HANNA SCHYGULLA, BRASILIANISCH

von Klaus Hart
aus telegraph #106

Vorm ersten Brechtabend in dem Tropenland brauchte sie nur raus aus der Hotelsuite Sao Paulos, runter auf die Rua Augusta – und hatte Mackie-Messer-Szenerien pur: Kleine, große Gangster, Top-Manager, Dealer, Nutten, Luxuslimousinen, Absteigen, teure und billige Restaurants, Geistesgestörte und Besoffene, abgerissene Straßenkinder und verelendete Familien, die in stinkenden Müllsäcken nach Essbarem wühlen, nachts im Dreck der Bürgersteige schlafen. Gleich daneben Lateinamerikas Wallstreet, Bankenpaläste von Milliardären, Globalisierungsgewinnern. Nur Schritte entfernt, trat die von der Kritik als „Amazone, brechtsche Anti-Walküre“ Gefeierte vors Publikum – hatte, absichtlich oder nicht, überdeutliche Bezüge auf die brasilianische Realität en masse im Programm, durchweg in exzellentem Spanisch. Den Mackie-Messer-Song brachte sie zweimal, spielte ihn außerdem mit Brechts Stimme ein – in einem Land extrem korrupter, zynischer Machteliten, die auch im jetzigen Präsidentschaftswahlkampf nach Kräften versuchen, wieder ihre Leute an die Spitze zu hieven. Damit alles so bleibt, wie es ist: Die weltweit fast krassesten Unterschiede zwischen Arm und Reich, Elend wie in Afrika und sogar noch Sklaverei – in der immerhin elftgrößten Wirtschaftsnation der Welt. „Die Unerträglichkeit des Seins“, sagt sie im Interview, „ist hier bis auf die Spitze getrieben, gibt es diese Art von Obszönität – und deshalb denke ich , dass Brecht eben nicht tot ist, sondern hochaktuell – die Haifische schwimmen nach wie vor in den Meeren der großen, umlaufenden Gelder. Globalisierung zielt doch nur auf Maximierung der Profite.“ Und Haifisch, Tubarão ist in Brasilien geradezu ein fester Begriff, wenn es um Figuren der Geld-und Politikerelite geht, denen auch die größten Bestechungsskandale, Enthüllungen über absurdesten Machtmissbrauch letztlich nichts anhaben können. Hanna Schygulla interessiert natürlich brennend, wie Künstler, Musiker, die einfachen Leute mit diesen Problemen, dieser Realität umgehen. „Die Lichtseite dieses großen Schattens ist, dass die Menschen viel mehr im Jetzt leben, weil alles so unstabil ist. Da man nicht weiß, ob morgen etwas noch so sein wird wie heute, gibt man sich dem Heute wirklich mehr in die Arme. Während wir in Europa doch sehr krampfen, immer sehr am Festhalten sind – und am Planen. Und ist das Leben? In diesem höchst gefährdeten, höchst unausgeglichenen, durch viele Erdbeben sozialer Art erschütterten Brasilien sind indessen trotz allem sehr viel Glücksmomente möglich, passiert kulturell sehr viel.“ Anfang der Neunziger steckt ihr jemand bei Dreharbeiten auf Cuba eine Kassette mit Liedern von Maria Bethania zu – die hört sie jeden Tag, ist fasziniert. „Es gibt ja Stimmen, da hat man das Gefühl, die möchte man trinken, die sind wie ein Elixier – und sie hat so eine – ist für mich eigentlich die Stimme Brasiliens.“ 1993 sieht, hört sie Maria Bethania in Rio de Janeiro erstmals auf der Bühne – beide treffen sich, werden enge Freundinnen und jetzt, ebenfalls in Sao Paulo, der erste gemeinsame Auftritt, im schönsten Konzertsaal der 17-Millionen-Stadt. Man war gespannt, welchen Titel Hanna Schygulla unbedingt mit Maria Bethania singen wollte. Die Wahl fiel auf Emoções, ganz intensiv gelebte Gefühle – ein sentimentaler Bolero-Hit von Roberto Carlos, Brasiliens seit Jahrzehnten erfolgreichstem Sänger, Komponisten und Texter – in Deutschland jedoch von den Worldmusic-Puristen als schnulziger Schlagersänger heruntergemacht, im Radio so gut wie nie gespielt. Für Hanna Schygulla liegt das auch an der Unfähigkeit vieler Deutscher, mit großen, romantischen Gefühlen umzugehen – für Brasilianer gewöhnlich kein Problem. „Deshalb sind auch die deutschen Schlager so schrecklich. Roberto-Carlos- Lieder, noch dazu von Maria Bethania gesungen, finde ich wunderbar. Die Musik des eigenen Landes ist das Blut, das durch die ganze brasilianische Kultur pulsiert – die Texte haben es in sich, das ist kein billiges Zeug, sondern lebendige Poesie!“ Man spürt es – Hanna Schygulla liebt Lateinamerika, keine andere deutsche Künstlerin hat so enge Beziehungen zum Theater und zur Musik Brasiliens. Sämtliche ihrer Filme mit und nach Faßbinder hatten hier einen enormen Erfolg. Mit Maria Bethania singt sie nicht nur „Emoções“ zusammen, auch Französisches, dazu „Lili Marlen“ – das Publikum ist vorhersehbar aus dem Häuschen, man hörte beide gerne öfters. Das wird passieren – „Vidas paralelas“, parallele Lebensläufe, heißt ihr nächstes Projekt für Brasilien und sogar Europa, mit viel Wort und Musik, Persönlichem, ein Zeitporträt. „Wir sind nun mal jetzt alle in einem Boot – faszinierend, aus verschiedenen Kulturen zu kommen, die Sprache des anderen zu erlernen.“

Klaus Hart ist Journalist und Autor und lebt in Brasilien und Berlin.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph