43 TAGE HUNGER

von Lothar Feix
aus telegraph #108

„Was verworren ist, muß zusammengesetzt sein; denn im Einfachen gibt es weder Ordnung noch Verwirrung.“ (Kant)

Buch, dachte ich, das wird nach den zwei Wochen Fröbelstraße so etwas wie eine Erholung werden, selbst wenn es wirklich Krebs sein sollte. Ich hatte ja nun diesen Stent in der Speiseröhre (Oesophagus), der die Fistel verschloß und mich wieder fast normal essen & trinken ließ. Fast normal; meinen Frühstückskakao mit Rum, meine Vietnam (Wodka mit den Vitaminen des Grapefruitsaftes), die Erdbeermilch und der Genever fehlten mir schon noch, wie auch die wunderbaren Leberwurstbrötchen, die ich montags gegen 6 Uhr früh, kurz nach der Nachtschicht im Torpedokäfer bei meinem Bäcker zu holen pflegte. Übermüdet und glücklich, die Nacht überstanden zu haben, auf dem Bett zu sitzen, einen Kakao mit Rum im Glas, zwei Leberwurstbrötchen und eins mit Ei – das scheint mir die bestmögliche Art zu sein, in irgendeine Woche einzusteigen, denn das mit den Frauen, nun, das ist wie mit der Revolution, alles zu seiner Zeit, nicht aber alles zu jeder Zeit.
Die vierzehn Tage Krankenhaus Prenzlauer Berg, die hatten durchaus gereicht, mich auf mehrere Wege zu den Tugenden zu führen, mich zu bestimmen, erheblich zielstrebiger den Schwulst mehr statt minder nutzloser Texte meiner minderwertigen Vergangenheit abzuarbeiten. Der Müßiggang, das war mir klar geworden, mußte ein anderer werden. Das wüste Leben würde, stärker noch als es ohnehin schon war, eine Vorspiegelung seiner selbst werden müssen. Ein gewisser schlechter Ruf erspart es einem, diesen ständig aufs neue zu erwerben. Gebärden, Gesten, Anspielungen genügen, und alle Laster der Welt gelten als erledigt; was meinem Hang zum Müßiggang, anderen als Faulheit bekannt, entgegenkommt.
Nein, fortan würde ich mein Leben etwas straffer organisieren. Die Tage, die ich ohne Speis & Trank am Tropf verbringen mußte, und, ja fast noch mehr, die wenigen Tage zuvor, da ich mit großem Appetit die tatsächlich unglaublich leckeren Angebote des Krankenhausessens – Kaninchenbraten, Erdbeersorbét, echter Vanillepudding, Matjesheringe in pikanter Marinade usw. – doch nur auskotzen konnte; diese Zeiten hatten genügt, mir das ungenügende meiner bisherigen Lebensführung zu demonstrieren. Es waren zwei Wochen ‘Urlaub’, verschärfte Bedingungen, eine Aus-Zeit vom Leben, von der Kneipe, den Kumpanen, Geschwätz; Zeitverschwendung pur, Tag für Tag. Nein, das nie wieder!
Zum Schluß hatte ich in einem 4er-Zimmer gelegen, zum Glück am Fenster, daß ich rausschauen, die Stadt sehen konnte, durch die Bäume und Büsche des kleinen Parks den Verkehr auf der Dimitroffstraße ahnte, Zeppeline den Himmel über der Innenstadt kreuzen und Polizeihubschrauber sich schämen sah; etwas von jenem Leben eben, das ich bisher recht achtlos hatte passieren lassen.
Neben mir lag ein krankenhauserfahrener Proll mit der uneingeschränkten Gewalt über die Fernbedienung des TV-Gerätes, was ihm und einem alten Mann viel Freude bereitete: Bunte Abende aus der Stadthalle Chemnitz mit allseits beliebten Interpreten volkstümlicher und witziger Melodeien; da jauchzten ihre Herzen auf, denn beide hatten es entweder am Darm oder zuviel Wasser in den Innereien.
Später wurde der Alte durch einen sehr siechen Menschen ersetzt, der an den Tropf gehängt, laut und vernehmlich klagte: „Bin ich überhaupt noch am Leben? Ich bin doch eigentlich gar nicht mehr da!“
Sollte mir das eine mittlerweile unnötige Mahnung sein? Sollte ein heilsamer Schrecken meinen doch schon genug geschundenen Leib durchfahren? Wurde gemeint, mir müßte mit drastischster Deutlichkeit demonstriert werden, was mir bei fortgesetzt unnützem Lebenswandel blühen könnte? Wollte man mir, der ich furchtbar abgemagert bin – denn vermeide das mal ohne Nahrung – einen Spiegel vor die eingefallene Visage halten? Der alte Mann am Tropf, der nur noch hin und her geschoben wird, dürr, kraftlos & sehr entmutigend = meine Zukunft, Gegenwart gar?
Ist das eine Prüfung? Aber wer sagt denn, daß ich es bin, der da geprüft wird? Vielleicht bin ich ja nur ein Teil der Prüfung eines anderen, ist mein mieses Schicksal hier also nichts als etwas Kollaterales, diese Prüfung real zu gestalten. Daß es so unwichtig ist, das macht das Leiden ja so unerträglich sinnlos, daß man kalt lächeln oder anderen Leid zufügen möchte.
Ich nicht, ich will da doch lieber etwas mit Schlagsahne, Erdbeeren zum Beispiel.

Ja, es wurde Zeit den Ort zu wechseln. Essen ist wieder an die angestammte Stelle getreten, bloß per Tropf ernährt zu werden ist mir als grauenhafte Erfahrung eingeschrieben, ein Appetit kommt mir jetzt zu den schlichtesten Dingen. Das alles gilt es nun bewußter wahrzunehmen, zu genießen; alles andere wäre Verschwendung der vielleicht wertvollsten Dinge, die das Leben einem Menschen nahe der 50 zu bieten hat.
Reis gab es, Reis mit einem Ragout aus Fleisch und Pilzen. Es war ein Genuß, wäre ein Hochgenuß geworden, hätte der sieche alte Mann sich nicht wieder geruchsaktiv eingeschissen, in einem von der Mittagssonne aufgeheizten Zimmer.

Jetzt kann es nur noch aufwärts gehen.
Daß die Klinik in Buch Rössle heißt, also ähnlich dem Bierverleger Rössler, das scheint mir wenn schon ein Zeichen, so doch ein hoffnungsvolles. Der Rest ist Krankenhaus, und Krankenhaus ist größtenteils auch nur die Langeweile zwischen den Mahlzeiten, den jämmerlich nichtssagenden Visiten, hilflosen Untersuchungen und den schlaf- wie traumlosen Nachtruhen. Ich bin kein Krankenhausprofi, ich will mich auch nicht daran gewöhnen. Ich bin kein Teil dieses Systems.
Ich brauche Buch auch als eine berechenbare Erholung. Der Crash-Kurs Fröbelstraße hat mich gegen Etliches an Zumutungen gehärtet; die Absehbarkeit der folgenden Heilbehandlung wird mich lehren, in der Langeweile einen Teil Sanatorium zu sehen, wird mich überreden können, die Zeit zur bewußten Erholung zu nutzen.
Ja, Buch, das müßte schon so etwas wie Erholung und Aufpäppeln sein, die Wiederherstellung meines ‘Kampfgewichtes’, wenn ich denn nur wüßte, was ich wog als es mir prächtig ging. Solche Fragen soll man hier ständig beantworten können, ganz als sei das Leben gefälligst nur als Vorbereitung auf einen Krankenhausaufenthalt zu führen. Egal.
Ich werde vernünftig essen und trinken, werde auch den Wiedereinstieg in das aktive Raucherleben verschieben; ja, ich bin gewillt, allen halbwegs für sinnvoll erscheinenden Regeln zu folgen. Den Bestrahlungen sehe ich mit naivem Interesse entgegen; die womögliche Verabreichung nichtsnutziger Chemikamente erfüllt mich zwar mit einigen Sorgen, doch soll auch das, falls es denn hilft, mich rasch zurück ins Leben kehren zu lassen, nicht an mir scheitern.
Ich vermisse den Tresen.

Doch das ist nur der Krebs, und was des Krebses ist, soll auch des Krebses sein und sollte sich nach einiger Zeit ambulant erledigen lassen. So wie A. es vom Urbankrankenhaus zu berichten wußte, daß da die Leute auf Kassenkosten mit’m Taxi zur Behandlung gefahren kommen und ebenso zurück in ihr Leben, was bei mir wohl vom Käfer zurück in denselben bedeuten wird.
Und ebenso sagt’s ja auch die recht hübsche junge Ärztin mit dem burschikosen Haarschnitt: Wenn es denn klappt mit Ihnen, dann können Sie freilich in 1, 2 Wochen in den ambulanten Verkehr aufgenommen werden. … 1, 2 wochen zur Erholung und Eröffnung der Heilbehandlung hier bleiben. Und ringsum in Buch stehen komische Bäume mit Nadeln an den Ästen, gelegentlich auch Häuser der niederen Art, mickrig entmutigte Waldparks sollen einen Sanatoriumsaufenthalt gaukeln, vermitteln aber nur etwas von FDGB oder FDJ, etwas Verordnetes, vermutlich gibt es Club-Cola und das herrliche Zeugs mit Maracuja-Geschmack, das vermiß ich seit längerem, fällt mir gerade ein. Es muß die Zeit der Wende gewesen sein, die letzten Plakate, die ich auf Leinen zog und in den Fernsehturm hängte; damals gab’s das Zeugs zu trinken. Lang ist’s her. Damals war an Krankenhäuser längst nicht zu denken, jedenfalls nicht als etwas, das man persönlich nehmen sollte.
Nun, in Buch gelandet, nahe des Kunsthofes, wo wir damals Plakate und Fotos rahmten und das wohlschmeckende Zeugs mit Maracuja tranken, scheint mir das Schlimmste erst einmal ausgestanden, ist das Loch in der Speise-Tube doch gedichtet und kann ich wieder ordentlich essen und trinken und werde das auch tun, bis ich zumindest mein Normalgewicht – wenn ich bloß ahnte, welches Gewicht mir als normal gegeben ist – erreiche, ja, es im Liegen, Stehen, Sitzen und Laufen gar übertreffe. Es kann nach der schmerzlichen Erfahrung mit dem Tropf nicht von Schaden sein, zuzulegen; zumindest das Gewicht eines zu stemmenden Bierfasses sollte ich gut übertreffen, werde ich dergleichen doch noch weiterhin durch den Kneipenkeller bewegen müssen.
Ja, ein wenig Erholung und Abstand können nur gut tun, zumal die Nähe der Fröbelstraße zur Welt und der daraus gefolgerte Besucherstrom einiges an zur Besinnung gedachter Zeit paralysierte. Erholung, Heilung, noch etwa zwei Wochen Rekonvaleszens, dann wäre ich reichlich über einen Monat fort gewesen und käme in ungeahnt properer Verfassung zurück, den Laden, die Leute, Landschaften und Liebe aufzumischen.
Buch öffnet sich mir erstmal damit, daß keiner weiß, wo ich hin soll. Die Ärztin scheint leider unzuständig obwohl kompetent zu sein. Ich freu mich darauf, sie wiederzusehen.
Dann klärt sich alles und ich komm auf eine Station, auf der eine ältere Schwester, vom Aussehen her die Hedwig Bollhagen, so was wie ein Sagen zu haben scheint. Zimmer, Zimmernachbar und Bett werden mir zugeteilt. Ich sitze also ratlos rum und versuche den Fortgang zu erraten. Wann gibt es Essen? Endlich kommt der Arzt, und mit dem Arzt kommt die erste schwere Prüfung. Die Prognose meines hiesigen Verweilens geht weit über einige Tage hinaus, weit über das, was Vernunft und Wille mir zuträglich halten, geht fast über den gesamten Sommer hinweg. Ich fühl mich so gut wie tot und erledigt.
Diese Klinik hier wirkt irgendwie schäbig; so schmucklos, lichtlos, eine Abstellkammer halt, und sie ist so fern von allen Menschen gelegen.
Angesagt sei hier also Langeweile, vermeldet der Zimmernachbar; etwas Bestrahlung ab & an, etwas Chemo dann & wann. Und zwischendurch ist alles nur tot mit den unangenehmen Nebenwirkungen der Therapie; einer Therapie ohne Erfolgsgarantie, aber von mindestens 5- bis 7-wöchiger Dauer!
Stickige Luft und ein Berufskranker im Zimmer (seit 1 Jahr auf Tumorbehandlung), kein TV-Gerät zur Ablenkung, aber ein tumb ignoranter Schnösel von Arzt: „Sie können hier auch jederzeit gehen, das ist dann auf Ihre eigene Gefahr. Ich kann und will Sie hier gar nicht festhalten. Aber wenn wir den Tumor nicht bestrahlen, dann wächst er weiter. Niemand kann genau sagen, wie hoch Ihre Lebenserwartung mit oder ohne Bestrahlung ist, aber ohne Bestrahlung, da ist sie eher gering. Und was Ihre Wünsche nach einer ambulanten Behandlung angeht, dazu sind die Nebenwirkungen der Therapie zu … und werden von Woche zu Woche eher kritischer werden…“
Der erste Mensch, der auf seine herzliche Art mir klar von einem Tumor spricht. Ich habe die Wahl. Pest oder Cholera am Ende der Welt.
Da gilt es sich zu entscheiden.
Das Abendessen ist gut, ist reichlich und wird als Büffet geboten. Es schmeckt vortrefflich, aber nach den grausamen Tagen des erzwungenen Hungers mundet mir ja so ziemlich alles.
Ach, was soll’s? Jeder Sinn ist sinnlos bzw. umgekehrt ist es ja ebenso. Ein Sommer nur, der macht noch keine Schwalbe, und vorüber gehen muß er ohnehin. Ferienzeit, Ausnahmezeit. Abwesenheit erklärt sich von selbst, besonders wenn niemand danach fragt.
Für ein paar Stunden Zwischenzeit habe ich mich guter Hoffnung auf baldige Entlassung zu Spiel und Job und Völlerei fühlen können. Jetzt also gilt es doch noch einen langen, einsamen Marsch durch die finsteren Abgründe der klinischen Institution zu überstehen; hin etwa so zum 21. August, dem 33. Jahrestag des Endes einer Hoffnung – plumper und falsch gesetzter Symbolismus das Ganze.
Ekelhaft, also angemessen.
(…)

Auszug aus dem Buch – Lothar Feix „Wirres Buch. Kliniktage und andere Texte“. Erscheint im Herbst 2003 im BasisDruck Verlag, Schliemannstr. 23, 10437 Berlin, Tel. (030) 445 76 80/ Fax: 030/445 95 99, e-mail: basisdruck@onlinehome.de

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