Kleine Auflösungs-Plauderei

aus telegraph 11/1990
von Wolfgang Rüddenklau

Nun ist es ja heraus. Das „ND“, leider nicht wir, veröffentlichte
am Wochenende eine Nachricht über Mielkes Befehl 6/86 und die
Überlebensordnung des MfS. Dieser schon 1986 gefasste Plan sieht
vor, dass sogenannte Offiziere im besonderen Einsatz im Falle einer
politischen Umwälzung alles verfügbare Vermögen unter ihre
Kontrolle und zusammen mit treu ergebenen Dienern der Partei- und
Staatsführung und ausländischen Partnern in ihren Besitz zu
bringen hatten. Zu diesem Zweck wurden sie aus dem Stasi-Verzeichnis
gestrichen, mit neuer Biographie ausgerüstet und in Blockparteien
und Oppositionsbewegung, sogar in die SED eingeschleust.

Das ist das, was wir immer behauptet haben, obwohl wir nicht
wussten, dass es dazu einen eigenen Plan gibt: im neuen Regime setzt
sich das Alte fort. Die neue Herrschaft gründet sich auf eine Mafia
aus Verwaltungsbeamten, Stasi und westlichen Konzernen.

Das bringt uns wieder zu unserem Innenminister. Mindestens die
„telegraph“-Leser haben es seit Wochen gewusst: Innenminister Diestel
will sich die Bürgerkomitees und die Regierungsbevollmächtigten
vom Halse schaffen, um seine eigenen Pläne zu verwirklichen. Ein
Brief der Regierungsbevollmächtigten und der Bürgerkomitees, in
dem Diestel aufgefordert wurde, zum neuen Auflösungskomitee
diejenigen zu machen, die sich in dieser Arbeit bisher schon Kompe-
tenz erworben haben, blieb unbeachtet, war wohl auch mehr als
konstruktiver Protest gemeint. Unser Innenminister hat ganz andere
Pläne mit den Stasi-Akten.

Dass er dabei keine Rücksicht auf noch bestehende Strukturen
nimmt, zeigte seine Reaktion auf einen Staatssicherheitsverdacht
gegen Volkskammerabgeordnete. Durch seine Kreatur Eichhorn liess er
unter Umgehung der Regierungsbevollmächtigten und des
Bürgerkomitees schlicht die Siegel des Archivs brechen. Bei dieser
Gelegenheit nahm er gleich Einblick in die Akte von Matthias
Büchner vom Erfurter Bürgerkomitee, den er ganz besonders wenig
leiden kann. Dann ging Diestel noch weiter: Er belog die Volkskammer,
indem er diesen Vorgang schlicht leugnete. Inzwischen
veröffentlichte „Der Morgen“ auch die künftige Legalisierung
solcher Übergriffe: Ab sofort unterstehen die Stasiakten dem
Innenministerium und das überträgt die Verwaltung an die
Staatsbibliothek.

Jeder, der in der Vergangenheit versucht hat, in der Staatsbib-
liothek zu arbeiten, weiss, dass dort seit jeher buchstäblich
nichts in der Aufarbeitung der Buchbestände geleistet wurde,
dafür um so mehr in der Abschottung von verbotenen Gedanken vor
neugierigen und zudem unbefugten Lesern. Die Staatsbibliothek war von
daher eine natürliche Filiale der Staatssicherheit. Sie hat denn
auch auf die neue Vollmacht in der ihr eigenen Weise reagiert: Sie
stellte hunderte von „Spezialkräften“ zur Verwaltung der Stasiakten
an, nämlich die alten Stasi-Archivare.

Wie sich das bei der Benutzung dieses Archivs auswirkt, erfuhren
Mitarbeiter der Umwelt-Bibliothek Berlin am Dienstag voriger Woche,
als sie mit allen notwendigen Stempeln und Scheinchen ausgerüstet,
das Archiv der Bezirksverwaltung Berlin benutzen wollten. Sie
erhielten von den Stasiarchivaren zwei etwa 3 cm dünne Hefter, ein
dritter wurde in Aussicht gestellt, – mehr gebe es nicht. Der eine
der beiden Hefter entpuppte sich als ein Pressespiegel westlicher
Zeitungen über etwa 3 Tage im November 1987, im anderen fand sich
kaum Wesentlicheres. Demgegenüber gibt es nach Schätzungen des
Bürgerkomitees über die Umwelt-Bibliothek Berlin etwa 20 bis 30 m
laufende Akten. Vom Bürgerkomitee Normannenstrasse übrigens wurde
neulich einer der neuen Archivare erwischt, als er ebenso emsig wie
ohne Auftrag riesige Berge von Akten mit dem Aufdruck „Gesperrt“
stempelte.

Das Problem wird sich nach dem geheimen Ministerratsbeschluss
nach Meinung von Leuten der Bürgerkomitees in zwei Wochen insofern
erledigt haben, als dann wahrscheinlich die Bürgerkomitees völlig
ausgeschaltet worden sind und sich auflösen. Noch gibt es eine vage
Hoffnung, dass die Bürgerkomitees an den parlamentarischen
Ausschüssen zur Auflösung der Stasi beteiligt werden.
Diestels Auflösungsamt hat ein Budget von 1,6 Milliarden Mark.
Kenner meinen, dass Termine und militärische Struktur fast
deckungsgleich mit dem von Schwanitz und Modrow ausgearbeiteten
Strukturplan des Verfassungsschutzes übereinstimmen. Hochrangige
Stasi-Offiziere, die eigentlich vor Gericht gehörten, haben wieder
Amt und Vollmachten erhalten. Es ist anzunehmen, dass unter diesem
Deckmantel ein neuer Verfassungsschutz installiert wird. Schon wird
wieder Post abgefangen – die der Bürgerkomitees regelmässig, aber
auch Post beispielsweise der Vereinigten Linken. Matthias Büchner
vom Erfurter Bürgerkomitee beispielsweise hat mehr als 30 Briefe
innerhalb von 8 Tagen nicht erhalten. Eine Anzeige wurde
zurückgewiesen. Der „telegraph“ hat unklärbare Zeitverzüge bei
der Postzustellung.

Das alles wäre schlimm genug, wenn nicht das Peinlichere
geschehen wäre: Innenminister Diestel ist es gelungen, seine
Auflösungskommission durch zwei honorige Zeitzeugen aufzuwerten:
Walter Janka und Stephan Heym. Janka kann, wie es scheint, das Ganze
aus Altersgründen ohnehin nicht mehr verstehen. Aber dieser Stephan
Heym, der schien doch, neben Christa Wolf, der Einzige, der die
grosse Volksbewegung verstand. So jedenfalls wurde von vielen seine
Rede auf der grossen Berliner Demonstration am 4. November
aufgefasst.

Aber das ist wohl ein Irrtum gewesen. Stephan Heym war einfach,
zusammen mit ganz wenigen anderen Berufskollegen, nie für die
einfache Art von Speichelleckerei zu haben. Er und seine
Gesinnungsgenossen waren da etwas wählerischer. Wenn schon geleckt
werden sollte, dann mit etwas mehr Anspruch und vielleicht einer
Prise Wagnis.

Aber wie gesagt, selbst die waren in der Minderzahl. Die
Mehrheit der Berufskollegen, der Maler, Musiker und sonstigen bilden-
den Künstler bevorzugten seit jeher die simple Art des Speichel-
leckens und waren – bei Lichte betrachtet – eben dazu eingestellt.
Ich werde nie vergessen, welche schmachvolle Rolle der Schrift-
stellerkongress spielte, der parallel zum Überfall auf die Umwelt-
Bibliothek im November 1987 tagte. Eine Aufforderung zur
Solidarisierung mit der Mahnwache in der Zionskirche wurde intern
abgelehnt. Einzige Bezüglichkeit: Hermann Kant, Präsident des
Schriftstellerverbandes und Duz-Freund Honeckers, höhnte auf
offizieller Bühne, wer bei uns über Umwelt reden wolle, brauche
sich nicht im Keller verkriechen. Nachher, wohl etwas verunsichert
durch den negativen Ausgang der Affäre für seinen hohen Freund,
teilte er der Umwelt-Bibliothek mit, er sei leider, leider, von der
schlimmen Presse unzulässig verkürzt worden, in Wirklichkeit habe
er die Sache ganz anders gemeint. Falls wir Interesse hätten,
würde er gelegentlich mal eine Lesung bei uns durchführen. Wir
hatten kein Interesse und machten uns darüber Gedanken, welcher
Teufel die Stasi nun wieder ritt, dass sie den Kant vorschicken
mussten.

Während der Mahnwachenaktion für die während der
inoffiziellen Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 Verhafteten
liess sich dann als einziger Prominenter Stephan Heym in der
Gethsemane-Kirche sehen. Natürlich wurde er gebeten, etwas zu
sagen. Nein, meinte er, er wolle nur beobachten. Seine Zeit war wohl
noch nicht gekommen. Ablehnend gegenüber jeglicher Parteinahme vor
der Wende verhielt sich auch Christa Wolf, die immerhin in ihren
Büchern gelegentlich mal ein halblautes Wort wagte.

Dann, als die Dinge entschieden waren, nutzten sie den Anlass,
sich auf die Tribüne zu stellen und endlich, endlich mitzuteilen,
dass sie im Grunde ihres Herzens schon immer dafür und dagegen
waren.

Kein Zweifel, es ist schon traurig, wie jetzt die Kulturinstitu-
tionen unseres Landes aufgrund der Streichung der Förderungsmittel
zusammenbrechen. Aber mir fehlt doch in der allgemeinen und sicher
berechtigten Klage ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Der
Grossteil dieser Subventionen ging doch zur Förderung von Hof-Kunst
drauf. Künstler waren in unserem Lande eine reichlich
überbezahlte und überprivilegierte Schicht, soweit und insofern
sie der wahren und einzigen Staatsreligion zu dienen gewillt waren.
Die betrauerten Jugendclubs waren eben nur ausnahmsweise Nischen der
inoffiziellen Kultur und nur jeweils so lange, bis der schuldige
Klubhausleiter gefeuert wurde. Offiziell nicht anerkannten
Künstlern gings schlecht. Sie jobbten tagsüber bei der
Volkssolidarität und abends wurden ihre Ausstellungseröffnungen
von Polizei und Stasi geräumt, ihre Auftritte verboten. Ganz zu
schweigen von jungen oder unbeliebten Schriftstellern, die am ehesten
noch die Möglichkeit hatten, sich durch Prostitution an ein
westliches Publikum zu ernähren.

Aber noch einmal zurück zur Stasi: Da die Seele des neuen Systems
offenbar die Registrierkasse ist, bleibt die Frage, wer das alles
bezahlt, wem das nutzt. Dazu gibt es verschiedene Theorien. Ein
Faktum, mit dem in Zukunft fest zu rechnen ist, ist der Zusammenhang
der oben beschriebenen Offiziere im besonderen Einsatz. Aber auch
darüber hinaus gibt es nach wie vor Personennetze, die arbeiten.
Die Geheimdienste der internationalen Konzerne brauchten Kräfte,
die den neuen Markt gefügig machen. Im Bezirk Franfurt/Oder
entsteht ein Supermarkt neben dem anderen. Baugrundstücke müssen
gegen gültiges DDR-Recht erworben werden. Eine Rolle sollen auch
die italienische Mafia und der Rauschgift- und Waffengrosshändler
Alcazar spielen, der schon immer ein bevorzugter Handelspartner der
Stasi und des Herrn Schalck-Golodkowski war. Andere meinen, dass ein
Teil der personellen Zusammenhänge vom sowjetischen KGB aufgekauft
und gesteuert werden, beispielsweise um eine Putschtruppe zur
Verfügung zu haben, falls die Sowjetunion ihre Position in den
derzeitigen Verhandlungen mit den Westmächten nicht sichern kann
oder auch für die Zeit nach dem Abgang von Gorbatschow.
Wir können sicher sein, dass wir später Deutlicheres, wenn
nicht zu hören, so doch zu fühlen bekommen.

r.l.