Kommentar: Demark-Aussichten

aus telegraph 12/1990
von Wolfgang Rüddenklau

Wer hat damals nicht gelacht über jenen Witz: Ein Volkspolizist schwingt sich über den Verkaufstisch im Intershop und verlangt von der Verkäuferin politisches Asyl.

Niemandem wäre es eingefallen, dass eines Tages ein ganzes Volk, das der DDR, diesem simplen Irrtum aufsitzen wird. Die Demark wurde erwartet wie ein Wunder und wie das neue Jahr mit Feuerwerkskörpern, Böllerschüssen und exzessiver Sauferei empfangen.

Natürlich hat für DDR-Bürger dieses Geld schon etwas Magisches. Die westlichen Fernsehreklame, von jedem von Kindheit an aufgenommen, entwickelte eine von ihren Urhebern nicht ganz beabsichtigte Wirkung.

Während es hier im Laden nur Zucker, Quark, Salz und Pfeffer gab und bestenfalls sich einmal Gotha und Eberswalde um das Prädikat „Würstchen“ stritten, wurden dort in der Reklame nicht Waren verkauft, sondern existentielle und religiöse Werte: Sommer, Sonne und Meer, Eintracht, Liebe, Schönheit, Jugend, gesellschaftliche Anerkennung, ewiges Glück, ewiges Leben, gutes Gewissen, Identität. All dies für Demark in jenem fernen Land hinter der Mauer zu haben, das für den normalen DDR-Bürger unerreichbar war. Nicht so sehr die Aussicht nach realem Wohlstand, sondern die Sehnsucht nach einem Märchenland trieb ab dem Sommer vorigen Jahres hunderttausende DDR-Bürger in den Westen. Und die Enttäuschung war furchtbar und wird noch furchtbarer werden.

Die Demark ist eben leider keine Märchenwährung, sondern ein höchst realer Gegenwert für Arbeit unter westlich kapitalistischen Bedingungen und mit der Demark werden die Gesetze des Kapitalismus triumphierend und vernichtend unser kleines Ländchen überziehen. Das Szenario ist in
gut informierten Kreisen schon zur Gänze bekannt: im September muss der Mittelstand seine Kredite zurückzahlen und wird bankrott gehen. Im Oktober gibt es keine Unterstützungsgelder für die Kombinate mehr und alle, alle werden in sich zusammenbrechen. Zwei Kombinate haben jetzt schon signalisiert, dass sie vor dem Bankrott stehen. In ein derartiges Land, das wie ein durchlöcherter Eimer ausläuft, investiert natürlich kein westlicher Unternehmer, – wäre ja schön blöd.

Dafür ist die Dienstleistungsbranche schon fest in westlicher Hand, was natürlich nur solange der Fall sein wird, wie noch einige Kaufkraft in der Bevölkerung ist. Natürlich ist es Unsinn zu glauben, dass die Krise der DDR nicht auf Westberlin und die BRD überschwappen wird. Die
Unternehmer werden, von ihren kurzsichtigen Gewerbeinstinkten getrieben, die Gelegenheit nutzen, um die Löhne auch in der BRD herabzusetzen. Genügend StreikbrecherInnen aus der DDR werden sich schon finden. Und schlimmstenfalls drohen sie mit der Verlagerung der Produktion in der DDR. Das wird natürlich die Stimmung unter BRD-ArbeiterInnen gegen Ossis nicht gerade verbessern. Eine Schweinezeit wird heraufdämmern mit Zonen-, Rassen- und sonstigem Fremdgruppenhass. Sündenböcke sind gesucht und werden gefunden werden.

Wie eigentlich ist die Stabilität erklärbar, die die DDR-Wirtschaft bis zum Sommer vorigen Jahres zu haben schien, trotz eines unmässig aufgeblähten Verwaltungsapparates, trotz irrsinniger Verschleuderung von Geldern durch Stasi, Armee und „Grenzssicherungsanlagen“?

Zum einen natürlich wurde Raubbau getrieben. Die vorhandene Industriesubstanz, zum Teil noch aus den Jahren 1910 bis 1930, wurde auf Verschleiss und bis zum letzten Rostteil ausgefahren. Damit zusammen hing der Raubbau an Natur und Umwelt. Umweltschutz diente lediglich der Kosmetik. Astronomische Giftemissionen gelangten gänzlich ungefiltert in Luft, Wasser und Boden. Das alles geht natürlich nur begrenzte Zeit und im Oktober 1989 war in der Tat der Endpunkt erreicht. Ein anderer Grund für die bisherige Stabilität unseres Systems mag dem DDR-Bürger verwunderlich erscheinen:

Wir hatten eine erstaunlich bescheidene herrschende Schicht. Die paar Privilegien und Gelder, die die Politbürokraten aus dem Staatssäckel raubten, würden im Westen kaum einen mittleren Unternehmer zufriedenstellen. Und schliesslich ein weiterer entscheidender Punkt. Infolge des Aussenhandelsmonopols und der zentralen Lenkung und Leitung verhielt sich der Gesamtstaat DDR in der Weltwirtschaft wie ein Konzern und konnte mit seiner gebündelten Kraft für mittelmässige Produkte immer noch etwas mehr Erfolg einfahren, als dies den einzelnen Exportfirmen gelungen wäre.

Natürlich konnten die paar weltmarktfähigen Firmen nur auf dem Rücken der anderen produzieren und damit die nicht zusammenbrachen, wurden über das Umverteilungssystem an Gerecht und Ungerecht die Gewinne verteilt. Falls man nicht, wie zuletzt immer häufiger, Zuflucht zur Gelddruckmaschine nahm und das Verhältnis zwischen Geld und Waren sich weiter verschlechterte.

Das für die einzelnen und für Betriebe nicht ganz vorteilslose Zwangsbündnis DDR ist unwiderruflich zu Ende und die ebenso schwache wie inkompetente Interimregierung der Noch-DDR tut alles, um uns möglichst schutzlos auszuliefern und das wirtschaftliche Desaster noch zu verschlimmern. Ab dem 2. Juli beginnend, wird sich das Gebiet der ehemaligen DDR zur Armutszone Deutschlands entwickeln.

Es ist klar, dass sich, je länger je mehr, starke Gegenbewegungen aus der Bevölkerung entwickeln werden. Es wird für die Basisgruppen darauf ankommen, diese richtig zu verstehen und ihnen bei der Selbstverständigung zu helfen. Ziel muss sein, dass das Protestpotential nicht wieder auf die Mühlen irgendwelcher Parteien geleitet, gegen irgendwelche Sündenböcke und Fremdgruppen gerichtet wird und in den Privatarmeen verschiedenster Couleur a la Weimarer Republik endet, sondern, dass ArbeiterInnen, Frauen, Arbeitslose die Ursachen ihrer Misere erkennen und bekämpfen. Unsere Aufgabe wird es sein, schon jetzt zu diskutieren, welche Perspektiven wir in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts noch für eine nichthierarchische Gesellschaft sehen und wie sich diese verwirklichen lassen. Ist die DDR, wie einige meinen, nur eine besonders sektiererische Form der Industriegesellschaft gewesen und geht es um eine Ablösung der Industriegesellschaft? Oder erledigt sich das Elend der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung durch blosse (und diesmal tatsächliche) Vergesellschaftung der Produktion? Das wird auszudiskutieren sein, nicht, wie jetzt schon nach dem Vorbild unserer westlichen Nachbarn beginnend, mit dem Ziel der Sektenbildung, sondern im steten Bemühen um Konsensfindung und mit der hauptsächlichen Orientierung auf schnelle Realisierbarkeit. Wer immer auch seine Wahrheiten für undiskutierbar und nicht verhandelbar hält, handelt jetzt, fünf Minuten nach 12, unverantwortlich. Nur durch ein Bündnis aller, die Verantwortung empfinden, werden wir eine gesellschaftliche Katastrophe bewältigen können.

Das gilt ganz besonders für das Bündnis mit breiten Schichten der Bevölkerung. Positionen, die nicht vermittelbar sind, müssen entweder vermittelbar gemacht oder fallengelassen werden. Wir dürfen nicht, wie schon einmal in den zwanziger Jahren geschehen, die Bevölkerung in die Fänge von quasireligiösen Weltbildern geraten lassen. Ein neues rechtes Regime, ganz zu schweigen von Auseinandersetzungen um dessen irrationale Ziele können wir uns einfach nicht mehr leisten. Wir würden das ohnehin nicht überleben, die anderen aber ebenfalls nicht. Es geht nicht mal mehr nur um unser Land, es geht jetzt um die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft auf unserem Planeten.

r.l.