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Die deutsche Beteiligung am Krieg gegen den Irak und die Neuausrichtung der Bundeswehr

von Ulrike Gramann und Ralf Siemens
aus telegraph #108

„Rechtfertigt das Ausmaß der Bedrohung, die von dem irakischen Diktator ausgeht, den Einsatz des Krieges, der Tausenden von unschuldigen Kindern, Frauen und Männern den sicheren Tod bringen wird? Meine Antwort in diesem Fall war und ist: Nein!“ Diese vielversprechende Erklärung gab der deutsche Bundeskanzlers am 18. März, unmittelbar vor Beginn des Krieges gegen den Irak ab. Doch die erklärte Absicht wie auch das konstruktive Bemühen Fischers und Schröders im UN-Sicherheitsrat werden durch die Tatsachen des deutschen Einsatzes konterkariert.

Aufklärung für die Nordfront
Im März forderte der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes ebenso wie die FDP ein Bundestagsmandat für Einsätze von Aufklärungs- und Feuerleitflugzeugen vom Typ Awacs.1 Im Interesse der in den Maschinen eingesetzten Soldaten müsse, so Gertz, „Rechtssicherheit“ hergestellt werden, denn bei Awacs-Flügen könne in den Maschinen „nicht zuverlässig“ zwischen defensiven und offensiven Aufgaben getrennt werden.2 Ist der Einsatz nicht durch ein Bundestagsmandat abgesichert, wäre es möglich, dass die Soldaten sich strafbar gemacht haben.

Der Einsatz der Awacs-Maschinen stand auf einer sechs Punkte umfassenden Wunschliste, die die USA im Januar 2003 im Nato-Hauptquartier vorlegte.3 Doch eine Bedrohung der Türkei durch irakische Luftangriffe war bereits im Golfkrieg 1991 – als der Einsatz von Awacs-Flugzeugen erstmals damit begründet wurde – eher unwahrscheinlich. Diesmal konnte sie als ausgeschlossen gelten, und es kam auch nicht zu Luftangriffen gegen die Türkei. Zum einen verfügte der Irak über keine Luftwaffe, mit der er die Türkei hätte angreifen können, zum anderen überwachen US-amerikanische und britische Kampfflugzeuge die Flugverbotszonen im Norden und Süden des Iraks sowie seit 2002 auch um Bagdad. Im Zweifelsfall hätten sie jegliche irakische Flugbewegung durch Abschuss beendet.

Tatsächlich ließ sich der Awacs-Einsatz nicht einmal theoretisch auf die „Sicherung des türkischen Luftraums“ reduzieren. Diese Flugzeuge erfassten über dem irakischen Gebiet mögliche Luftziele, deren Position an das türkische Luftwaffenoberkommando und an die Nato weitergeleitet wurde. Damit standen sie automatisch den USA zur Verfügung. Das, und nicht die Sorge um die türkische Sicherheit, hat die USA vermutlich bewegt, den Awacs-Einsatz zu beantragen. Dass die Awacs-Flüge „mit einem Kampfein- satz gleichzusetzen“ sind, brachte der verteidigungspolitische Sprecher der CDU, Christian Schmidt, schon im Dezember 2002 auf den Punkt und warf Schröder mit Recht Irreführung der Öffentlichkeit vor.4 Auch CDU-Außenpolitiker Friedbert Pflüger und CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer verlangten einen Bundestagsbeschluss für den Awacs-Einsatz, den sie im übrigen befürworteten. SPD und Grüne hingegen fürchteten, bei einer Abstimmung im Bundestag keine eigene Mehrheit zu finden, und versuchten, den Eindruck zu erwecken, dass es sich nicht um Kampfeinsätze handelt. Volker Beck (Grüne) bezeichnete die Tatsachenbehauptungen der CDU als „durchsichtigen Versuch der Union, der Koalition eine Kriegsbeteiligung unterzuschieben“.5 Aber genau um eine solche handelte es sich, und das ist das Problem: Beteiligt sich die Bundesrepublik an einem Krieg, so muss untersucht werden, ob er dem Völkerrecht entspricht. Tut er dies nicht – und das ist die überwiegende Meinung von Völkerrechtlern – dann ist der Krieg auch grundgesetzwidrig. Die Bundesrepublik dürfte sich also nicht daran beteiligen, was den großen Bruder USA noch ein wenig mehr verärgert hätte als das Auftreten von Schröder und Fischer im UN-Sicherheitsrat. Ein Eilantrag der FDP-Fraktion an das Bundesverfassungsgericht, mit dem eine Entscheidung im Bundestag per einstweiliger Verfügung erzwungen werden sollte, wurde durch das Verfassungsgericht abgelehnt. Im Urteil heißt es: „Die ungeschmälerte außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in dem ihr durch die Verfassung zugewiesenen Kompetenzbereich hat auch im gesamtstaatlichen Interesse an der außen- und sicherheitspolitischen Verlässlichkeit Deutschlands bei der Abwägung ein besonderes Gewicht.“6 Im Klartext: Wenn es um Krieg und Frieden geht, werden die Rechte der Bundesregierung zu Ungunsten des Parlaments verschoben, und der „Kompetenzbereich“ der Bundesregierung wird mit Duldung des Verfassungsgerichts willkürlich erweitert.

Überflieger im deutschen Luftraum, Nebelwerfer in der Regierungskoalition
Im alles entscheidenden Punkt der völkerrechtlichen Rechtfertigung eines US-Krieges baute SPD-Sprecher Dieter Wiefelspütz schon im Dezember 2002 vor: Die Bundesregierung gehe davon aus, dass die Verbündeten das Völkerrecht einhielten. Auf die Frage, wer das denn nun feststelle, antwortete er, die deutsche Politik werde sich hüten, den Verbündeten „vorzuschreiben, wie das Völkerrecht richtig ausgelegt wird“.7

Solange die Bundesregierung daran festhält, den USA uneingeschränkte Überflug- und Transitrechte sowie die Nutzung der US-Militärbasen zu ermöglichen, ist es für den rot-grünen Seelenfrieden wahrlich besser, nicht über völkerrechtliche Fragen nachzudenken. Insbesondere Ramstein als größter Militärflughafen Europas und die Rhein-Main Air Base machen Deutschland zum internationalen Drehkreuz für Nachschub, Logistik und Operationsplanung. Die Bundesregierung steht auf dem Standpunkt, Überflug und Transit von US-Militär seien generell genehmigt, und zwar aufgrund eines Zusatzabkommens zum Nato-Truppenstatut, das US-Militärflugzeugen auch nach dem endgültigen Abschluss der Besatzungszeit 1994, Transit- u. Überflugrechte pauschal gewährt. Bei Beteiligung an einem – grundgesetzlich verbotenen – Angriffskrieg können solche Regelungen trotz der viel zitierten Bündnisverpflichtungen außer Kraft gesetzt werden, sobald die USA einen völkerrechtswidrigen Krieg führen. Dann käme es gewissermaßen auf jeden einzelnen Flug und seinen Zweck an. Der Start eines Tankflugzeuges von der Rhein-Main Air Base mit dem Zweck, die von Großbritannien gestarteten Bomber in der Luft zu betanken, ist dann ein Grundgesetzbruch. Praktischerweise existiert jedoch kein Vertrag, der klärt, ob und wie deutsche Stellen über den Zweck von Flügen informiert werden. Gut für die rotgrünen Koalitionspartner, die sich damit beruhigen können, nicht zu wissen, was durch alle Zeitungen ging: dass die Gewährung der Transit- und Überflugrechte essentiell für den Krieg ist. So beruhigte man sich in der Regierungskoalition damit, ein Entzug der Überflugrechte gefährde neben den „Bündnisverpflichtungen“ auch die Einsätze auf dem Balkan. Der deutsche Regierungssprecher Bela Anda bekräftigte, die Haltung der Bundesregierung zum Krieg sei „eindeutig und klar“. Die Bundesregierung habe an allem, „was auf deutschen Boden vor sich geht“ ein Interesse.8 Süffisanter Kommentar der FAZ: „Möglicherweise mehr als an dem, was im deutschen Luftraum passiert.“ In der Presse fanden sich im März und April widersprüchliche Angaben über die Anzahl von Starts und Landungen, sicher jedoch hatte die Anzahl der Flüge von Rhein-Main sich verdoppelt.9 Die deutsche Flugsicherung in Langen bestätigte, dass sich seit Kriegsbeginn täglich britische und US-Flugzeuge im deutschen Luftraum bewegen, darunter auch B-52-Bomber.10 Noch Ende Januar betonte Bundestagspräsident Thierse: „Wenn es keinen UN-Sicherheitsratsbeschluss gibt, dann wäre es völkerrechtswidrig“.11 Volker Beck (Grüne) erklärte damals, die Bündnisverpflichtungen seien nur erfüllbar, wenn die USA sich „völkerrechtskonform“ verhielten.12 Sein Parteikollege Vollmer hingegen empfahl, den Konflikt mit den USA nicht derart zu „überfrachten“.13 Wären die Parteienvertreter der Regierungskoalition sich nicht tatsächlich uneins, man könnte in den sich widersprechenden Aussagen geradezu eine Strategie zur WählerInnenverwirrung vermuten.

Sichere Kasernen, freies Geleit
Schon im November 2002 machte Schröder deutlich, dass neben Transit- und Überflugrechten auch Schutz für amerikanische Militäreinrichtungen gewährt werde.14 Dabei ging es um ganz normalen Wachdienst an Kasernen und Einrichtungen, der normalerweise von US-Soldaten geleistet wird. Ab dem 24. Januar wurden Militäreinrichtungen bewacht, Ende Februar waren bereits 2.500 Bundeswehrsoldaten an insgesamt 59 Kasernen im Einsatz, und bald danach taten nach Angaben der Bundeswehr 4.000 Bundeswehrsoldaten Wachdienst an US-amerikanischen Militäreinrichtungen. Schon nach den Anschlägen des 11. September 2001 haben Bundeswehrsoldaten einige Monate lang als Wachposten vor US-Kasernen gestanden. Wegen „der guten Erfahrungen“ fragte die US-Regierung erneut beim Bundeskanzler an. Die Bundeswehr nahm für diesen Liebesdienst Ungelegenheiten in Kauf: Die deutschen Soldaten wurden aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengezogen, da die regional stationierten nicht ausreichten.15 Jeder einzelne der als Wachdienst eingesetzten Soldaten ersetzt einen Soldaten der US-Army, der demzufolge allein aufgrund der bundesdeutschen Beteiligung für den Krieg zur Verfügung steht. Auf Wunsch der USA soll der Einsatz möglicherweise bis zu zwei Jahre dauern.16

Weiter geben rund 600 Soldaten der deutschen Marine, die am Horn von Afrika operieren und deren Einsatzhafen sich in Djibouti befindet, für US-amerikanische Seestreitkräfte und Seetransporte Geleitschutz auf dem Weg in den Persischen Golf. Die Soldaten, die mit der Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“, einem Tanker und zwei Versorgern im Einsatz sind, agieren eigentlich im Rahmen von „Enduring Freedom“, machen aber „keinen Unterschied zwischen Nationen oder Ziel und Zweck der Fahrt“.17

Raketen für den Frieden
Ebenfalls auf der bereits zitierten Liste von Wünschen der USA an das Nato-Hauptquartier stand die Überlassung von Patriot-Flugabwehrraketen vorgeblich für den Schutz der Türkei. Diese Boden-Luft-Raketen, die entsprechenden mobilen Systeme zu ihrem Abschuss und das dazugehörige Personal wurden durch die Niederlande zur Verfügung gestellt. Da die Anzahl der Raketen jedoch nicht ausreichte, stellte die Bundeswehr weitere 46 Stück bereit, die man bei Bedarf eingesetzt hätte.

100 für die Abwehr von ABC-Angriffen ausgebildete Soldaten und sechs Fuchs-Spürpanzer befanden sich bereits in Kuweit, als das Kontingent im März auf 200 Soldaten aufgestockt wurde. Ursprünglich wurden sie im Rahmen des Anti-Terror-Einsatzes „Enduring Freedom“ nach Kuwait entsandt. Dort machten sie im Februar/März 2002 bereits gemeinsame Übungen mit US-Soldaten. Ihr Auftrag lautet, „im Falle des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen und Chemieunfällen oder bei Freisetzung von Schadstoffen bei terroristischen Anschlägen auf amerikanische Stützpunkte oder Stützpunkte der Koalitionspartner sowie zivile Einrichtungen in der Region umgehend reagieren zu können“.18 Als potentielle Täter wurden Taliban oder Al-Quaida benannt. Doch die Raketeneinschläge, mit denen es die deutschen Soldaten zu tun hatten, waren konventioneller Art, kamen aus dem Irak und waren Teil des Irakkrieges. Die Verstärkung des ABC-Kontingents kann nur als aktive Beteiligung am Krieg gedeutet werden. Struck selbst begründete sie damit, dass bei Kriegsbeginn die US-amerikanischen und tschechischen ABC-Spezialisten in den Irak „verlegt“ und die deutschen Soldaten sie ersetzen würden.19 Was Struck nicht eigens betonte: möglicherweise auch in Kampfhandlungen. Wer all diese Beiträge zum Krieg als kleineres Übel gegenüber einem Eintritt der Bundesregierung in die „Koalition der Willigen“ betrachtet, sollte sich die Augen reiben: Rund 5.000 Soldaten der Bundeswehr waren und sind direkt am Angriffskrieg auf den Irak beteiligt. Damit ist die Bundesrepublik Deutschland viertgrößte kriegsbeteiligte Partei. Außer den USA und Großbritannien ist nur die Türkei stärker beteiligt. Alle anderen Staaten der „Koalition der Willigen“ beteiligen sich in geringerem Maße als die „unwillige“ BRD.

Umstrukturierung der Bundeswehr zur Armee im permanenten Einsatz
Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen haben die rot-grünen Unterhändler am 7. Oktober 2002 den Fahrplan zur Außen- und Sicherheitspolitik für die nächsten vier Jahre festgelegt. Der zentrale Absatz, der sich in der Koalitionsvereinbarung über die weitere Entwicklung der Bundeswehr findet, lautet: „Das künftige Aufgabenspektrum der Bundeswehr wird ganz wesentlich durch die sicherheitspolitischen Entwicklungen und den Wandel der Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz bestimmt. (…) die Bundesregierung (wird) die Beschaffungsplanung, die materielle Ausstattung und den Personalumfang der Bundeswehr fortlaufend den künftigen Anforderungen anpassen.(…) Nach der weitgehenden Umsetzung der im Jahr 2000 eingeleiteten Bundeswehrreform, aber noch vor Ende der laufenden 15. Legislaturperiode, muss erneut überprüft werden, ob weitere Strukturanpassungen oder Änderungen bei der Wehrverfassung notwendig sind…“

Bemerkenswert ist die Offenheit, mit der die Bundesregierung den Kurs der Bundeswehr benennt. Sie wird zu einer „Armee im Einsatz“ umgebaut. Hatte die CDU-geführte Regierung die Bundeswehr unter Ex-Minister Rühe bereits in Teilen auf weltweite Kriegführung eingeschworen, so hat Rot-Grün mit ihrer im Jahr 2000 beschlossenen Militärreform nicht weniger zum Ziel, als die gesamte Struktur der Bundeswehr umzukrempeln und auf Kriegführung weltweit auszurichten. So wurden in der Zwischenzeit durch Schaffung eines „Einsatzrats“ (zur strategischen Planung und Steuerung von Auslandseinsätzen), eines „Einsatzführungskommandos“ (Generalstab zur Planung und Führung von Einsätzen im In- und Ausland) und der Übertragung von Kommandogewalt auf den Generalinspekteur als obersten Militär die Führungsstruktur der Bundeswehr zentralisiert. Neue Interventionseinheiten wie die Division Spezielle Operationen (DSO) und die Division Luftbewegliche Operationen (DLO) wurden aufgestellt.

Verteidigungsminister Peter Struck hat am 5. Dezember 2002 angekündigt, die Reform, die sein Vorgänger Scharping eingeleitet hat, „den aktuellen Entwicklungen anzupassen und weiterzuentwickeln.“ Da die Landesverteidigung „nicht mehr an der ersten Stelle“ stehe, wird die Bundeswehr konsequent auf Auslandseinsätze ausgerichtet. Und im Hinblick auf den laufenden Afghanistan-Einsatz prägte Struck die Formel: „Die Sicherheit der Bundesrepublik wird eben auch am Hindukusch verteidigt.“ Sinnigerweise ist in diesem Struck-Zitat auf der Homepage der Bundeswehr das Wort „Bundesrepublik“ durch „Bundeswehr“ ersetzt.20 Ein Paradigmenwechsel in der Militärpolitik wird nun auch sprachlich vollzogen. Heimat- und Landesverteidigung sind out, da nicht mehr nötig, stattdessen geht es um die „Verteidigung“ von deutschen Sicherheitsinteressen überall in der Welt.

Im Februar legte Struck Eckdaten für diesen beschleunigten Umbau der Bundeswehr vor. „Eine Gefährdung deutschen Territoriums durch konventionelle Streitkräfte gibt es derzeit und auf absehbare Zeit nicht.“ Deshalb werden die „ausschließlich für die Landesverteidigung vorgehaltenen Fähigkeiten … nicht länger benötigt.“ Die Bundeswehr werde auf multinationale Einsätze „jenseits unserer Grenzen“ ausgerichtet. Einheiten und Strukturen, die bisher vornehmlich der „Landesverteidigung“ dienten, werden aufgelöst. Die beiden Teilstreitkräfte Heer und Luftwaffe reduzieren im Rahmen dieser Reform ihre Großwaffensysteme. Bis zu 90 Tornado-Kampfflugzeuge, sämtliche Flugabwehrraketen vom Typ Roland und Hawk und etwa 1.000 Kampfpanzer Leopard werden ausgemustert.21 So wird das Heer künftig noch 852 Kampfpanzer haben, während es in Zeiten des Kalten Krieges über 5.000 verfügte.22 Innerhalb des Verteidigungshaushaltes führen die damit verbundenen Einsparungen an Unterhalts- und Betriebskosten durch Ausmusterung von Waffensystemen und Außerdienststellen von Einheiten aber nicht zu einem Absenken des Etats. Die frei gewordenen Finanzmittel werden genutzt, um die „verteidigungsinvestiven Ausgaben“ (Kauf von Waffen und Gerät, militärische Forschung und Entwicklung) zu steigern. Ihr Anteil am Verteidigungsetat soll sich von 24,7 Prozent auf 27 Prozent im Jahr 2006 erhöhen. Bis dahin soll es beim jährlichen Etatansatz von 24,4 Milliarden Euro bleiben.23 Die quantitative Abrüstung führt zu einer qualitativen Aufrüstung.

Aufrüstung fürs Nein
Struck hat für Anfang Mai neue „Verteidigungspolitische Richtlinien“ angekündigt. Der strategische Kurswechsel, weg von einer auf mitteleuropäischen Verhältnisse optimierten Bundeswehr hin zu einer global einsatzfähigen Streitmacht, wird darin festgeschrieben. Dass militä- risches Potenzial auch zum Einsatz gebracht werden soll, dass die Bundesrepublik bereit ist, Kriege zu führen – trotz aller derzeitiger rot-grüner Friedensrhetorik – zeigen die Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 und der konsequente Umbau der Bundeswehr. Und dass sie auch zu Präventivangriffen genutzt werden soll, läßt sich aus Äußerungen des Generalinspekteurs der Bundeswehr schließen: Über die Frage, „ob es richtig sein kann, nicht abzuwarten, ob man von einem anderen angegriffen wird, sondern sich gegen mögliche Gefahren vorauseilend zu schützen und selbst die Initiative zu ergreifen“, müsse nachgedacht werden, so General Schneiderhan.24 Nach dieser Lesart haben die USA ihren Angriffskrieg gegen den Irak gerechtfertigt. Und auf welches „Kriegsbild“ sich die deutschen Streitkräfte einzustellen haben, wird vom Zentrum für Analysen und Studien der Bundeswehr auch beschrieben: „Terrororganisationen, Vereinigungen der internationalen organisierten Kriminalität, Söldnergruppen, Kriegsherren… sowie Chaosgruppen wie z.B. die Gruppe der Globalisierungsgegner und lose über das Internet organisierte, virtuelle Netzwerke“.25

Vor dem Hintergrund des Irak-Krieges schloss Bundeskanzler Schröder eine Erhöhung der Rüstungsausgaben nicht aus. Als Konsequenz aus dem uneinheitlichen Auftreten der europäischen Staaten gegenüber den USA befürwortet er eine Stärkung eines europäischen, militärischen „Pfeilers“. „Wer für sich in Anspruch nimmt, bei aller Befriedung von Bündnispflichten im Ernstfall auch zu differenzieren oder Nein zu sagen wie im Falle Irak, der muss sich in die Lage versetzen, auch etwas aus eigener Kraft zu leisten. Insofern stimmt, dass wir uns über die Ausrüstung der Bundeswehr und über ihre Finanzierung unterhalten müssen.“26 Das Nein zum Krieg gegen den Irak ist kein grundsätzliches Nein zum Krieg. Deshalb gibt es die deutsch-französisch-belgische Initiative, um ein militärisches Gegengewicht gegenüber den USA in Stellung zu bringen. Oder, wie die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Krista Sager, argumentierte, Europa müsse „stärkere Muskeln“ haben, „Europa muss eigene militärische Drohkulissen aufbauen können“.27

Die rot-grüne Regierung hat sich klar und eindeutig entschieden: Modernisierung der Streitkräfte, um sie weltweit einsetzen zu können. Die Bundeswehr werde zu einer „Hochmodernisierten Armee“ ausgebaut, so Struck. In den kommenden Jahren würden allein sechs Milliarden Euro zur Verbesserung von Infrastruktur und Kommunikation investiert, damit der „Soldat der Zukunft“ mit Vorgesetzten und eigenen Dienststellen, aber auch mit „amerikanischen Kameraden, die im gleichen Auslandseinsatz sind“, vernetzt wird. Der Einstieg in die digitale Kriegführung wird vollzogen.28

Wehrpflicht wieder in der Diskussion
Die öffentliche Diskussion um die Wehrpflicht war mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im April 2002 abgeebbt. Das Gericht hat eine Richtervorlage des Landgerichts Potsdam auf verfassungsrechtliche Prüfung der Wehrpflicht wegen Unzulässigkeit abgewiesen. Das Strafverfahren gegen einen totalen Kriegsdienstverweigerer war zuvor ausgesetzt worden, da „die allgemeine Wehrpflicht und ihre zwangsweise Durchsetzung“, so das Landgericht, „unter den veränderten politischen Bedingungen nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar sind.“

Das Bundesverfassungsgericht begnügte sich in seiner Entscheidung nicht nur mit formaljuristischen Argumenten. Im Gegensatz zu früheren Entscheidungen hat es auch Aussagen darüber getroffen, dass die Wehrpflicht verfassungsrechtlich auch unabhängig von ihrer verteidigungspolitischen Notwendigkeit legitimiert sein könne. So stellte es fest: „Die Fragen beispielsweise nach Art und Umfang der militärischen Risikovorsorge, der demokratischen Kontrolle, der Rekrutierung qualifizierten Nachwuchses sowie nach den Kosten einer Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee sind solche der politischen Klugheit und ökonomischen Zweckmäßigkeit, die sich nicht auf eine verfassungsrechtliche Frage reduzieren lassen.

Erst die Ankündigung Strucks Anfang Februar dieses Jahres, im Rahmen des beschleunigten Umbaus der Bundeswehr auch über die „Ausgestaltung der Wehrpflicht“ und über den Personalumfang „nachzudenken“29, verhalf der Wehrpflichtdiskussion wieder in die Medien. Statt die Frage der Wehrpflicht erst im Jahr 2006 innerhalb der Koalition zu entscheiden, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, wolle er bis Frühjahr 2004 eine endgültige Entscheidung anstreben, „ob es bei der Wehrpflicht bleibt“. Struck selber hat deutlich gemacht, dass er an der Wehrpflicht festhält.30

Diese Wehrpflichtdebatte wird medial allerdings fast ausschließlich durch Militärs und Politiker geführt. Als erster meldete sich der ehemalige Heeresinspekteur Willmann zu Wort. 240.000 statt 285.000 Soldaten solle die Bundeswehr umfassen, darunter 30.000 Stellen für Wehrdienstleistende. Die Dauer des Wehrdienstes von derzeit neun Monaten solle auf vier Monate reduziert werden. Auch der Planungsstab im Verteidigungsministerium favorisiert dieses Modell.31 SPD-“Wehrexpertin“ Verena Wohlleben hat sich Ende Januar 2003 für eine Senkung des Wehrdienstes auf drei, maximal vier Monate ausgesprochen.32 Auch für den Generalinspekteur geht es nicht um ein „Ja oder Nein zur Wehrpflicht, sondern vielmehr um das Wie“.33 Nach einem Spiegel-Bericht würde die Führung der Bundeswehr allerdings befürchten, dass eine Reduzierung der Wehrdienstdauer und Senkung der Wehrdienst-Planstellen das Ende der Wehrpflicht einläuten würde. Daher befürworten sie eher einen schnellen Abschied von der Wehrpflicht als einen Abschied auf Raten. Durchtrainierte „Kämpfer“, statt Wehrpflichtige, die nur noch einen „Schnupperkurs“ bei der Bundeswehr absolvieren, wünscht sich auch Heeresinspekteur Gudera.34 Der Führungsstab der Streitkräfte lehnt eine Verkürzung des Wehrdienstes ebenfalls ab, da u.a. „jede Verkürzung …diesen Dienst der Sinnfrage näher bringt. Ein Grundwehrdienst, der des militärischen Sinnes entbehrt, macht sich selbst obsolet.“35

In diese Debatte griff Struck erst im April 2003 öffentlich ein. Vorher vermied er eine öffentliche Festlegung. In einem Interview kündigte er an, dass er bis Ende Juni 2003 prüfen lasse, wie Wehrpflichtige in der Bundeswehr eingesetzt werden können, wenn der Wehrdienst auf unter neun Monate reduziert wird. Allerdings erteilte er Überlegungen, den Wehrdienst auf drei oder vier Monate zu kürzen, eine klare Absage, da dies „keinen Sinn“ mache.36 Wenige Tage später erklärte er, dass er sich „mit einem klaren Ja zur Wehrpflichtarmee“ innerhalb der Regierungskoalition bereits bis zur parlamentarischen Sommerpause durchsetzen“ wolle.37 Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung favorisiert Struck eine Verkürzung des Wehrdienstes auf sechs Monate.38

Abschied von der Wehrpflichtarmee
Im vergangenen Jahr wurden noch knapp 125.000 Wehrpflichtige zum Grundwehrdienst „befohlen“. Nach den derzeitigen Planungen werden in den kommenden Jahren durchschnittlich jedes Jahr lediglich 90.000 Wehrpflichtige zum Grundwehrdienst einberufen. Da jedes Jahr über 400.000 junge Männer in die Wehrpflicht hereinwachsen, kann natürlich nicht mehr von einer „Allgemeinen Wehrpflicht“ geredet werden. Die Bundeswehr ist auch längst keine Wehrpflichtarmee mehr: Im April 2003 waren von insgesamt knapp 290.000 Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr nur noch 76.226 Grundwehrdienstleistende.39 Der Rest von über 210.000 sind Freiwillige. Und ihr Anteil wird sich kontinuierlich erhöhen. Das derzeit gültige Personalstrukturmodell sieht im Jahr 2006 bei einer Gesamtstärke von 283.000 aktiven Soldaten lediglich 53.000 Grundwehrdienstleistende vor. Diese sollen, geht es nach der Militärspitze, zukünftig auch zu Auslandseinsätzen abkommandiert werden dürfen.40

Fazit
Das Lavieren der Bundesregierung im Irakkrieg – politisch Nein, militärisch Ja zur Unterstützung des Aggressors – korrespondiert mit dem Umbau der Bundeswehr. Ziel ist es, militärische Fähigkeiten zu erlangen, die der politischen Ebene einen möglichst großen Entscheidungsspielraum lassen, ob, wo, wann und mit welchen Mitteln Krieg geführt wird. Die jetzige Zurückhaltung der Bundesregierung, sich offiziell an einem Krieg zu beteiligen und ihre Politik im Sicherheitsrat stehen nicht im Widerspruch zum tatsächlichen Einsatz im Krieg. Die Frage war nicht, ob man sich beteiligt, sondern, wie diese Beteiligung offiziell deklariert wird und mit welchen politischen Mitteln sie begleitet wird. Wie im Einzelfall entschieden wird, hat innen- und außenpolitische Gründe. Hier ging es innenpolitisch um den Versuch der Regierungskoalition, sich zwecks Wahlkampfs als Antikriegspartei zu profilieren. Außenpolitisch wollte die Bundesregierung den hegemonialen Bestrebungen der USA nicht folgen, da sie eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen entgegenstehen. Der sichere Tod von Tausenden wird dann in Kauf genommen werden, wenn die militärische Intervention mit deutscher Beteiligung auch im Interesse der jeweiligen Bundesregierung ist.

Ulrike Gramann ist Autorin, Ralf Siemens ist Politologe. Beide leben in Berlin und arbeiten in der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär mit.

1 AP am 20.03.03.
2 Pressemitteilung des Deutschen Bundeswehrverbandes 4/2003 vom 26.03.03.
3 SZ vom 18./19.01.03.
4 taz vom 13.12.02.
5 taz vom 17.01.03.
6 Beschluss des BVerfG vom 25.03.03 sowie Pressemitteilung Nr. 26/2003 vom 25.03.03.
7 taz 13.12.02.
8 FAZ vom 25.03.03.
9 taz vom 28.03.03.
10 ebd.
11 Berliner Zeitung vom 01.02.03.
12 Berliner Zeitung vom 01.02.03.
13 SZ vom 31.01.03.
14 Berliner Zeitung vom 01.02.03.
15 Stand 01.04.03.
16 Y 3/2003.
17 taz vom 20.01.03.
18 www.einsatz.bundeswehr.de/einsatz_aktuell/oef_abc/faq/faq_abc.php
19 FAZ vom 20.03.03.
20 www.bmvg.de/sicherheit/021205_pk_projekte.php
21 Pressekonferenz von Struck am 21.02.03 zum Thema „Weiterentwicklung der Reform und zur Anpassung der Fähigkeiten an zukünftigen Aufgaben.“
http://www.bmvg.de/archiv/reden/minister/030221_planungsweisungen_gi.php
22 So Heeresinspekteur Gudera in Die Welt vom 8.2.2003.
23 www.bmvg.de/ministerium/haushalt/ministerium_haushalt_030320_haushalt_kurz.php
24 FAZ vom 23.01.03.
25 in: Information für die Truppe 3/2002.
26 Die Zeit 14/03 vom 27.03.03.
27 Berliner Zeitung vom 22.03.03.
28 Welt am Sonntag vom 16.03.03.
29 FASZ vom 22.02.03.
30 Berliner Zeitung, 22.02.03.
31 Die Welt, 25.02.03; Spiegel 12/03, 17.03.02.
32 www.verena-wohlleben.de/Landstreitkräfte.pdf
33 Die Welt, 08.03.03.
34 Spiegel 12/03, 17.03.03.
35 Die Bundeswehr 4/2003, S. 15.
36 Frankfurter Rundschau, 07.04.03.
37 Berliner Morgenpost, 16.04.03.
38 Süddeutsche Zeitung, 09.04.03.
39 www.bundeswehr.de/forces/print/personalstaerke_bw.php
40 Griephan Wehrdienst Nr. 43/02, 21.10.02.

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