ZUR ANTIZIPATION EINES JAHRESTAGES

von Thomas Leusink
aus telegraph #108

Am 17. Juni 2003 jährt sich zum 50. mal der „Volksaufstand“ bzw. der „konterrevolutionäre Putschversuch“. BRD und DDR bastelten sich damals ihre Versionen des Geschehens in der propagandistischen Auseinandersetzung. Über Jahrzehnte hielten sie an ihren Legenden fest. Die eine Seite kann zumindest aus staatlichen Instanzen diese Auseinandersetzung nicht mehr führen, in wenigen Medien und Publikationen werden die alten Vertreter jedoch ihre Version verfolgen. Das Gros der Presse, der Radio- und TV-Stationen, der Verlage, der Forscher, Historiker, Pseudo-Experten und „Politikerbande“, wird die Darstellung des „Volksaufstandes“ in Sonderbeilagen und –publikationen, Sondersendungen und –beiträgen unter die Massen bringen, wir können dann nur an Indoktrination denken: Schon wurden Landesschülerwettbewerbe ausgerufen. Schüler sollen die Geschichte erforschen und Augenzeugen ausfindig machen. Da fällt uns die Geschichte aus den 80er Jahren vom KPD-Widerstandskämpfer ein, der durch die umliegenden Schulen im Laufe der Jahre schon 37 mal erforscht wurde und der der neuen Gruppe von jungen Forschern, in unserer Erinnerung waren es Pioniere, neben einer Schüssel mit Keksen nur noch wortlos eine Mappe mit den gesammelten Forschungsergebnissen der vor ihnen Dagewesenen hinüberschob.
Hier soll weder eine chronologische Abfolge der Ereignisse, noch eine Einbindung in den historischen Kontext dargestellt werden. Ein wichtiger Aspekt für uns sind die selbstorganisatorischen Ansätze und Strukturen, die sich in der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit die Arbeiter gaben: die Wahl von Sprechern und wirklichen Vertrauensleuten, gewählte Arbeiterausschüsse und Streikkomitees.
Peter Pankow, der nicht so heißt, hatte, aus der DDR stammend, für die 2. Auflage der Broschüre von Hans-Jürgen Degen „’Wir wollen keine Sklaven sein …’ – Der Aufstand des 17. Juni 1953″ 1, erschienen 1988 2, sein Nachwort mit folgendem Satz beendet: „Linke in Ost und West sollten deutlicher den freiheitlich–kommunistischen Charakter des 17. Juni für die Öffentlichkeit darstellen und sich nicht aus Angst vor dem Beifall von rechter Seite in den Verdacht der stillschweigenden Kumpanei mit der falschen linken Seite bringen.“
In seiner Einleitung schrieb Hans-Jürgen Degen unter Hinweis auf die nur begrenzten Möglichkeiten der erschöpfenden Behandlung dieses komplexen Stoffes im Rahmen der vorliegenden Darstellung: „Die wirkliche Geschichte des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 ist noch zu schreiben.“
Wir können dies an dieser Stelle natürlich nicht leisten. Wir möchten jedoch dem zu erwartenden ideologischen Schleier einige Zitate aus Heinz Brandts Autobiographie entgegenstellen, die Jahrzehnte nachdem sie geschrieben wurde, immer noch Bestand hat. Erich Fromm, der das Vorwort schrieb, nannte ihn „einen humanistischen Sozialisten, der gleichzeitig Kommunist gewesen ist“.
Heinz Brandt hatte, nach zweijähriger illegaler antifaschistischer Tätigkeit und Verhaftung, über 10 Jahre in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Auschwitz, in den Zuchthäusern Luckau und Brandenburg und zuletzt im KZ Buchenwald gesessen. Am 11. April 1945 hatte er an der bewaffneten Befreiungsaktion teilgenommen.
Heinz Brandt wurde später Sekretär in der Berliner Bezirksleitung der SED. Nach dem Moskauer Ärzte-Prozess Anfang 1953 gegen überwiegend jüdische Ärzte, wurden in der DDR die Kaderunterlagen der SED-Genossen jüdischer Abstammung überprüft. Brandt richtete sich darauf ein, ständig startbereit zu sein, um im gegebenen Moment mit der S-Bahn nach Westberlin zu entkommen. Stalins Tod entschärfte die Situation. So erlebte er als SED-Funktionär den 17. Juni in Berlin mit. 1958 konnte er nach einer Warnung seiner Verhaftung zuvorkommen und verließ die DDR, engagierte sich in der IG Metall, wurde am 16. Juni 1961 in Westberlin von der Staatssicherheit gekidnappt, entführt, und saß anschließend wieder in einem deutschen Zuchthaus. Bis Mai 1964 saß er in Bautzen II ein und wurde schließlich, auch durch internationalen Druck, frei gelassen und bekam die Ausreisegenehmigung. Seinen Überzeugungen war er treu geblieben.
In einem Artikel für „Die Neue Gesellschaft“ fasste er im Juli 1971 3 seine Ansichten zum 17. Juni 1953 zusammen:

„Niemand denkt heute gern an den 17. Juni 1953 zurück. Das gilt nicht nur für den „Osten“, dem er zum Menetekel wurde. Es war schon immer absurd, dieses Datum als Feiertag anzusehen, gar als „Tag der Deutschen Einheit“ zu begehen. Schließlich haben gerade die explosiven Geschehnisse vom 16./17. Juni die deutsche Wiedervereinigung um ihre letzte Chance gebracht – jedenfalls für unser Zeitalter. Das ist inzwischen so deutlich geworden, dass es nun schon peinlich wirkt, ja als Krampf, den 17. Juni weiterhin rot im Kalender stehen zu lassen, obwohl er doch nur unter Rot in den Geschichtskalender gehört.
Jedes historische Ereignis hat seine Legende – von den Siegern geschrieben, ist doch die herrschende Geschichtsauffassung die der Herrschenden. Folgerichtig hat der 17. Juni zwei Legenden. Denn es gab zwei Sieger, weil zwei deutsche Staaten. …
Verteufelt die eine Legende den 17. Juni als finstere Moritat, so erhebt ihn die andere zum nationalen Helden-Epos. …
Die Arbeitererhebung erfolgte in einem System, das sich als sozialistisch und als Arbeiterstaat bezeichnet. Der Widerspruch zwischen diesem Anspruch und der Wirklichkeit war unerträglich geworden. Was immer die Arbeiter wollten – und sie wollten sehr Unterschiedliches –, eines wollten sie gewiss nicht: Die Restauration, eine Wiederkehr der Großgrundbesitzer und Konzernherren, die Wiederherstellung ihres Macht-, Besitz- und Bildungsmonopols. Was wollten sie also? Walter Ulbricht hat es 1968 höhnisch in Bezug auf die CSSR-Arbeiter ausgesprochen (sein Bürokratenhirn sah das bezeichnenderweise als Absurdum an): „Sie wollten etwas, was es nirgends in der Welt gibt.“ Tatsächlich vage und schemenhaft, schwebte ihnen so etwas wie wirklicher Sozialismus, eine wirklich neue Gesellschaft vor: Human, demokratisch, mit „westlichem“ Lebensstandard und eine gesamtdeutsche Lösung. Insofern trug die Erhebung auch nationale Züge.
Lenin hatte in seiner Schrift „Der Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ den radikal-voluntaristischen Genossen das „Grundgesetz der Revolution“ und die unabdingbaren Voraussetzungen einer „revolutionären Krise“ vor Augen gehalten. Paradoxerweise waren diese Leninschen „essentials“ am 16. und 17. Juni in der DDR erfüllt – in einem Regime also, das sich marxistisch-leninistisch nannte. Auch fügte es die List der Geschichte, dass die Leninsche Strategie (eine „ökonomische“ Generallosung, die in eine „politische“ Hauptforderung „umschlägt“) spontan verwirklicht wurde.
Spontan! Das war ebenfalls neu. Hier war keine Partei, kein Zentralkomitee, kein Politbüro am Werk; es gab keinen Generalstab der Revolution, folglich auch keinen Generalstabsplan. Das moderne Organisationsmodell, die Gruppe, betrat die historische Bühne.
Es ereignete sich aber das, was Lenin in der nämlichen Revolutionsfibel als das unverkennbare „Merkmal einer jeden wirklichen Revolution“ bezeichnet: „Die schnelle Verzehnfachung, ja sogar Verhundertfachung der Zahl der zum politischen Kampf fähigen Vertreter der Werktätigen und der ausgebeuteten Masse, die bis dahin apathisch“ war – jene Kettenreaktion, welche „die Regierung entkräftet, und den Revolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen“: Über Nacht steigerte sich die partielle Erhebung einiger Ostberliner Großbetriebe synchron zur Gesamterhebung der Ostberliner Betriebe und wichtiger Industriezentren der DDR. …
Die nur formal volkseigenen Betriebe wurden in der Aktion tatsächlich volkseigen. Etwa wenn die Belegschaft von Bergmann-Borsig (Berlin-Wilhelmsruh) ihren Betrieb besetzte, eine Vollversammlung durchführte und nach stürmischer Diskussion einen „Betriebsausschuss“ – de facto Räte – wählte, der laut angenommener Entschließung bevollmächtigt war, sich mit anderen Betrieben in Verbindung zu setzen, um die sozialen und politischen Forderungen der Belegschaft in die Tat umzusetzen. Wenige Stunden später zogen die Streikenden [die Schönhauser Allee hinunter – T.L.] zur Stadtmitte – der Betriebsausschuss an der Spitze des Demonstrationszuges. Der sowjetische Stadtkommandant Dibrowa verhängte den Ausnahmezustand; die Bergmann-Borsig-Demonstration wurde von den Soldaten der „Roten Armee“ zerschlagen, die Räte als „Rädelsführer“ verhaftet: Die „Sowjet“-(Räte-)Macht entmachtete die Räte – fiktive Räte duldeten keine realen. Anspruch und Wirklichkeit waren sich auf der Straße begegnet, hatten sich Auge in Auge gegenübergestanden – Sowjets gegen Räte – und als „antagonistischer Widerspruch“ (Marx) erwiesen.“

Heinz Brandt war im VEB Bergmann-Borsig auch kein Unbeteiligter. Er war am Morgen des 17. Juni dorthin gefahren, hatte nicht arbeitende, sondern diskutierende Arbeiter vorgefunden. Es gab unzählige Versammlungen und Vertrauensleute stellten zwischen diesen Verbindungen her. Er hatte dann veranlasst, dass sich die gesamte Belegschaft im großen Saal des neu gebauten Kulturhauses versammelte. Und aus dem Gefühl, dass für die Dauer dieser Aktion dieser Betrieb wahrhaft ihnen gehört, sagte er: „Heute ist dieser Betrieb euer Betrieb geworden, aber damit steht auch in euer Verantwortung, was aus ihm wird. Erstens: nichts zerstören; zweitens: hier und sofort einen Betriebsausschuss wählen!“ (3 S.240 f.) Dieser Vorschlag wurde sofort angenommen und verwirklicht. Die Arbeiter der Großbetriebe hatten sich als der entschiedenste Teil, als die „Vorhut“ des Kampfes erwiesen, genauso, wie es nach der M/L-Theorie sein sollte. Welches Interesse hätten die „Parteien hüben und drüben … an einer wahrheitsgemäßen Darstellung und Deutung“ der Ereignisse haben sollen, fragte Brandt mit Recht.

1 „Wir wollen keine Sklaven sein …“ gehörte zu den Losungen, die man am 17. Juni auf den Straßen hören oder auf Transparenten lesen konnte.
2 Hans-Jürgen Degen „’Wir wollen keine Sklaven sein …’ – Der Aufstand des 17. Juni 1953″. 1. Auflage 1979, 2. überarbeitete Auflage 1988 im Libertad Verlag Berlin, in der Reihe: anarchistische texte Nr. 34
3 Heinz Brandt: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Berlin: Verlag Klaus Guhl, 1978. – 375 S. excl. Anhang. In diesem Anhang finden sich eine Reihe von Zeitschriftenartikeln, u.a. der für „Die Neue Gesellschaft“.

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