Zur Situation von Flüchtlingen in der DDR

aus telegraph 12/1990

Kaum dass unser kleines Land seine Grenzen nach aussen öffnet, werden bereits die ersten Massnahmen zur Abschottung für unerwünschte Zuwanderer, ärmere Nachbarn und andere Eindringlinge getroffen. Die Visumsfreiheit soll lediglich für Menschen aus Ungarn und der CSFR bestehen bleiben, eine Einladung vorweisen müssen Menschen aus Rumänien, Bulgarien, Polen, der Mongolei und Sowjetunion. Eine jahrzehntelange Politik der halbgeschlossenen Grenzen für Osteuropäer findet damit ihre würdige Fortsetzung in der neuen, der Noch-DDR. Dass sich das in einem gemeinsamen Deutschland eher noch verschlechtern wird, darf nach allem, was sich bisher abgespielt hat, mit einiger Sicherheit angenommen werden. Zur Zeit wird allerdings nicht über die Übernahme des BRD-Ausländergesetzes diskutiert, obwohl ein fast wortgleicher Entwurf am 1.6. schon einmal auf dem Tisch lag. Es wird an einer Übergangsregelung gearbeitet, in der die Regierungsverträge für ausländische ArbeiterInnen berücksichtigt werden sollen.

Zum Asylverfahren: Erst am 18.6. begann das erste regelrechte Verfahren, obwohl nachweislich schon Wochen davor Asylsuchende vorwiegend auf dem Flughafen Schönefeld eintrafen (u.a. Tamilen, Somalis), und von dort in willkürlichen Entscheidungen der Grenzbeamten zum Teil nach Westberlin weitergeleitet oder aber ohne jegliche Prüfung des Asylbegehrens abgeschoben wurden. Nach Informationen der Ausländerbeauftragten beim Ministerrat war es schon zuvor möglich, einen Asylantrag zu stellen (DDR-Verfassung von 1968), nach der Wende wurden diese Änträge, sofern sie entgegengenommen wurden, nach völlig unklaren Kriterien entschieden.

Die Regierungskommission zur Erarbeitung des Asylverfahrensgesetzes (bestehend aus Mitarbeitern des Sekretariats der Ausländerbeauftragten), sucht, die Regelungen entsprechend der DDR-spezifischen
Situation zu formulieren. Leider aber kann jeden Tag ein fertiger Entwurf aus Bonn auf dem Tisch liegen.

Die meisten Einreisenden kommen nach wie vor aus Rumänien, ein Grossteil von ihnen sind Sinti und Roma. Dabei ist es zum Teil unklar, ob sie hier einen ständigen Wohnsitz begehren oder nur für begrenzte Zeit bleiben wollen. Allgemein hat sich die Situation der rumänischen Einreisenden etwas entspannt; im Zusammenhang mit den Unruhen in Bukarest und in anderen Städten war allerdings wieder ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Die Weisung des Innenministeriums, nur noch RumänInnen, die eine Einladung vorweisen können, ins Land zu lassen, wird infolge der allgemeinen Rechtsunsicherheit bisher nicht restriktiv angewandt, bzw. kommen teilweise rumänische BürgerInnen der Aufforderung, den Zug zu verlassen , nicht nach. Etliche reisen auch über die grüne Grenze CSFR – DDR ein. Im Bereich Zittau leben hinter und auf der grünen Grenze mindestens eintausend Menschen, die auf eine Möglichkeit warten, nach Berlin weiterreisen zu können . Unter ihnen sind Menschen aus der Türkei und Kurdistan. Es ist also anzunehmen, dass es sich – wie auch
bei den in Rumänien diskriminierten Sinti und Roma – nicht „nur“ um Armutsflüchtlinge handelt, sondern auch um politisch Verfolgte. Und diese geniessen ja, wie es im Artikel 16 des BRD-Grundgesetzes heisst, Asyl. Ohne Gesetzesvorbehalt.

Der Artikel geht auf einen Beschluss des Parlamentarischen Rates zurück, der 1946 vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Jahre 33¬-45 (in denen 800.000 Deutsche in anderen Ländern Asyl fanden) dieses Grundrecht in der BRD für jedeN verfassungsrechtlich einklagbar machte – eine Einmaligkeit bis heute in Europa. Das restriktive Asylverfahren und erst recht das neue AusländerInnengesetz haben diese Motivation des Art.16 allerdings längst überholt: nur noch etwa 3 % der Asylsuchenden werden rechtlich anerkannt. Alle anderen werden mit Paragraphen , die Art. 16 GG faktisch in Einzelfällen mit einiger Raffinesse ausser Kraft setzen, zu de-facto-Flüchtlingen ohne jeglichen rechtlichen Schutz gemacht bzw. sofort abgeschoben.

Und nichts anderes bedeutet der geplante Gesetzesvorbehalt in der Noch-DDR-Verfassung für politisch Verfolgte.

Eine andere Gruppe der Einreisenden sind die bisher etwa 180 sowjetischen Juden, die vor zunehmender Pogromstimmung in ihrem Heimatland flüchteten . Sie sollen nach einem Beschluss der Regierung auf keinen Fall zurückgewiesen werden. Angesichts der deutschen Geschichte eine völlig selbstverständliche Entscheidung.

Mit der Unterzeichnung des Schengener Zusatzabkommens am 19. Juni 90 besteht auch kein Zweifel mehr daran, dass die Aussengrenze des „gemeinsamen Europa“ u.a. an Oder und Neisse verläuft. Der Vertrag von Schengen sieht einen kleinen europäischen Binnenmarkt bereits ab 1991 zwischen BRD, Frankreich und den Beneluxstaaten vor. Für die DDR wurde gleich mitunterzeichnet, obwohl nicht ein DDR-Politiker an den Verhandlungen beteiligt war. Die Schengen-Staaten planen die Einführung der Visumpflicht für 97 Staaten, über Asylsuchende soll ein intensiver Datenaustausch stattfinden.

Ausserdem soll nur ein Land für jeweils einen Asylantrag zuständig sein (one-chance-only-princip), woraus sich zwangsweise eine Art Wettbewerb nach dem restriktivsten Asylverfahren ergeben wird.

Düstere Aussichten für Flüchtlinge. Sie bleiben draussen vor der Tür – nicht nur in der Noch-DDR. Ein gemeinsames Europa wird als immer reicheres Machtmonopol den immer ärmeren 2/3 Welt-Staaten und Osteuropa gegenüberstehen. Westeuropa wird sich schon wie eine Festung verschanzen müssen, um davon nicht erschüttert zu werden.

k.m.