DIE DEMONSTRANTEN GEHEN, HARTZ IV KOMMT

von Sebastian Gerhardt
aus telegraph #111

Mit diesem Spruch verabschiedete die ehemals linksliberale Wochenzeitung „Die Zeit“ in kreativer Umdeutung des Johnnie Walker Werbeslogans die Proteste in die Winterpause. Zwar halten sich vielerorts im Osten auch jetzt noch – Mitte Dezember – Montagsdemonstrationen von einigen dutzend bis einigen hundert Teilnehmern. Doch eine politische Wirkung jenseits der unmittelbar Beteiligten stellt sich nicht ein. Die Entwicklung, die Ende Juli begann und ver-suchsweise in den Sondernummern des telegraph im September analysiert wurde, hat ihre Möglichkeiten und Grenzen mit deutscher Gründlichkeit ausgeführt. 

Es sind die Möglichkeiten und Grenzen eines Protestes in einer provinzialisierten Teilgesellschaft ohne relevante Verbündete im entscheidenden Westen der Republik. Es sind die Möglichkeiten und Grenzen eines autonomen, von den traditionellen Organisationen, von den Gewerkschaften, von der PDS nur partiell unterstützten, aber nicht getragenen Protestes. Eines solchen autonomen Protestes in einer weitgehend atomisierten und entpolitisierten Gesellschaft, in der selbst der generationstypische Jugendprotest nicht recht leben kann, da spätestens mit dem Abschluss der Schulausbildung die rasche Zerstreuung des Nachwuchses in all jene Himmelsrichtungen ansteht, die irgendwie Erwerbsarbeit verheißen. Es sind schließlich die Möglichkeiten und Grenzen eines Protestes von unten in einer Folgegesellschaft des „realen“ Sozialismus, in der jeder Gedanke an Klassenkampf und soziale Selbstorganisation erfolgreich verdrängt wurde – nicht erst seit 1989.

Zu den Randerscheinungen des Straßenprotestes gehörte eine Wiederbelebung der Debatten in den Veteranenzirkeln der Ex-89er. Ein entschiedener Ausschnitt aus diesem Spektrum trat im Spätsommer mit zwei Ehrenerklärungen zur Verteidigung der Montagsdemonstrationen auf den Plan. Praktische Wirkung hat dieses theoretische Interesse kaum gezeigt – von zwei Ausnahmen abgesehen. Einerseits trug es in Berlin zur Stabilisierung der Bewegung bei, als im Haus der Demokratie und Menschenrechte ein Koordinationsbüro und ein wohlklingender Versammlungsort zur Verfügung gestellt wurden. Andererseits kam ein Teil der Leipziger Organisatoren aus dem alten Oppositionsspektrum und hat sich rasch mit seiner Arbeit und – anders als die Berliner – auch mit seinen Positionen einen festen Platz in der Bewegung erworben. Dieser Erfolg der Leipziger um Roger Schaumberg, Michaela Ziegs und Thomas Rudolph geht nicht nur auf ihre größere Entschlossenheit in politischen Fragen zurück – alle drei engagieren sich auch in der Wahlpartei-Initiative „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“. Sondern er verdeutlicht auch Züge der Protestbewegung, insofern hat er mehr als regionale Bedeutung. Nach der Demonstration vom 2. Oktober, die mit etwa 50.000 Demonstranten die wirkliche Stärke des Protestes zeigte, lag am 23. Oktober auf einem informellen Treffen von Organisatoren der Montagsdemonstrationen ein Text aus Leipzig vor, der auf dem nächsten großen Koordinierungstreffen am 7. November in Magdeburg weder angenommen, noch abgelehnt wurde.(http://www.zweiter-oktober.de/7november.htm) Dieser Entwurf einer „Grundsatzerklärung von Vertretern der Sozialbündnisse, der Organisatoren der Montagsdemonstrationen sowie der Organisationen der sozialen Bewegung und von Vertretern der Gewerkschaften zur Lage der Nation und zur Weltlage“ setzt an mit einer Beschreibung des Neoliberalismus als einer „Verschwörung einer extremen Minderheit, der Angriff der Asozialen gegen die westliche Wertegemeinschaft und die europäische Nachkriegsordnung“. Zwar hätten westliche Demokratie und westliche Wertegemeinschaft „nie Anlass zur Zufriedenheit“ gegeben, denn „die Gier und die mit ihr verbundene kriminelle Energie haben die volle Entfaltung der aufklärerischen und emanzipatorischen Zivilisationsimpulse stets effektiv verhindert.“ Aber es hätten „die Lohnabhängigen und politischen Vordenker in den vergangenen 120 Jahren soziale Rechte und politische Freiheiten unter zum Teil schweren Opfern erkämpft, die in der bisherigen Menschheitsgeschichte ohne Gleichen sind.“ Zur Verteidigung dieser Errungenschaften gegen die „Gier“ wollen die Unterstützer des Textes antreten.

Dieser Ausdruck und diese Tonlage werden im gesamten Text beibehalten. Sie sind bezeichnend für das Fehlen – darf man sagen: den Verlust? – politischer und sozialer Urteilskraft. Gesellschaftliche Verhältnisse werden nicht auf das gegenseitige Verhalten der Leute zurückgeführt, womit nicht nur die Objektivität der Verhältnisse, sondern ebenso die Teilnahme aller Einzelnen an ihrer Bildung angesprochen wäre. Über solche Hinterlassenschaften des alteuropäischen Marxismus ist man lange hinaus. Sondern es werden die heutigen Zustände zurückgeführt auf ein Motiv – die Gier – der Mächtigen, der „global player“. Entsprechend wird diesen Mächtigen denn auch eine unheimliche Macht zugeschrieben, ihrer Gier Geltung zu verschaffen: es handelt sich eben um „eine Verschwörung einer extremen Minderheit“. Die Popularität dieser Argumentation ist leicht zu verstehen, fragten doch schon die alten Römer „cui bono“, wem nützt es? Und das der Neoliberalismus der Bereicherung der Reichen dient, ist unbestreitbar.

Die Frage ist nur, ob sich damit der Erfolg des Neoliberalismus erklären lässt. Denn das „cui bono“ ist eine sehr voraussetzungsreiche Formel. Auf der Seite der handelnden Menschen erfordert sie die Annahme eines eindeutig geklärten Interesses, und damit nicht nur die persönliche Abwägung zwischen Chancen und Risiken, sondern setzt vor allem die stabile Entscheidung zwischen unvereinbaren Zielen voraus. Zum zweiten müssen die Handelnden auch die Wege zum Ziel richtig erkennen, über die nötigen Mittel verfügen und das eigene Verhalten ausreichend beherrschen, um die von ihnen angezielte Lage, das „bonum“, überhaupt herbeiführen zu können. Drittens dürfen sie in der Verfolgung ihrer Zwecke nicht zu sehr von den Handlungen anderer Leute beeinträchtigt werden, da sonst das Ergebnis ihres Bemühens zumeist deutlich vom subjektiv gewünschten abweichen wird. Viertens schließlich ist offen, ob der angestrebte Zustand sich tatsächlich als „bonum“ erweist, d.h. ob der realisierte Zweck tatsächlich das Bedürfnis des Handelnden (direkt oder indirekt) befriedigt. Zuweilen stellt sich erst am Ziel heraus, dass die Handelnden sich selbst ziemlich verkehrt eingeschätzt haben und mit dem gewünschten Resultat tatsächlich nicht viel anfangen können. Auch die Zutat der modernen bürgerlichen Zeit zur alten Formel konnte ihre Schwäche nicht aufheben: Zwar ist es zum liberalen Volksvorurteil geworden, dass ein jeder aufgrund seines „Selbsterhaltungstriebes“ zum eigenen Nutzen handelt. Aber es ist gar nicht ausgemacht, wie diesem übergeordneten Ziel aller einzelnen Handlungen eines Menschen konkret zu genügen wäre. Was da als Erklärung der Weltlage daher kommt, wirft mehr Fragen auf, als Antworten in Sicht sind.

Statt diese Antworten zu suchen, rüsten die Autoren der montagsdemokratischen Grundsatzerklärung verbal auf. Spiegelbildlich zur drohenden Katastrophe wird auf der Seite der Guten so ziemlich alles gegen den Neoliberalismus beansprucht, was ihnen an Wahrem und Schönem eingefallen ist: vom „westlichen Wertesystem“, gespeist vor allem „aus den Ideen der Aufklärung, der französischen Revolution, den traumatischen Erfahrungen der beiden großen Weltkriege, sowie kultureller und politischer Transformationen, wie der 68er Bewegung und der Revolution von 1989“ und mit seinen vermeintlichen Prinzipien „der solidarischen Gesellschaft, der Chancengleichheit, Generationenvertrag, Solidarität mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft, aber auch in der Welt“, bis hin zu den „in vielen Arbeitskämpfen erzielten gewerkschaftlichen Errungenschaften“, ihrem „sozial- und arbeitsmarktpolitischen Niederschlag in unserer Gesellschaft“ und der Forderung „einer gerechten Weltwirtschaftsordnung“.

Man könnte nun die Fehler der Analyse wie die Widersprüchlichkeit der darauf bezogenen Alternativen und Forderungen untersuchen. Das ist schon oft geschehen, wird immer wieder nötig sein, ist aber nicht die Pflicht des Kommentators, sondern die Kür des Lesers. Die Wirkung solcher widersprüchlichen Texte ist damit nicht erklärt, geschweige denn aufgehoben. Sie stützt sich auf die Benutzung breit akzeptierter Erklärungsmuster wie auf die ebenso breit akzeptierte Unkultur, die politische und soziale Gegner vor allem moralisch disqualifiziert wissen will. Damit tut man sich zwar keinen Gefallen, denn es macht unfähig zur Analyse, zur realistischen Einschätzung der eigenen Lage und zum Kompromiss. Aber sie gibt dafür etwas anderes, was heutzutage nicht weniger vermisst wird: einen Trost angesichts der eigenen Ohnmacht. Wenn im Frühjahr 2005 den Leuten das Geld zum Leben fehlt, ist aber nicht Trost nötig, sondern nachhaltiger Widerstand. Dazu braucht es Fragen und Antworten statt Dämonisierung und Selbstüberschätzung.

Sebastian Gerhardt ist Journalist und Redakteur bei der Zeitung berlin von unten, er lebt in Berlin.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph