Bücherschau

von Jochen Knoblauch
aus telegraph #118/119

Im Büchermeer, mit seiner Flut von Neuerscheinungen ist es schwer immer alle zu erfassen, zu registrieren (elektronisch wie physisch-sinnlich), und eine Auswahl aus der Auswahl zu treffen scheint immer ungerecht zu sein. Um also nicht all zu viele Neuerscheinungen hinten runter fallen zu lassen hier ein Kurzdurchgang der – meiner Ansicht nach – wichtigsten.

Anarchismus:

In Zeiten, wo auf Anti-Kriegs-Demos nicht mehr nur Linke anzutreffen sind, sondern – freilich aus anderen Gründen – auch Rechtsradikale, scheint es mir um so wichtiger zu sein, sich mit einem linksradikalen Pazifismus auseinander zu setzen. Mit Wolfram Beyer (Hg.); Kriegsdienste verweigern – Pazifismus aktuell. Libertäre und humanistische Positionen. (Oppo-Verlag Berlin 2007 / 155 S. / 16 Euro) gelingt das ausgezeichnet, denn Gewaltlosigkeit, darf keine hohle Phrase von PolitikerInnen sein, die heute Krieg uns als „Friedensmissionen“ verkaufen wollen. (George Orwell lässt grüssen).

Das Politik lustfeindlich ist mag sein (abgesehen von den außerehelichen Aktivitäten einiger), aber der Anarchismus war dies nie. Auf eine besondere Weise widmet sich diesem Thema: Maurice Schuhmann; Die Lust und die Freiheit – Marquise de Sade und Max Stirner. Ihr Freiheitsbegriff im Vergleich. (Karin Kramer Verlag Berlin 2007 / 141 S. / 12,80 Euro). Hier geht es allerdings eher um die philosophische Lust an der Freiheit. Sehr interessant.

Dass der alte Haudegen Bakunin, diesem Berserker von „Liebe, Lust und Raserei“ endlich mal ein Almanach gewidmet wird, scheint mir langsam an der Zeit zu sein. Nicht nur, dass Bakunin ein weites Feld der (unerledigten) Forschung abgibt, er bleibt und ist ein breites Reflektionsfeld für alle Umtriebigen. Daher bleibt nur zu hoffen, dass es auch weitere Almanache geben wird: W. Eckhardt/ B. Kramer (Hg.); Bakunin Almanach 1. (Karin Kramer Verlag Berlin 2007 / Abb. / 277 S. / 24,80 Euro).

Ein anderer „zwiespältiger“ Charakter (für die Einen), aber ein klarsichtiger Freiheitsfreund und Schöngeist (für die Anderen) ist John Henry Mackay. Jahrzehntelang beherrschte die Solneman-Biographie dieses Forschungsfeld, aber jetzt gibt es eine weitere fundierte Biographie von dem unermüdlichen Mackay-Forscher Hubert Kennedy; John Henry Mackay (Sagitta) – Anarchist der Liebe. Männerschwarm Verlag Hamburg 2007 /

Reihe: Bibliothek Rosa Winkel, Bd. 45 / Abb. / 292 S. / 14 Euro).

Schon schwierig, wenn zwei Zeitgenossen den selben Namen tragen, und in etwa gleich alt sind: Uwe Timm. Während der Schriftsteller aus München z.Zt. mit seinem (etwas langweiligen) Film über „die Erfindung der Currywurst“ von sich reden macht, hat der andere Timm, libertärer Publizist aus Hamburg jetzt einen biographischen Text vorgelegt: Uwe Timm; Verlorene Kindheit – Errungene Freiheit. Biografie eines unbequemen Libertären. (Oppo-Verlag Berlin 2007 / 208 S. / 19 Euro). Dies ist ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte: Vom Flakhelfer über die Anti-Atombomben-Bewegung der 1950er Jahre zum Individual-Anarchismus. Lesenswert.

Eine weitere Biographie – allerdings erstmal nur der erste von vier Teilen – legt jetzt einer der bekanntesten und noch lebenden Spanienkämpfer vor: Abel Paz; Feigenkakteen und Skorpione. Eine Biographie (1921-1936). (Verlag Edition AV Lich 2007 / Abb. / 182 S. / 4 Euro). Hier bekommt die LeserInnenschaft ein authentisches Gefühl, warum Spanien so wichtig war.

Zu einer der interessantesten Neuerscheinungen dürfte diese Doppel-Biographie der Brüder Max und Siegfried Nacht gehören, deren Pseudonyme Arnold Roller oder Max Nomad wohl eher geläufig sein dürften.

Mit Werner Portmann; Die wilden Schafe. Max und Siegfried Nacht. Zwei radikale, jüdische Existenzen. Mit einem Vorwort von Siegbert Wolf. (Unrast Verlag Münster 2008 / Abb. / 163 S. / 14 Euro) entstand ein sehr akkurates Porträt zweier Menschen aus einer Zeit, die für uns heute kaum nachvollziehbar scheint in seinen weltbewegenden Umwälzungen.

In diese Kategorie fällt auch das Buch: Hermann Knüfken; Von Kiel bis Leningrad. Erinnerungen eines revolutionären Matrosen 1917 bis 1930. (BasisDruck Verlag Berlin 2008 / 474 S. / Abb. / 28 Euro). Spannend zu lesen. Keine Ahnung, warum Menschen Krimis lesen, wenn es derartige Biographien gibt.

Für alle, die wissen wollen, was in der anarchistischen Szene so los war, die brauchen diese Broschüre: Dokumente A: Berliner anarchistisches Jahrbuch 2007. Hg.: Anarchistische Föderation Berlin, Januar 2008 (o.Vlg. / Din-A-4-Broschüre / Abb. / 67 S. / 5 Euro). In gutsortierten Läden oder bei der FdA im RAW-Tempel, Berlin-Friedrichshain).

Ein weiteres wichtiges Werk ist: Gabriel Kuhn (Hg.); „Neuer Anarchismus“ in den USA. Seattle und die Folgen. (Unrast Verlag Münster 2008 / 301 S. / 16,80 Euro). Gegen platten Anti-Amerikanismus wird hier eine Fülle von Widerstandsrichtungen aufgezeigt. Unbedingt lesenswert für alle, die sich mit neueren Bewegungen beschäftigen wollen, selbst wenn im Grunde nicht alles so neu ist, wie proklamiert.

Was auch fast „amerikanisch“ klingt aber ur-europäisch ist (wenn nicht orientalisch), ist das mit einem Augenzwinkern zu lesende: Robert Halbach / Bernd Kramer; Die Apokalypse in der Konsumgesellschaft – oder: Das Rätsel der satanischen 666. (Karin Kramer Verlag Berlin 2008 / 170 S. / Abb. / 19,80 Euro). Nach jahrelanger Ankündigung endlich da: Bernd Kramer erweist sich immer mehr als „Comedian-Star“ der Anarchoszene. Seine Forschungen, Recherchen, Briefe und andere Fundstücke bilden die Grundlage von Realsatire und Dokumentation realer Dämlichkeit. Nur, dass die Haschrebellen sich auch mal sich mit „Heil Satan“ begrüßten (als Reminiszenz an den „Stones“-Titel „Sympathy for the Devil“) wird hier verschwiegen – macht aber nichts.

Literatur:

Der Schweizer Autor P.M., der abwechseln mal Roman, mal Sachbuch vorlegt („bolo’bolo“) hat mal wieder einen Roman geschrieben, der vermutlich noch heiß diskutiert wird: P.M.; Akiba. Ein gnostischer Roman. (Paranoia City Verlag Zürich 2008 / 264 S. /19,90 Euro). Der Tenor lautet: Wir sind unsterblich und Teil einer Simulation. Existentialismus adé.

Gerade in der sog. Kleinkunstszene war er bekannt, zu früh verstorben, hat er hier ein kleines Denkmal bekommen: Michael Stein; „Ich bin Buddhist und Sie sind eine Illusion“. (Edition Tiamat Berlin 2008 / Reihe:

Critica Diabolis Nr. 159 / Abb. / 166 S. / Beilage: CD mit dem Krimi-Hörspiel „Pointer und die Herren im Dunkeln“ von Michael Stein /16 Euro).

Ein weiblicher William S. Burroughs? Immer diese blödsinnigen Vergleiche! Nur weil sie eine Schriftstellerin ist und die gleiche Schreibtechnik wie dieser geniale Junkie hatte? Tolles Buch, und Hut ab für den Verlag, der sich traut derartige Perlen zu produzieren. Aber ehrlich gesagt: Von diesem Verlag sind wir nichts anderes gewöhnt. Mary Beach; Die elektrische Banane // 2-fisted version // Mit dem Originaltext. Einleitung von W.S. Burroughs. (Verlag Peter Engstler Ostheim/Rhön 2008 / 279 S. / Abb. / 28 Euro).

Ein sehr kleines, aber umso bewegender, das Buch von Ruth Henry; Die Einzige. Begegnung mit Unica Zürn.( Edition Nautilus Hamburg 2007 / Reihe: Kleine Bücherei für Hand und Kopf Bd. 59 / 93 S. / 9,90 Euro).

Die Tragödie in der Kunst hat einen Namen: Unica Zürn. Wer sich von diesem Schicksal der hervorragenden Zeichnerin, Autorin und Lebensgefährtin von Hans Bellmer nicht berühren lässt, ist selbst dran schuld. Absolut empfehlenswert.

Und nicht zu vergessen:

Böse Stimmen könnten ihn als „Berufsjugendlichen“ bezeichnen, aber das ist er keineswegs. Mit seinem Sammelband: Klaus Farin; Über die Jugend und andere Krankheiten. Essays und Reden 1994-2008. (Archiv der Jugendkulturen Verlag KG Berlin 2008 / HC / 125 S. / 12 Euro) legt Farin ein Buch vor, welches ein starkes Engagement für die Jugend ist, gegen das runterziehende Geplapper von frustrierten Alten, die sich nicht mehr an ihre Jugend erinnern können (oder wollen). For ever young! Nicht physisch, aber im Geiste!

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