EUROPA

von Wolfgang Wolf
aus telegraph #106

In Ausgabe 105 hat sich ein von mir und sicher auch vielen andren Lesern lange vermisster telegraph-Autor zurück gemeldet, Wolfgang Rüddenklau. Gründer des telegraph und seiner seit den 80ern erscheinenden Vorgängerin, den Umwelt- Blttern. Der Titel seines Beitrags, „Bündnisfragen“, weist ihn als Mitstreiter jener bunten Schar Prominenter der oppositionellen politischen DDR -Szene aus, die kürzlich nach einem Dutzend Jahren öffentlich bekundet haben „es satt zu haben!“ Sein Beitrag: ein erfrischender Rundumschlag; auch jener Passus, in dem er für ein „unverstelltes Verhältnis der deutschen Linken zur deutschen Frage“ plädiert.Zunächst eine begriffliche Klarstellung. Politiker und Journalisten haben ein Massenbewusstsein erzeugt, das die Kritik an Regierungen und anderen Machtstrukturen in rassistische oder nationalistische Vorurteile ummünzt. In so fern war es mehr als unglücklich, wenn W.R., wie w.u. zitiert wird, deutsche Interessen us-amerkanischen Ölinteressen entgegensetzt. So fern sich nationale Interessen überhaupt definieren lassen, sollte man deutsche nur mit US-amerikanischen vergleichen, hingegen vom deutschen Finanzkapital dominierte Herrschaftsinteressen mit jenen von US-amerikanischen Ölmultis majorisierten. Aber da beginnen schon meine Zweifel an jener Passage. Worin besteht eigentlich, nach Herstellung der staatlichen Einheit und der Übertragung der gesellschaftlichen Grundlagen der BRD (einschl. ihrer politischen Strukturen und ihrer Rechtsordnung) auf das Anschlussgebiet, die so genannte „deutsche Frage“? Ich meine, dass ich mich mit meiner Vorstellung über das Wesen der so genannten >nationalen Frage aller fortgeschrittenen, also heute im Wesentlichen bürgerlich-kapitalistischen, Nationen im Einklang nicht nur mit Marx, sondern z.B. auch mit einem eher linksliberalen Linken, der nicht viel vom Marxismus hielt (ich meine Tucholsky) befinde. Lange vor der staatlichen Teilung Deutschlands registrierte Tucho ein >geteiltes< Deutschland. Die nationale Frage besteht eben nicht nur in der Herstellung staatlicher und gesellschaftlich-struktureller Einheit, (ganz abgesehen davon, wie solche Zweifel los von der Mehrheit beider Teile Deutschlands gewollte Einheit zu Stande kam), sie hat darüber hinaus auch nicht nur eine außen- und sicherheitspolitische Dimension, auf die sie von W.R. reduziert wird, sondern eben auch eine innere, sozial-strukturelle. W.R. schreibt: „Es darf durchaus nicht tabu sein, deutsche und europäische Interessen gegen beispielsweise die der USA zu benennen. Es wäre gegen den gegenwärtigen Wirtschaftskrieg im Interesse der US-amerikanischen Ölkonzerne die Idee eines blockfreien und friedenspolitischen Deutschlands und Europas zu zeigen, die eine Vorreiterrolle in der Welt hinsichtlich der Stiftung von Frieden und Entwicklungshilfe spielen und die im Inneren durch unerhörte Experimente mit sozialer und politischer Integration von sich reden machen.“ Mal abgesehen davon, dass W.R. hier klammheimlich (aber natürlich mit Recht) die „deutsche“ Frage in eine europäische auflöst; mit Recht, denn angesichts der realen europäischen und globalen Situation schließt sich natürlich ein solcher, vom Standpunkt aktueller Machtinteressen aller hoch entwickelten kapitalistischen Länder ungeheuerlich friedens- und entwicklungspolitischen realpolitischen Kurs für ein einziges Land, selbst wenn dies Deutschland wäre, von vorn herein aus. Beschränken wir uns also auf ein großes Staatenbündnis hoch entwickelter kapitalistischer Länder, etwa die EU. Welche Machtkonstellation jenes Staatenbündnisses (oder -bundes), bitte sehr, soll angesichts der Interessen der Herrschenden und Mächtigen in allen jenen Ländern an einer solchen Politik interessiert sein, sie also umsetzen? Ich hoffe doch, W.R. wird bei seiner Konfrontation „deutscher“ mit „Erdöl bestimmten US-amerikanischen Interessen“ nicht die gegenwärtigen Kontroversen europäischer Regierungen und der Kommission über die stärkere Beteiligung an Entscheidungen und am Vollzug internationaler oder gar globaler Machtpolitik im Auge haben. Er schließt’s ja selbst aus, in dem er seine Vorstellungen gegen den aktuellen >Wirtschaftskrieg< setzt. Wie solche Konflikte auch ausgehen; mit den Vorstellungen von W.R. haben sie jeden Falls nichts zu tun. W.R. ahnt natürlich die innere gesellschaftspolitische Dimension seiner Vision. Wie sonst ist die Passage über „unerhörte Experimente mit sozialer und politischer Integration“ zu verstehen? Aber wie soll das denn passieren? Was meint er denn nur mit jenen „unerhörten Experimenten“? Wenn dieser Teilsatz überhaupt einen Sinn macht, so kann er nur meinen, dass über eine progressive Friedens- und Entwicklungspolitik ökonomisch hoch entwickelter Länder gesellschaftliche Strukturen im Inneren (oder in den Zielländern?) verändert werden sollen? Im Innern ist dies schlechterdings kaum vorstellbar, eben weil die Herrschenden daran nicht interessiert sein können und das Parteien dominierte parlamentarische System aus vielerlei Gründen unfähig ist, die machtpolitischen Veränderungen dafür hervor zu bringen. Und außenpolitisch? Da haben wir unsere Erfahrungen mit neokolonialistischer Entwicklungspolitik und entwicklungspolitisch orientierter Außenwirtschaft quasisozialistischer Länder. Immer wieder beißt sich der Hund in den eigenen Schwanz: Ohne tiefe Eingriffe in die eigne gesellschaftliche Struktur wird’s nicht gehen; zum Mindestens wird’s hiermit anfangen müssen. Über die Formulierung außenpolitischer Zielstellungen wird die von W.R. geforderte >nationale< Massenbasis nicht herstellbar sein. Wie sonst? Der vor wenigen Monaten verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu schrieb vor zwei Jahren unter dem Titel „Für eine europäische Aufklärung“: „Die Schaffung Europas ist eine Sache der Machthaber und Mächtigen, und die aktuelle Kritik daran ist in der Tat so wenig europäisch, dass sie wirkungslos und unnütz, letztlich noch zur Stärkung der europäischen Ordnung beiträgt, weil sie letztere, im Gegensatz zu den archaischen Widerständen eines reaktionären Nationalismus (der leider unbestritten vorhanden ist), als modern oder gar fortschrittlich erscheinen lässt. Im Zentrum des Unternehmens Europa muss etwas geschaffen werden, was die europäischste aller Traditionen aufnimmt, nämlich eine kritische soziale Bewegung, eine Bewegung der Sozialkritik, die in der Lage ist, die Gestaltung Europas zum Gegenstand europäischer Auseinandersetzungen zu machen, und die über gleichermaßen intellektuelles wie politisches Gewicht verfügt, um sich Gehör zu verschaffen und reale Effekte zu erzeugen.“ (zit. nach >Utopie kreativ, 139/389) Ein solcher Effekt könnte im Ergebnis erreichter sozialer Veränderungen auch jene von W.R. formulierte friedens- und entwicklungspolitische Linie sein.

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