Editorial telegraph #115

OPPOSITIONELLE, TERRORISTEN, KRIMINELLE

Berlin, Prenzlauer Berg, vor 20 Jahren. Am 25. November 1987, gegen 0.00 Uhr dringen mit den Rufen „Hände hoch, Maschine aus!“ etwa 20 Mitarbeiter der Staatssicherheit und ein Staatsanwalt in die Räume der Umwelt-Bibliothek Berlin ein, die auch die Redaktionsräume der Samisdatzeitschrift Umweltblätter sind. Sieben Leute waren gerade beim Drucken der neuen Ausgabe. Die Durchsuchung wird mit einem §218 (Vereinigung zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele) begründet. Die Anwesenden Redakteure und Mitarbeiter der Umweltblätter werden festgenommen, die Druckmaschinen (Wachsmatrizenmaschinen, Jahrgang 1900, 1936, 1953, 1970), die gerade gedruckte Seite 28 der Umweltblätter und eine nicht fertiggestellte Ausgabe der Zeitschrift Grenzfall Nr.11 werden von den Organen der Staatssicherheit beschlagnahmt. Bis zum nächsten Abend werden fünf der Festgenommenen wieder freigelassen. Nach der Stasiaktion gegen die „Druckerei der Berliner Opposition“, die den Namen „Aktion Falle“ hat, kommt es zu bis dahin nicht für möglich gehaltenen öffentlichen Protestaktionen innerhalb und außerhalb der DDR. Vor der Berliner Zionskirche werden Mahnwachen errichtet, die erste wird noch von der anrückenden Polizei abgeräumt, die beteiligten Personen auf LKWs verladen und abtransportiert. Trotzdem wächst die Zahl der Demonstranten weiter stetig an. Überall in der DDR kommt es zu Protestaktionen, es wird ein Mahnwachenbüro eingerichtet und Informationsveranstaltungen durchgeführt. Und die Proteste zeigten Wirkung: Auch die beiden letzten der Inhaftierten, Wolfgang Rüddenklau und Bert Schlegel müssen am 28. November 1987 aus der Haft entlassen werden, alle eingeleiteten Ermittlungsverfahren werden eingestellt und sogar die Druckmaschinen zurückgegeben. Der Erfolg der Solidaritätsbewegung und die schwere Niederlage der Hardliner in der SED zeigt erste tiefgehende Risse im System auf, die dann zu den bekannten Ereignissen Ende 89 führten.

Berlin, Prenzlauer Berg, 20 Jahre später. Am 31. Juli 2007 dringen bewaffnete Spezialeinsatzkommandos gewaltsam in mehrere Wohnungen ein. Die Zeitschrift telegraph, wie die Umweltblätter seit Herbst 1989 heißen,  ist erneut ins Visier der Staatssicherheit, diesmal jedoch ihrer gesamtdeutschen Ausgabe, geraten: Drei langjährige Redakteure und Autoren und ein Unterstützer der Zeitschrift sind von Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchungen und  im Fall des Soziologen Andrej Holm  von wochenlanger Haft betroffen, zwei weitere Redakteure einer mit längerer Stasi-Hafterfahrung, wurden als Zeugen von der Bundesanwaltschaft vorgeladen und mit Geldstrafen und Beugehaft bedroht. Der Vorwurf diesmal: § 129a – Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Dieser Paragraph ist der Schlüssel zum Gruselkabinett eines totalen Überwachungsstaates: Er öffnet den Ermittlungsbehörden dieses Landes die Tür zur gesamten Palette von Observations- und Kontrollmaßnahmen gegen die politische Opposition, teilweise zu Methoden, von denen die DDR-Staatssicherheit nur träumen konnte: GPS-Wanzen am Auto, stündlich zugesandte stumme SMS aufs Handy, Überwachungskameras rund ums Wohnhaus,  Überwachung des Surfverhaltens im Internet, Speicherung und Auswertung der Emails, Observationen, Überprüfung des Freundeskreises  und vieler weiterer Personen (in den bisher freigegebenen Ermittlungsakten tauchen Namen von 2.000 (!) Menschen auf) – das volle Programm, rund um die Uhr.

In mindestens einem Fall, so ist aus dem Kreis der Betroffenen zu hören, wären auch die persönlichen Stasi-Opferakten zur Erstellung eines aktuellen Personenprofils herangezogen worden – die Akten eines DDR-Oppositionellen, der 1988 zu jenen Organisatoren gehörte, die auch im Osten erfolgreich gegen den Westberliner IWF- und Weltbankgipfel mobilisierten. Das BKA habe versucht, mit Hilfe der Arbeit ihrer Kollegen von der DDR-Staatssicherheit zu belegen, dass ja schon damals Kontakt zu „terroristischen Kreisen“ im Westen bestanden hätte. Im konkret angeführten Fall meinte die Stasi damit  übrigens die Umweltorganisation GREENPEACE.

Inwieweit unsere journalistische Arbeit von diesen Entwicklungen betroffen ist, können wir nur erahnen. In den Ermittlungsakten sollen Observationsfotos vom Sitz der telegraph-Redaktion (Haus der Demokratie und Menschenrechte) auftauchen und die überwachten Emails des Hauptbeschuldigten lagen auf dem Mailserver unserer Redaktion. Das Presserecht lässt grüßen!
Und warum das alles?

Am  31. Juli dieses Jahres wurden Florian L., Axel H. und Oliver R., verhaftet. Sie sollen in einer antimilitaristischen Aktion auf dem Gelände der Firma MAN in Brandenburg versucht haben, drei LKWs der Bundeswehr anzuzünden. Am  selben Tag wird in Berlin auch Andrej Holm festgenommen und die Wohnungen und Arbeitsplätze von drei weiteren telegraph-Autoren durchsucht. Sie werden beschuldigt Mitglieder der militanten gruppe (mg) zu sein. Gegen  die letztgenannten Vier läuft bereits seit 2006 ein von der Bundesanwaltschaft geführtes Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach § 129a.  Andrej und die anderen sollen die intellektuellen Köpfe der Gruppe sein. Der Auslöser für das Verfahren:  Neun Wörter in  einem telegraph-Artikel aus dem Jahr 1998, neun Wörter, die auch in einem Bekennerschreiben der mg verwendet worden sein sollen, Wörter wie „implodieren“ oder „drakonisch“.

In der Anklageschrift heißt es dazu: „Eine veröffentlichte wissenschaftliche Abhandlung enthält Schlagwörter und Phrasen, die in Texten der “militante(n) Gruppe (mg)” gleichfalls verwendet werden. Die Häufigkeit der Übereinstimmung ist auffallend und nicht durch thematische Überschneidungen erklärlich.” … “Als promovierter Politologe ist er zum einen intellektuell in der Lage, die anspruchsvollen Texte der “militante(n) Gruppe (mg)” zu verfassen, zum anderen stehen ihm als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der militanten Gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen.”
Will man dieser Logik der Bundesanwaltschaft folgen, ist jeder kritische Wissenschaftler, Journalist und Autor verdächtig. Die Konstruktionen, auf denen der Vorwurf „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ aufbaut, sind abenteuerlich und müssen entschieden zurückgewiesen werden. Am Rande sei noch erwähnt, das bereits im April 2007 das Kriminaltechnische Institut des BKA in einem Gutachten zu dem Ergebnis kam, dass es zwischen dem telegraph-Text von 1998 und den mg-Schreiben keine „aussagekräftigen Übereinstimmungen“ gebe. Das jedoch, so die Verteidiger der Beschuldigten, sei in dem Antrag auf einen Haftbefehl gegen Andrej H. wohlweislich verschwiegen worden.

Wie 1987, kam es auch im aktuellen Fall  wieder zu einer breiten Solidarisierung im In- und Ausland. Es gab Protesterklärungen und offene Briefe von tausenden Wissenschaftlern darunter Leute internationalen Ranges, es hagelte eine nicht mehr überschaubare Flut von Zeitungsartikeln und Beiträgen im Internet, Solipartys fanden statt,  Protestveranstaltungen z.B. auf der documenta  und in der Berliner Volksbühne wurden durchgeführt. Andrej Holm kam nicht nur frei, sein Haftbefehl wurde im Oktober 2007 vom Bundesgerichtshof als von Beginn an rechtswidrig aufgehoben.

Bemerkenswert: Nur eine kleine Minderheit der heute noch vernehmbaren Ex-DDR-Opposition nahm an diesem breiten öffentlichen Protest teil! Der größere Teil der heute „DDR-Bürgerrechtler“ genannten Mitglieder der DDR-Opposition beschäftigt sich lieber ausschließlich mit den Verletzungen demokratischer Rechte und Freiheiten vor 1990, um nicht die deutsche Gegenwart und deren Realitäten zur Kenntnis nehmen und in eigenes Tun übersetzen zu müssen.

Machen wir uns nichts vor, spätestens seit dem 11. September 2001 weht auch in Deutschland ein anderer Wind. Der renommierte Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) spricht in einer Presseerklärung zum „Fall Andrej H.“ etwas aus, was wir ebenfalls befürchten:

„Die Ermittlungen wurden im Fall Andrej H. vom Bundeskriminalamt geführt. Im Zuge der 2006 verabschiedeten ‚Föderalismusreform‘ sind dem Bundeskriminalamt neue Kompetenzen bei der ‚Terrorismusbekämpfung‘ zugewachsen (Art. 73 Abs.1 Ziff. 9a GG). Zur Ausgestaltung dieser Kompetenzen hat Bundesinnenminister Schäuble im Juli den ‚Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr von Gefahren des Internationalen Terrorismus durch das BKA‘ vorgelegt, der massiv gegen das 1949 von den Alliierten vorgegebene Trennungsgebot verstößt. Die strikte Trennung zwischen präventiver geheimdienstlicher und verfolgender Polizeitätigkeit ist eine Lehre aus der Zeit des deutschen Faschismus und soll verhindern, dass jemals wieder Menschen wegen eines vagen, unbewiesenen Verdachts der Geheimpolizei festgehalten und verfolgt werden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass im Fall Andrej H. – in Vorwegnahme der im Gesetzesentwurf neu definierten Begehrlichkeiten – genau dies passiert ist.“ Wir sind auf dem Weg zu einer neuen deutschen Geheimpolizei.

Diese Ausgabe des telegraph widmet sich daher auch gänzlich dem Thema des aktuellen Falls und beleuchtet den Umgang mit dem § 129a und dem Weg dahin, der Geschichte des Politischen Strafrechts der früheren BRD bis in die Gegenwart.

Die noch in Haft befindlichen drei Antimilitaristen, die durch das Verfahren direkt Betroffenen, wie auch die von der Bundesanwaltschaft vorgeladenen ZeugInnen, die nach Aussageverweigerung von Geldstrafen und Haft bedroht sind, brauchen weiterhin, insbesondere für die rechtsanwaltliche Hilfe, finanzielle Unterstützung. Wir bitten deshalb um Spenden auf folgende Konten:

Konto für die Soliarbeit und die Anwaltskos­ten für alle Betroffenen:

Thomas Herzog
Bank: Postbank Essen
Konto-Nr.: 577 701 432
BLZ: 360 100 43
Verwendungszweck: Sonderkonto
IBAN: DE46 3601 0043 0577 7014 32
BIC: PBNKDEFF

Konto für die Betreuung der vorgeladenen Zeugen und Zeuginnen:
Klaus Schmidt
Bank: Postbank Berlin
Konto-Nr.: 206 10 106
BLZ: 100 100 10
Stichwort: „Keine ZeugInnen“

Nicht nur Blätter fallen!
Eure telegraph-Redaktion

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