der Bio-Betriebe von 4% auf 20% vergrößern. Leider jedoch besteht die EU in Polen auf hochspezialisierte Großbetriebe. Mit dem Eintritt Polens in die EU müssen schätzungsweise 1,3 Millionen Betriebe geschlossen werden. Wenn die kleinen Betriebe Hoffnung haben können, dann nur bei einer Fläche von einigen 10 Hektar – bei einer jetzigen Durchschnittsfläche von 8,5 ha. Die polnische Regierung und die EU-Kommission streiten sich lediglich darüber, wie viel Geld zu diesem Ziel zur Verfügung gestellt wird. Momentan liegt im Sejm ein Gesetzesentwurf zur staatlichen Agrarstruktur. In dem Entwurf werden zwei neue Begriffe eingeführt: die minimale und die maximale Betriebsfläche. Abhängig von der Wojewodschaft werden diese Größen 10-100, 15-200 und 20-300 ha betragen. Kleine Betriebe verlieren damit die Existenzberechtigung. Wenn die „europäische“ Option sich durchsetzt, müssen wir: – chemische und schlecht schmeckende Produkte essen (die billiger sein werden, weil sie subventioniert sind), – ca. 1,3 Mio. Kleinbetriebe auflösen und dafür ca. 800 000 „Eurokolchosen“ schaffen, – uns mit einigen Millionen weiteren Arbeitslosen auf dem Land beschäftigen (derzeit betrgt die Arbeitslosigkeit in Polen ca. 18%), – uns von der Imkerei, dem Heilpflanzenanbau und dem Kartoffelanbau verabschieden (die Europ ische Union hat angekndigt, dass diese nicht subventioniert werden; Polen ist einer der grten Produzenten von Honig, Krutern und Kartoffeln in Europa), – uns mit dem Aussterben weiterer Tier- und Pflanzenarten abfinden, da die Artenvielfalt der Monokultur weichen wird.

CHARAKTERISIERUNG DER EU-LANDWIRTSCHAFT: GEMEINSAME AGRARPOLITIK
Um diesen Prozess zu verstehen, müssen wir uns die Landwirtschaft der EU näher betrachten. Die Funktionsprinzipien der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik kann man folgendermaßen zusammenfassen: – bevorzugt werden große Landwirtschaftsbetriebe, – es existiert eine weitgehende Spezialisierung der Produktion, – die Agrarproduktion ist subventioniert. Zu den Folgen der Gemeinsamen Agrarpolitik muss man folgendes rechnen: – das Verschwinden von jährlich 500 000 Landwirtschaftsbetrieben in der EU, die durch immer größere, geradezu gigantische Großbetriebe absorbiert werden; – die Spezialisierung der Produktion beruht darauf, dass die Spanier für Oliven und Tomaten da sind, die Holländer und Schweden für Milchprodukte und die Deutschen für Möhren, was zu zahlreichen Reibereien und Konflikten führt (bei den Italienern wachsen genau so gute Tomaten, die Franzosen wollen auch Subventionen für Milch usw.); – unerlässlich ist der Transport von konservierten Nahrungsmitteln über sehr große Entfernungen; – die Lebensmittel selbst sind subventioniert (und somit billiger) und „reich“ an Kunstdünger und Spritzmitteln (die ??d ?Afür die Subventionen gekauft wurden), was sich im Geschmack und der Gesundheit der Menschen niederschlägt, ebenso auf den Zustand des Bodens; – die Tierproduktion basiert auf artenfremde industrieller Haltung, deren Folgen Dioxin in Hühnern, Maul- und Klauenseuche und BSE sind.

ALTERNATIVEN FÜR DIE POLNISCHE LANDWIRTSCHAFT – BEISPIELE FÜR EUROPA
Wenn Polen auf die ökologische Landwirtschaft setzt, könnte es durchaus die Agrarmärkte einiger der 15 Unionsländer destabilisieren, da es zu einem wichtigen Produzenten billiger und gesunder Lebensmittel würde (in der EU sind ökologische Produkte 2-3mal teurer; in Polen gilt das Prinzip, dass der Ladenpreis des konventionellen Produkts gleich dem Großhandelspreis des ökologischen Produktes ist; von einem großen Preisunterschied kann also keine Rede sein). Dies ist jedoch nicht das Ziel der polnischen Politik. Auch die EU strebt nicht in diese Richtung. Momentan wird viel über eine Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik gesprochen, dies wird allerdings Jahre dauern. Wenn die Reformen in Richtung Ökologisierung der Landwirtschaft gehen sollen, dann stellen wir uns doch die Frage: Lohnt es sich, Polen seiner guten Voraussetzungen zu berauben? In Polen produziert die Mehrheit der Bauern Lebensmittel auf ökologischer Grundlage, sie besitzen aber kein entsprechendes Attest, keine obligatorischen Bodenuntersuchungen und vor allem kein Wissen über die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten. Für viele Menschen wäre die Arbeit im ökologischen Landbau – und sollte dies vielleicht auch sein – die Rettung vor der Arbeitslosigkeit. Eine saubere Umwelt und eine große Anzahl an ökologischen Familienbetrieben gäben der Entwicklung der Agrotouristik eine Chance, die einen weiteren Ausweg für den polnischen Bauern darstellen kann. Ebenso lohnt es sich, zu den alten Prinzipien des Agrarismus zurückzukehren: kleine Agrargenossenschaften gründen, nachbarschaftliche Kontakte auf der Grundlage gegenseitiger Hilfe und nicht Konkurrenz aufbauen, lokale Kooperative bilden, die ihre nächste Umgebung ernähren können. Die Frage, ob dies tatsächlich so wird, bleibt offen.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph