Für eine Kontinuität der Basisbewegung

Interview mit Walter Schilling, Senior der Offenen Arbeit

aus telegraph 11/1990
von Wolfgang Rüddenklau

Es gibt nicht allzu viele unersetzliche Menschen in unserem Land. Am allerwenigsten gehören die Lemuren dazu, die sich, von ihren westlichen Schwesterparteien ausgehalten, derzeit auf Ostberliner Regierungsbänken herumdrücken.

Wenn wir im Folgenden einem Einzelnen dem Pfarrer Walter Schilling seitenlang das Wort geben, so darum, weil ihm und seinen Kampfgefährten dieses Land Wichtiges verdankt und darum, weil er auch jetzt noch etwas wichtiges zu sagen hat, trotz und wegen seiner 60 Jahre.
Walter Schilling hat sich seit Ende der sechziger Jahre bemüht, der Protestbewegung innerhalb ehr Evangelischen Kirche ein Dach zu geben, die heute als Basisgruppenbewegung bekannt ist und die zum Grundstock der Bürgerbewegung wurde. Seit einem Jahr war er theologischer Begleiter der Berliner Gruppe „Kirche von Unten“, was ihn nicht davon abhielt, sich kräftig in die sonstigen Berliner Ereignisse einzumischen. Vorige Woche war Walter Schillings Zeit in Berlin zu Ende und er kehrte „mit einem lachenden und einem weinenden Auge “ in sein Pfarramt nach Braunsdorf bei Rudolstadt zurück. Aus diesem Anlaß das folgende Interview:

telegraph: Walter, Du bist ein Jahr lang theologischer Begleiter der „Kirche von Unten“ gewesen und gehst jetzt wieder zurück in Dein Pfarramt in Thüringen. Was ist eigentlich „Kirche von Unten“, was ist Kirche von Unten Berlin?
Walter Schilling: Das Ganze geht zurück auf den Kirchentag von Unten im Jahre 1987. Ein grosses Ereignis, das man wieder ins Gedächtnis zurückrufen muss. Parallell zum offiziellen Kirchentag haben sich Friedens- und Ökologie- Gruppen und Gruppen der Offenen Arbeit zu einer DDR-weiten Veranstaltung zusammengefunden – gegen eine Amtskirche, die zum 750. Jubiläum Berlins fast nahtlos mit dem Staat zusammenarbeitete. Mit dem Kirchentag von Unten haben Leute versucht, die Kirche von Unten zu installieren, als eine Gemeinschaft, die sich neben der Kirche, manchmal auch gegen sie organisiert. Damals ging der Kampf noch um Räume, die erst nach einer sehr langen Verhandlungsstrecke, im Herbst 88 in der Berliner Elisabethgemeinde gefunden wurden. Die Kirchenleitung hat darauf bestanden, dass ein Pfarrer als „Begleiter“ dabei sein soll, der für sie der Verantwortliche sein sollte. Ich selbst habe das nie so empfunden, dass ich dort verantwortlich bin, sondern ich habe mich als Freund unter Freunden gefühlt, der dort seinen Teil einbringt
Die Kirche von Unten hat versucht, sich im Land zu vernetzen. Das ist nur zum Teil gelungen, weil die meisten Gruppen sich mit dem Begriff Kirche von Unten schwergetan und weiter als Offene Arbeit bezeichnet haben. Trotzdem hat es viele Beziehungen untereinander gegeben. Wer es nachlesen will, in den Dokumenten der Staatssicherheit steht die Kirche von Unten unter den „personellen Zusammenschlüssen“, die “ Vernetzungscharakter“ haben. Die haben das durchaus richtig eingeschätzt Es ist uns sicher nur zum Teil gelungen.
Kirche von Unten konnte sich zunächst fast nur in Berlin fest etablieren, nachdem wir Räume in der Elisabethgemeinde bekommen hatten. Wir hatten anfangs in Berlin grosse Schwierigkeiten, unsere eigene Linie zu finden und es gab eine Menge Ärger mit der Gemeinde. Dann sind wir in den Strudel der politischen Ereignisse hineingerissen worden: Trommeln für China usw.

telegraph: Die alternative Wahlparty im Mai 89, als bei der Kirche von Unten die Auszählungen der Wahlbeobachter aus den Ostberliner Bezirken zusammenliefen.
Walter Schilling: An der alternativen Wahlparty ist am deutlichsten zu sehen, was die Zielvorstellung der Kirche von Unten war, da ist es wirklich gut gelungen. Dass dort verschiedenste Alternativgruppierungen Zusammenkommen können. Ich sage immer, die Gruppen könnten der Zähler, die Kirche von Unten der Nenner sein.
telegraph: Du giltst als einer der Gründerväter der sogenannten Basisbewegung in der DDR. Wann hat das begonnen, wie ist es dazu gekommen?

Walter Schilling: Wenn man heute nach über 20 Jahren darüber nachdenkt und etwas damit zu tun hatte, kann man das sicher besser analysieren als damals. Die weltweite Bewegung Ende der sechziger Jahre, die Studentenbewegung, die Friedensbewegung, die Ostermarschbewegung, hat bei uns auch eine Bewegung in Gang gesetzt. Sicher ganz anders als in den westlichen Ländern, aber es war derselbe Auslöser. Ein Ansatz, der gesellschaftskritisch war, der die alten Institutionen von der Ehe bis zum parlamentarischen System hinterfragte. Gesucht wird nach einem anderen Lebensstil, nicht Wachstums- und fortschrittsorientiert im erwerbsmässigen Sinne, sondern im Sinne von Lebensbedürfnis. Die jungen Leute hatten ein starkes Autonomiestreben, sie wollten ihre eigenen Lebensziele, ihre eigenen Lebensvorstellungen haben und sich das nicht mehr vorschreiben lassen von einer nicht mehr greifbaren Industriegesellschaft.

Ein alter Mann hat zu mir einmal gesagt: In den Geschichtsbüchern des 2. Jahrtausends wird vielleicht einmal stehen: Damals tauchten die Propheten der neuen Zeit auf, die lange Haare und Kutten trugen. Che Guevana-Bilder malten und sich unter den Baum legten und sagten: Seht mal wie schön die Äpfel sind, die reichen eigentlich für alle und der Himmel ist blau. Das werden die Propheten der neuen Zeit sein, sagte der alte Mann. Weil diese Welt sich ändern muss.

telegraph: Das waren also zunächst junge Leute, die von der Popmusik, die über die Sender kam, beeinflusst wurden, die ein bestimmtes Lebensgefühl herüberbekamen und sich wie ihre Musikidole lange Haare wachsen liessen. Sie bekamen aber eben auch eine Identität sozusagen von aussen ausgeprügelt, von der Volkspolizei. Sie suchten dann nach eigenen Inhalten, da ihnen von aussen so tatkräftigt bestätigt wurde, dass sie etwas Eigenes sind. Diese Leute konnten sich natürlich nach damals in der DDR geltendem Recht nur schwer auf der Strasse oder in öffentlichen Räumen treffen. Sie wandten sich an die Evangelische Kirche, fanden aber dort meistens nicht die Aufnahme, die dafür etwa im Evangelium vorgeschrieben ist.

Walter Schilling: Das sind zwei Dinge, die Du gesagt hast Beim ersten würde ich Dir widersprechen. Die Musik kam über die Ätherwellen. Du kannst aber nicht etwas von aussen in einen Menschen hineinsetzen, wofür er keine Antenne hat. Die Musik hat das ausgedrückt, was in den Leuten an Kritik, Anfragen an die Gesellschaft usw. war.

Das zweite stimmt tatsächlich, dass wir hier in der DDR einen Sonderweg beschritten haben. Im Westen konnten die Leute auf die Strasse gehen. Das ist bei uns so überhaupt nicht möglich gewesen, da haben sie sofort ein Staatsquartier gefunden und zwar für längere Zeit Deswegen blieb nur die Kirche als ein gewisser Freiraum. Es hat daher von Anfang an eine Auseinandersetzung zwischen den Leuten, die Räume suchten und der Kirche gegeben. Das war die erste Hürde, die zu nehmen war. Wie offen, wie Evangeliums gerecht ist die Kirche nun eigentlich für die von der Strasse, wenn man mal die Bibel zitieren will, zu denjenigen, die von den Hecken und Zäunen zum grossen Essen geladen sind. Diese Frage haben viele Gruppen damals der Kirche gestellt und haben sie damit sehr verunsichert. Es hat viele Schwierigkeiten gegeben, hat aber letztendlich nach einer langen Reihe von Jahren dazu geführt dass sich in der DDR Kirche so verändert hat wie sie heute ist im Gegensatz zu eineT weithin bürgerlich angepassten Kirche im Westen beispielsweise. Evangelische Kirche in der DDR hat immerhin Ende der siebziger Jahre gesagt Kirche muss often sein für alle. Das ist ein r Ergebnis, das erreicht worden ist und das im Ergebnis der Geschehnisse der paar letzten Jahre die Kirche dahin gebracht hat, wenn auch mit Widerstreben, die Gruppen anzunehmen und sie gewähren zu lassen. Sie hat ja grosse Schwierigkeiten gehabt, bei den grossen Demonstrationen beispielsweise, aber sie hat sich letztendlich für die Gruppen eingesetzt und für sie gesprochen. Das muss man, denke ich, anerkennen.

Das ist aber gar nicht mal das wichtigste – die Kirche als Institution. Ich denke, dass in dieser ganzen Bewegungszeit auch eine Wechselbeziehung passiert ist Leute, die gesellschaftskritisch waren, haben gesagt, wir können mit dieser Welt nicht mehr weiter so umgehen, denn dann wird sie kaputtgehen. Von den Bündnissen , die unbedingt ihr Feindbild pflegen müssen bis zu Vernichtung des Regenwaldes und dem Treibhauseffekt, bis dahin, dass die Menschen seelisch verarmen. Sie wollen immer nur haben, haben, haben. Aber Sein ist wichtiger als Haben. Die ganzen Fragen haben sie in die Kirche getragen. Das hat die Kirche bereichert. Sie hat an Identität gewonnen und ist ein Stück lebendiger geworden bis hinein in die Gemeindegruppen. Auf der anderen Seite hat Evangelium auch die Gruppen beeinflusst Ich denke, dass ein grosser Teil der Gewaltlosigkeit im Oktober vorigen Jahres darin seinen Grund hat dass hier etwas gewachsen ist. Die Ideen von Martin Luther King oder das Ausleben von sozialen Beziehungen, die man in der modernen Gesellschaft immer mehr vermisst, – das kam sicher von den Anstössen eines Jesus von Nazareth her. Dass sich Kirche und Gruppen gegenseitig bereichert haben ist denke ich, wichtig in diesen ganzen Jahren gewesen. ,

telegraph: Ja, ich denke das auch. Ich glaube aber, dass Du dazu neigst. Deinen Arbeitgeber ein wenig zu idealisieren. Ich habe von Johanna aus Dresden gehört dass sie am 4. Oktober händeringend einen Pfarrer gebeten hat die Kirche für Demonstranten, aber auch ganz normale Passanten, die auf der Strasse zusammengeprügelt wurden, zu öffnen. Er hat ihr erklärt dass die Kirche zur Ausbreitung des Evangeliums da sei, nicht aber dazu, irgendwelche Demonstranten aufzunehmen. Sie hat ihn dann angebrüllt und hat erreicht, dass er sich erinnert hat, dass da noch etwas anderes war Im allgemeinen gab es einen hartnäckigen Widerstand und die Pfarrer, die sich für die Gruppen einsetzten, sind eigentlich nur eine ganz kleine Minderheit.

Walter Schilling: Das stimmt Du nennst das Beispiel Dresden, mir liegt das Beispiel Leipzig näher. Weil ich eine Woche vor dem 9., dem Stichtag in Leipzig, kurz dort war, als die Luft brannte und mit dem geschäftsführenden Pfarrer der Thomaskirche, dessen Name ich immer vergesse, weil ich ihn wahrscheinlich nicht gern höre….

telegraph: Ebeling.

Walter Schilling: Ja, genau, Herr Ebeling hat sich geweigert, die Kirche zu öffnen.

telegraph: Und nun erhält der Leipziger Superintendent Magyrius den Gustav-Heinemann-Preis, den er eigentlich von der Staatssicherheit dafür bekommen müsste, dass er die Friedensgebete in Leipzig jahrelang erfolgreich sabotiert hat. Das ist ein Witz der Geschichte!

Walter Schilling: Ich sehe den Herrn Magyrius ein ganz klein wenig anders. Ich war dort bei ihm. Ich gestehe einem Superintendenten durchaus zu, dass er aus Verantwortungsgefühl – klemmt. Fakt ist natürlich, dass er grosse Schwierigkeiten machte. Natürlich hast Du recht, aber es war in der Geschichte der Menschheit immer so, dass Bewusstsein nie auf einen Schlag gewachsen ist, sondern, dass das immer kleine Gruppen und vielleicht auch Einzelmenschen sind und die grosse Menge erst im Laufe der Zeit begreift und vielleicht etwas dazulernt. Das ist in einer Kirche, die Teil der Welt ist nicht anders.

Das Wort „Brötchengeber“ lasse ich nicht stehen. Ich bin absolut nicht von dieser Kirche als Brötchengeber abhängig. Ich lebe aus den christlichen Weiten heraus und wenn ich zufällig Pfarrer geworden bin, dann deshalb, weil ich in diesem Beruf einen Sinn sehe. Ich bin in keiner Weise von meiner Kirche abhängig. Die hat mir da nichts zu sagen.

Aber hier sind eben Prozesse geschehen, Entwicklungsprozesse innerhalb von 20 Jahren, die in diesem Land, der DDR, eine Sonderentwicklung gebracht haben und wo ich jetzt ständig mit meiner Enttäuschung kämpfe, dass das alles wieder den Bach hinunter geht. Um es mal so zu sagen: In irgendeiner westlichen Zeitschrift habe ich mal einen Artikel gelesen über Leute aus der Kirche von Unten und der Umwelt-Bibliothek, die nach dem Westen gedrängt worden waren, Eisi, Blase, Bert und andere. Das war alles in dem Ton geschrieben: „Die sind zwanzig Jahre zurück, die müssen erst lernen, wie fortgeschritten der Westen ist. Das sind ja die ewig Gestrigen.“ Und ich finde das ganz furchtbar schlimm, denn ich denke, wir sind eigentlich im Verhältnis zu denen zwanzig Jahre voraus. Ich denke, da könnte man auch manche Gemeindegruppen und ein paar bewusste Marxisten einbeziehen. Das sind wenige, ich gebe es zu und denke an das Wahlergebnis vom März: 3%, mehr waren es nicht Wir sind eigentlich ein Stück voraus, nämlich in Richtung auf eine Überlebens fähige Welt.

telegraph: Ich bleibe noch einmal mit einer Frage bei der Kirche. Der Berliner Stadtjugendpfarrer Hülsemann hat mich vor zwei Jahren gefragt: „Wenn jetzt die Perestroika kommt und die Möglichkeit besteht dass die Gruppen aus der Kirche hinausgehen, werden dann die Gruppen gehen?“ Ich habe ihm so geantwortet, dass das im Wesentlichen vom Verhalten der Kirche abhängt Das heisst so, wie sich die Kirche gegenüber den Gruppen in Zeiten der Not verhält, werden sich die Gruppen dann gegenüber der Kirche verhalten. Entweder befinden sie sich in einer unfreiwilligen Gefangenschaft und befreien sich oder sie betrachten das als einen natürlichen Wohnraum und bleiben dann wenn nicht räumlich so doch inhaltlich christlichen Ideen verpflichtet Hat nicht der Niedergang der Kirche von Unten nach der Wende damit etwas zu tun, dass niemand mehr Bock auf diese Kirche hat die sich in Zeiten der Gefahr eigentlich immer nur taktisch verhalten hat die eigentlich nur insoweit als es um ihre Profilierung und um ihr Überleben ging, die Gruppen berücksichtigt hat.

Walter Schilling: Es ist mir ein wenig pauschal von der Kirche zu sprechen. Wir haben schon vorhin davon gesprochen, dass das ein Prozess ist und dass es eine grosse Menge von Pfarrern gab, die dazu gezwungen werden mussten, ihre Kirchen zu öffnen. Es gibt aber eben innerhalb dieser Kirche Christen, von Pfarrern zu Gemeindegliedern, die gemerkt haben: Kirche muss eben, wenn sie Kirche bleiben will, nicht nur Institution, sondern Träger von vorwärts treibenden Ideen für den Menschen und die Welt sein. Sie muss sich ändern und sie muss anders sein.

Das Zweite: Du hast recht cs wird von der Kirche abhängen und wieweit sie bei dieser Linie bleibt, die so etwa 10 bis 20% der Kirchenmitglieder ergriffen hat Ich befürchte natürlich auch eine Entwicklung in Richtung der Westkirche mit dem dortigen Kirchensteuersystem, dem Schulsystem, die traute Einheit mit dem Herrn Bürgermeister usw., in Richtung auf eine gesellschaftlich anerkannte Macht. Wenn Sie dies nicht tut sondern weiter Vorreiter bleibt immer wieder den Finger auf die kritischen Punkte legt, immer wieder auf eine zukünftige lebenswerte Welt orientiert dann wird ein grosser Teil von Menschen und Gruppen (ohne sich gleich taufen zu lassen) von ihr weiter Motivation beziehen können. Das glaube ich schon. Das ist eine kritische Anfrage an die Kirche genau in dieser Zeit wo ich Angst habe, dass sie restaurativ wird.

Drittens: Wenn es so weitergeht wie es im Moment geht sehe ich voraus, dass es gar nicht so lange dauert, dann kriegen wir hier „wunderschön geordnete bürgerliche Verhältnisse“, wo alles in der Kirche organisiert ist alles schön sauber zu sein hat, ein paar „Türken“ den Dreck wegräumen und wo die Gruppen noch viel stärker an den Rand gedrängt sind, als sie das bisher immer waren. Ich habe den Eindruck, in westlichen Verhältnissen sind die Gruppen viel stärker abgedrängt gewesen als bei uns. Das wird bei uns alles ebenso werden. Da brauche ich nicht nur den Herrn Innenminister Diestel zu nennen. Dann werden diese noch stärker an den Rand gedrängten Gruppen Räume brauchen. Deswegen schätze ich, dass solche Räume wie die Kirche von Unten unbedingt auch bei momentaner Flaute festgehalten werden müssen, damit sie dann zur Verfügung stehen. Wo man einmal sitzt kann man nicht so schnell hinausgedrängt werden. Neu hereinkommen wird schwierig sein.

telegraph: Die andere Gefahr besteht offenbar darin, dass die Basisgruppen der DDR, in ganz ähnlicher Weise wie die übrige Bevölkerung, denken, dass das, was sie bisher gemacht haben, unwichtig war und dass die sehr selbstbewusst auftretenden Westlinken, autonomen und sonstigen Groppen jetzt die neue Botschaft brächten. Dass sie das, ich sage mal „religös-sozialistische Erbe“ wegwerfen und jetzt schleunigst die Auffassungen von westlichen Linken übernehmen müssen.

Walter Schilling: Ja, das ist eine bedauerliche Entwicklung, ich verstehe sie selber nicht so ganz. Es ist einfach eine Frage des Selbstbewusstseins. Es enttäuscht mich, dass bei vielen Freunden das Selbstbewusstsein, das in vielen Jahren Widerstand gewachsen ist, jetzt zusammengebrochen ist Ich halte es für wichtig, auch in dieser Hinsicht die Vergangenheit aufzuarbeiten und unseres Wertes bewusst zu sein. Deshalb brauchen wir auch Gegenwartsbewältigung. Wir dürfen uns nicht von irgendwelchen vordergründigen Feinden her definieren. Ich halte beispielsweise nichts davon, die Faschos dazu zu benutzen. Ich will diese Gefahr nicht unterschätzen, ganz und gar nicht, aber ich denke sie sind eigentlich auch eine Art hilfloser Kinder des Systems. Wenn wir uns an dem Haar in der Suppe fest machen, die wir auslöffeln müssen, haben wir das falsche Feindbild. Ich müsste eigentlich klarer sehen, dass es dieses gesellschaftliche System ist das nicht mehr so geht und verändert werden muss und mich nicht an Symptomen festmachen. Darüber sollten die Gruppen, sofern sie noch vorhanden sind, sich viel mehr Gedanken machen. Wir brauchen wirklich wieder inhaltliche Arbeit. Dass es daran fehlt, hängt zum Teil mit Tagesfragen zusammen. Wir sollten uns dessen bewusst werden, dass wir bestimmte Werte einzubringen haben, genau die die uns von westlicher Seite als wertlos dargestellt weiden. Zweitens: Wir haben bisher nicht allzu viel von diesem Gelddenken gehabt und das betrifft sogar weite Teile der Bevölkerung. Wir haben zwar Geld gehabt aber es wurde nicht alles in Geld gedacht Es war nicht das erste erstrebenswerte Ziel. Das Nächste: Wir haben wirklich in der DDR eine Art Umweltdenken entwickelt, das auch weite Kreise der Bevölkerung miterfasst hat. Das ist auch etwas, was wir ihnen voraus haben. Der Westen ist sehr viel mehr von diesem Fortschrittsdenken belastet das nur auf Kosten der Umwelt zu erkaufen ist. Dann müssten wir uns darüber bewusst werden, dass wir hier sozialer sind. Das sagen mir viele Freunde aus dem Westen immer wieder, dass hier der Umgang der Menschen untereinander herzlicher ist. Wir haben hier ein ganzes Stück mehr soziale Zärtlichkeit. Unter den Gruppen ist es stark ausgeprägt aber auch in der übrigen Bevölkerung ist es zu spüren. Das ist ein Wert, den wir erobert haben m der DDR, den wir bewahren. Dann wird uns vorgeworfen, wir in der DDR wären zu bescheiden. Und ich denke, genau dies ist ein Wert, den wir brauchen. Eine Welt die überleben will, muss lernen, sich zu bescheiden und nicht immer mehr und immer besser und immer qualifizierter werden, sondern sie muss sich mit dem bescheiden können, was man hat, was man ist und was man leben kann. Und das haben wir in der DDR. Wir sind natürlich auch ärmer. Und dies müssten wir als einen Wert entdecken. Ich merke dass, wenn ich ab und zu in Westberlin bin, diesen Stress. Wir waren hier leistungsfreier. Das heisst nicht, dass keine Leistung zum Leben notwendig wäre, es fehlt der Stress des Westens.

telegraph: Diese Art von Nichtleistung war ja bisher der Versuch, den Staat zu betrügen. Der tschechoslowakische Wirtschaftsminister Sik formulierte es im Jahre 1968 so: „Bisher haben die Arbeiter so getan, als ob sie arbeiten und die Regierung hat so getan, als ob sie sie bezahlt.“ Die Leute glauben jetzt alle, dass sie jetzt von diesem furchtbaren Zwang befreit sind und endlich alles kaufen können, weil sie richtig bezahlt werden. Dafür wollen sie aber auch richtig arbeiten. Das zu lernen, dass das, was sie zuvor als Zwangslage empfunden haben, vielleicht einer der positiven Aspekte des Regimes war, das wird wahrscheinlich sehr schwer fallen.

Walter Schilling: Es wird sehr schwer sein. Die alten Verhältnisse waren eine Perversion, aber die Lebenshaltung der DDR-Bürger war richtig und diese Lebenshaltung müsste bewahrt werden. Das ist ein Weit, den wir haben.

telegraph: Woran lag es Deiner Ansicht, dass die Gruppen nicht stärker die „Wende“ im vorigen Jahr prägen konnten. Waren sie zu wenig organisiert, zu wenig vernetzt?

Walter Schilling: Das Vernetzungsbestreben hat Mitte der achtziger Jahre, sicher auch ausgelöst durch die Perestroika in der Sowjetunion eingesetzt hat. Vernetzungsbestreben der Gruppen ein. Die Friedenswerkstatt hier in Berlin war ein typisches Zeichen. Zuerst gab es nur das Friedensthema, dann kamen die anderen Themen hinzu, die Leute fanden sich. Der Kirchentag von Unten in Berlin 1987 war genau an dieser Stelle richtig. Natürlich gab es neben der Kirche von Unten eine Reihe anderer Netzwerke, die Initiative Frieden und Menschenrechte, die Arche und andere. Ich denke, dass wir mit der Vernetzung schon ein ganzes Stück weit waren und dann von den plötzlichen Ereignissen im September, Oktober überrollt wurden. Wir waren noch nicht so weit, wir hatten noch nicht wirklich einen gemeinsamen Nenner gefunden. Darüber hinaus würde ich kritisch anmerken, die Gruppen waren auch noch nicht so weit – ich denke, das werden sie lernen müssen, sich für die grosse Menge der Bevölkerung verständlich auszudrücken. Sie blieben entweder zu intellektuell oder sie haben zu wenig verstanden, die Sprache zu sprechen, die ein normaler Bauarbeiter spricht. Man merkt das an einer Reihe von Flugblättern, die es gegeben hat. Es war nicht so, dass der normale Mensch auf der Strasse soviel hätte damit anfangen können. Das ist uns sicher nicht gelungen. Soweit waren wir einfach nicht, das wäre der nächste Schritt gewesen.

telegraph: Naja, es ist uns natürlich wenigstens besser als der Westlinken gelungen. Und es lässt sich ja immerhin genau verfolgen, Basis diese Bewegung in der DDR im September und Oktober solange vorwärtsmarschierte, wie Konzepte von Seiten der Gruppen da lagen. Dialog, Frage von Abgrenzung, Gewaltlosigkeit, das alles haben die Leute sehr schnell gelernt. Aber da, an dem Punkt, an dem die Gruppen nicht mehr weiter wussten, wo noch nicht nachgedacht oder nur erste Diskussionen geführt wurden, nämlich in der Frage von Gesellschaftsmodellen, alternativen Mitbestimmungsmodellen…. Als also nichts mehr von den Gruppen kam die, behaupte ich mal, den eigentlichen Inhalt der Bewegung ausgemacht haben, begann die Bevölkerungsbewegung zunehmend der natürlichen Schwerkraft zu folgen.

Walter Schilling: Ja sicher, das stimmt. Ich glaube schon, dass es in den Gruppen Konzepte gab und dass auch noch Konzepte da sind. Nur, sie waren nicht ausformuliert und sie waren nicht so ausformuliert, dass sie der Mensch auf der Strasse als etwas Erstrebenswertes, als mehr erstrebenswert als die schnelle Westmark betrachtet hätte. Zum zweiten sind wir überrollt worden. Es waren nicht nur die hilflosen Menschen auf der Strasse, die sich beeinflussen liessen, sondern es waren und sind bis heute bestimmte westliche Politiker. Der „Kanzler aller Deutschen“ und seine Gefolgsleute wollten den schnellen Griff machen und nannten das eine „historische Stunde“, womit sie die Gelegenheiten für sich selbst meinten. Sie konnten mit ihrer irren Überheblichkeit, mit der sie das beste und freieste System der Welt anpriesen, den Leuten imponieren. Die Bürgerbewegung hat sich gewehrt. Sie konnte* aber zum Beispiel nicht durchsetzen, dass eine Demokratie von unten,
beginnend mit einer Kommunalwahl aufgebaut werden muss. In der Tat hat ja auch die Kommunalwahl jetzt das Volkskammerwahlergebnis ein bisschen berichtigt Auf einmal waren die Bürgerbewegungen doch etwas stärker. Ich rechne da durchaus alles, was unter „Andere“ erschien hinzu. Denn das waren sehr oft Binzeipersonen, die wegen ihrer Persönlichkeit, ihrer Bürgernähe gewählt wurden. Es ist also das Potential und die Akzeptanz von Bürgerbewegung doch stärker, als diese 3%. Das geht ab 20% los. In den Grossstädten schwächer, in Kleinstädten und auf dem Land stärker zu bemerken.
Der Einfluss von Bürgerbewegungen ist also vorhanden. Es wäre jetzt an der Zeit zu fragen, ob dieser Typ von repräsentativer Demokratie, Vertreterdemokratie, die uns unser westlicher Nachbar exportiert hat, die einzige Form von Demokratie ist. Es wäre an der Zeit, dass die Bürgerbewegungen und Basisgruppen, darunter die Kirche von Unten, etwas neben dieses angeblich so einmalige Demokratiesystem setzen. Ich kann es nicht hindern, dass es soweit gekommen ist Leider. Ich muss es erst einmal schlucken. Aber es wäre völlig falsch zu sagen, es bleibt dabei. Ich könnte mir als eine Zielvorstellung denken, dass die Bürgerbewegungen ein Parlament neben dem Parlament gründen. Grob verglichen etwa eine Analogie mit dem Oberhaus und dem Unterhaus in England. Beide sind miteinander verflochten und müssen aufeinander hören. Wenn die Bürgerbewegung neben dem Parteigerangel in der Volkskammer es zustande bringen, im Lande ein zweites, ein freies Parlament zu installieren und dieses Parlament einen starken Rückhalt hat, könnten sie gegenüber dem Parteienparlament das westlich finanziert ist, ein Gegengewicht bilden, das möglicherweise zukunftsweisend ist.

telegraph: Solche Überlegungen hat es ja schon in der Vergangenheit gegeben, überzeugt hat mich eigentlich eine Formulierung, dass in einem Räteparlament nur die aktiven Bürger zu Worte kommen, also nur diejenigen eine Rolle spielen, die etwas zu sagen haben und nur insoweit etwas zu sagen haben. Demgegenüber kann bei bürgerlich-demokratischen Wahlen jeder Hänger und selbst ein Kretin sein Stimme für irgendetwas abgeben. Im Extremfall braucht er nur die Augen zu zumachen und irgendwo anzukreuzen. Leider kreuzen solche Leute aber nicht irgendwo an, sondern sind äusserst leicht manipulierbar. Natürlich hat ein Rätesystem den Nachteil, dass nicht alle mitbestimmen können. Aber absurd erscheint mir eben ein System, in dem der letzte lernunfähige Esel, der nichts zu sagen hat, auch etwas zu sagen hat, alle drei Jahre nämlich.

Walter Schilling: Das ist ja das berühmte Argument der parlamentarischen Demokratie, dass das Volk etwas zu sagen hat, alle drei Jahre nämlich. Das ist mir zu wenig. Ich halte es allerdings auch für blauäugig, dass das gesamte Volk, in seinem gesamten Bestand, regieren könnte. Ich denke aber, dass überall dort, wo Bürgerbewegungen von unten her wachsen, mit Abgeordneten, die sie abberufen können und die Verbindungen zu den Menschen nicht nur zum Wahlstimmenfang halten, dort würde der Bürger ein sehr viel besseres Gefühl haben, vertreten zu werden, gehört zu werden und alle vier Jahre seine Stimme abzugeben. Das wäre ein guter Anfang, natürlich ist es kein Patentrezept. Wir sind nun mal seit Ende der sechziger Jahre in der Situation, dass wir neue Wege suchen müssen. Also müssen wir an irgendeiner Stelle anfangen zu probieren. Und wenn wir nicht anfangen, wird eines Tages der Stab gebrochen. ‚Ihr habt es nicht wenigstens mal versucht. Und nun ist Schluss!“ Solange dauert das gar nicht mehr. Als naturverbundener Mensch weiss ich, ich habe noch. nie zwei oder drei solcher Winter hintereinander erlebt. Ich habe noch nie erlebt, dass sämtliche Naturregeln, die über Generationen galten, so ausser Kraft gesetzt waren, wie in den letzten Jahren. In der jetzigen Situation heisst, denke ich, die Aufgabe, nicht nur Modelle zu machen, sondern damit zu arbeiten, Politik zu machen.

Das klingt so, als ob ich hier nur von Politik rede. Wenn, dann ist für mich Politik nie Selbstzweck. Sinnvolle Politik ist für mich das, was Menschen aus Verantwortung für sich selber, für andere Menschen, für ihre Kinder und andere Kinder zu tun haben, damit diese Menschheit leben und überleben kann. Genau das hat aber für mich etwas mit Evangelium zu tun. Es geht beim Evangelium nicht um eine Sache für Gläubige, sondern es geht darum, dass auf dieser Erde eine sinnvolle Möglichkeit zum Leben für alle geschaffen wird. Jesus sagt: „Ich lebe, ihr sollt auch leben.” Das könnte man als einen erklärenden Satz sagen. Es fängt mit der Befreiung des Einzelnen an und geht bis zur Verantwortung für die Menschheit und die künftigen Generationen.

Das Gespräch führte r.l.