Fragmentarium zum Streik der „Berliner Stadtwirtschaft“

aus telegraph 12/1990

3200 Müll-Männer im Streik.
200-300 rund um die Uhr auf Streikposten vor dem Roten Rathaus.

Und das vom 25.6.1990 bis 29.6.1990! Welche Gründe sorgen für das gesellige Beisammensein von ROT em („…“, d. Säzzer) Rathaus und dem ORANGE der Stadtwirtschaft. Ein Grund ist die Steigerung der Arbeitsnorm um 130%, was vom Lohn nicht gesagt werden kann. Seit der geglückten 180 Grad-Wende ist das Müllaufkommen um 25% gestiegen. Schuld daran ist die Verpackungslawine und die mögliche Billigentsorgung für das westberliner Gewerbe. Die kostenlos aufgestellten Spermüllcontainer in Grenznähe werden von diversen Klitschen genutzt. Das irrwitzige Preisgefälle (11,75 M/t gegenüber 113 DM/t) sorgt dafür, dass die ehemalige DDR zum Abfalleimer verkommt. Gegen diese düstere Zukunft richtet sich die Forderung nach Gebührenerhöhung für Gewerbemüll. Von dem Mehreinnahmen möchten die Streikenden natürlich „wat abham“ und fordern die Sanierung von Deponien.

Der andere Grund: Die Belegschaft wurde von der frischen Regierung und dem noch frischen
Magistrat um Verhandlungsergebnisse betrogen.

Nach einem halbtägigen Warnstreik am 27.1.1990 wurde mit Wirtschaftsministerin Luft ein Plan ausgehandelt, der dem gesamten öffentlichen Dienst zwei Tage mehr Urlaub, Leistungsorientierte Löhne u.ä. einbrachte. Dieser konnte nicht, wie vorgesehen, bis zum 30.6.1990 verwirklicht werden, da die Regierung de Maiziere den Plan für ungültig erklärte. Des weiteren hatte die Belegschaftsvertretung im Rahmen des Staatsvertrags (Art.4 Nr.3 Abs.3) innerbetriebliche Verhandlungen mit der Betriebsleitung aufgenommen. Die Verhandlungsergebnisse waren zum einen höherer Leistungslohn und zum anderen Gebührenerhöhung für Gewerbemüll. Die Unterzeichnung des Vertrags wurde der Betriebsleitung vom Magistrat verboten – worauf die Belegschaft die richtige
Antwort wusste….

Der Streik wurde am Freitag beendet, nach dem der Magistrat den Lohn-und Gebührenerhöhungen zugestimmt hatte. Bis 15.7.1990 soll ein Finanzierungskonzept erstellt werden. Die Müll- Männer machten sich daraufhin umgehend auf ihre Reinigungstouren. Interessant sind die“Kampfmethoden“ der Konfliktparteien:

Der Magistrat verdammte in seiner ersten Reaktion die Streikenden in Grund und Boden und
forderte sie zum Burgfrieden auf, da sich das Gewerbe in einer sensiblen wirtschaftlichen Situation befinden würde. Gegenüber den Streikenden verleugnete er seine Zuständigkeit. Als am Donnerstag die Müllsituation in Nobelabsteigen und der Volkskammer „unerträglich“ wurde (die Ärmsten, d.Säzzer), bekam die westberliner Müllfirma ALBA kurzfristig Aufträge. Die war sich nicht zu schade waren, als Streikbrecher aufzutreten. Die dadurch entstehenden Mehrkosten, so eine Überlegung im Magistrat, sollten den Streikenden als „Disziplinierungsmassnahmen“ vom Lohn abgezogen werden. Die Reaktion der Streikenden auf die Streikbrecher war die Blockierung der Wirtschaftseingänge der entsprechenden Gebäude. Zu bemerken ist, dass „soziale“ Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen
und Krankenhäuser nicht bestreikt wurden. Durch permanente Öffentlichkeitsarbeit verbreiteten sie ihr Anliegen, warben um Solidarität und bewiesen sie ihre Verhandlungsbereitschaft. Die Organisation der Streikenden war gewerkschaftlich, allerdings ohne Mitglied im FDGB oder in den neuen, aber altbesetzten, Öffentlichen Diensten zu sein. Die Entscheidungen wurden von den in den Brigaden gewählten Vertrauensmännern gefällt.

Der Streik wurde von Beiträgen finanziert, die nicht an die funktionärsverseuchten ÖD und
FDGB weitergeleitet wurden. Das Problem der gewerkschaftlichen Organisierung gedenken die MüllarbeiterInnen durch den geschlossenen Beitritt in die westliche ÖTV zu lösen und
übersehen dabei offenbar, dass sie sich damit einer neuen Gewerkschaftsbürokratie in die Arme werfen.

Noch einige Anmerkungen zu Reaktionen von einigen ZeitgenossInnen: Sie waren nach meinem Erleben in der Mehrheit unsolidarisch und lehnten den Streik ab, weil die Stadtreinigung gute Löhne zahle. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich zusammenhängend zu denken bemühen (wer Solidarität übt, empfängt welche). Sie fordern eher die „Umverteilung des Elends“. Zu hoffen gibt allerdings die oft gehörte Bemerkung, dass sie, falls die Müllmänner und -frauen sich durchsetzen können, am nächsten Tag ebenfalls für ihre Anliegen vorm Roten Rathaus stehen. Seither sind einige Tage vergangen …

z.k.