Adamsfamily

von Jürgen Schneider
aus telegraph 120 | 121

Am 18. Dezember 2009 erklärte Áine Tyrell in einer »Insight«-Dokumentation des nordirischen TV-Senders Ulster Television, sie sei von ihrem Vater, Liam Adams, zwischen 1977 und 1985 wiederholt sexuell mißbraucht worden. Áine Tyrell war vier Jahre alt, als ihr Martyrium begann. Einen überraschten diese Vorwürfe nicht: Liams Bruder Gerry Adams, einst Kommandant der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und seit 1983 Präsident der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin. Er offenbarte, dass er seit 1987 von den Vorwürfen gegen seinen Bruder gewusst und seiner Nichte »von Anfang an« geglaubt habe: »Sie war immer ein liebes, kleines Mädchen; ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein Kind wie sie solch einen schweren Vorwurf konstruiert.« Er wolle nun Zeugnis ablegen – zur Unterstützung Áines und gegen Liam. »UTV Insight« war vor der Ausstrahlung der Dokumentation zwei Monate in Kontakt mit Adams, um ihn wegen der Vorwürfe gegen seinen Bruder interviewen zu können. Er hatte also nicht mit einer Überraschung zu rechnen.

Der 1981 im Hungerstreik gestorbene und längst zur irisch-republikanischen Ikone gewordene und von Sinn Féin für deren Odyssee vom republikanischen Aktivismus zur Verwaltung des britischen Staatengebildes Nordirland vereinnahmte IRA-Kämpfer Bobby Sands hat einmal erklärt: »Lasst unsere Rache das Lachen unserer Kinder sein.« Sands’ einstiger Kampfgefährte Gerry gab sich alle Mühe, diese Maxime zu konterkarieren. Gerry Adams war 22 Jahre lang davon überzeugt, dass sein Bruder sich an der eigenen Tochter vergangen hatte, dennoch besuchte er dessen Hochzeit, ließ ihn weiter für Sinn Féin und in Jugendprojekten arbeiten. Er erzählte niemandem in seiner Partei davon, dass sein Bruder seine eigene Tochter vergewaltigt hatte. Gerry Adams verstieß so gegen die Statuten der von ihm geführten Partei, die jenen eine Meldepflicht gegenüber der Partei auferlegen, die von sexueller Belästigung oder sexuellem Mißbrauch durch ein Parteimitglied erfahren. Und der Parteipräsident Gerry Adams verbreitete eine Lüge nach der anderen, nachdem er publik gemacht hatte, er habe kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag im Jahre 1998 erfahren, dass sein Vater, Gerry Senior, mehrere seiner Geschwister körperlich, emotional und sexuell missbraucht habe. Bei der Beerdigung seines Vaters im Jahre 2003 sei er dagegen gewesen, dessen Sarg mit der irischen Trikolore zu verhüllen, wie es für ehemalige IRA-Mitglieder üblich ist. Sein Vater, so sein Empfinden, habe »die Flagge beschmutzt«. Er habe die Zeremonie aber geschehen lassen, weil andere Familienmitglieder nicht wollten, dass die Taten des Vaters öffentlich gemacht werden. Ein einstiger IRA-Mann äusserte den Verdacht, Gerry Adams könne die Geschichte über die Mißbrauchshandlungen seines Vaters erfunden haben, um von seinem völligen Versagen im Falle seiner Nichte Áine abzulenken. Die traditionelle republikanische Ehrerweisung für ›Auld Gerry‹ lässt sich als Teil des Cover-ups verstehen, mit dem Liam Adams geschützt werden sollte. Wäre er ohne militärische Ehren zu Grabe getragen worden, hätten zuviele Fragen gestellt werden können.

In seiner Lügenkette behauptete Gerry Adams zunächst, er sei seinem Bruder 15 Jahre »entfremdet« gewesen, habe keinen Kontakt zu ihm gehabt. Diese »Entfremdung« soll bis in die Jahre 2002/03 angehalten haben. Ende Dezember 2009 wartete die in Dublin erscheinende Zeitung »Sunday Tribune« mit einem Hochzeitsfoto auf, das Gerry Adams bei Liams zweiter Eheschließung einträchtig und grinsend neben dem Bräutigam zeigte. Auch als eines der Kinder aus dieser Ehe getauft wurde, war Onkel Gerry zugegen. 1996 hatte Liam Adams sich in Dundalk von Sinn Féin als Kandidat für die Parlamentswahlen aufstellen lassen wollen. Gerry Adams behauptet, als er 1997 davon gehört habe, habe er »sehr, sehr schnell« gehandelt, damit sein Bruder aus der Partei ausgeschlossen werde. Pech nur für den Parteipräsidenten, dass ein Foto ihn im Sinn Féin-Wahlkampf im Stadtzentrum von Dundalk wieder neben seinem Bruder zeigt. Das Foto war am 6.Juni 1997 in dem in Dundalk erscheinenden Blatt »Argus« zu sehen. Ein paar Monate später leitete Liam Adams die Gedenkfeier für fünf während der sogenannten »Grenzkampagne« der IRA in Edentubber am 11. November 1957 bei einer vorzeitigen Bombenexplosion ums Leben gekommene Republikaner. Diese Gedenkfeier ist eines der wichtigsten Ereignisse im irisch-republikansichen Kalender, so dass ein alter Republikaner erklärte: »Ich bin entsetzt, dass die Führung diesen Mann an solch einem wichtigen republikanischen Ereignis teilnehmen ließ.« Laut »Sunday Tribune« war Gerry Adams regelmäßig bei seinem Bruder in dem südlich von Dundalk gelegenenen Ort Muirhevnamor zu Gast und blieb über Nacht – nicht eben ein Zeichen von Entfremdung. Offiziellen Verlautbarungen von Sinn Féin nach sei Liam Adams in Dundalk nur kurz in der Partei gewesen und habe keine große Rolle gespielt. Laut einem von der »Sunday Tribune« zitierten Parteimitglied war er jedoch »mindestens sieben Jahre lang für Sinn Féin in Dundalk aktiv. Er war synonym mit dem Namen der Partei und galt als Aktivposten. Er war das Dundalk-Gesicht von Gerry Adams.« Fra Browne, 1997 für den Wahlkampf von Sinn Féin in der Grafschaft Louth verantwortlich, mittlerweile aber aus der Partei ausgetreten, erklärte gegenüber der »Sunday Tribune«: »Die Gebrüder Adams waren einander nicht entfremdet. Sie kamen prächtig miteinander aus.« Liam Adams war der Kontaktmann von Sinn Féin der Grafschaft Louth zur nationalen Führung. Im August 1998 habe Liam Adams, »immer noch Mitglied von Sinn Féin«, Dundalk verlassen. Er zog nach Belfast um, wo er weiterhin für Sinn Féín aktiv blieb. Seine Parteisektion traf sich wöchentlich im Felons’ Club, zwei Straßen von dem Haus entfernt, in dem sein Bruder Gerry wohnt. Von den Belfaster Sinn Féin-Aktivitäten seines Bruders Liam will Gerry Adams erst Ende Januar 2010 erfahren haben.

Im Juli 1998 hatte es im »Irish Independent« geheißen, der Jugendarbeiter Liam Adams, Dundalk, habe einen sehr gut organisierten Pädophilenring angeprangert, der vermutlich Verbindungen nach Donegal habe, in jene Grafschaft also, in der Liam zuvor gelebt hatte. Es sind bislang keine Hinweise bekannt geworden, dass Liam Adams während seiner Jugendarbeit rückfällig geworden ist, dennoch stellt sich die Frage, ob nicht seine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen durch seinen Bruder Gerry hätte verhindert werden sollen und können. Sicher ist nur, dass Liam Adams wie die des sexuellen Mißbrauchs schuldigen irischen Priester den Ort wechselte.

Nicht nur in Dundalk, sondern auch in Belfast hatte Liam Adams mit Kindern und Jugendlichen zu tun: von 1998 bis 2003 arbeitete er in Teilzeit für ein Jugendprojekt im Clonard Monastery und von November 2004 bis Mai 2006 für das Beechmount Community Project. Sein Bruder Gerry besuchte das etwas abseits der Westbelfaster Falls Road gelegene Kloster häufig und ging dort zur Messe. Priester von dort spielten im nordirischen Friedensprozeß eine überaus wichtige Rolle. Gerry Adams behauptet, er habe die »Zuständigen« sofort informiert, als er erfahren habe, dass sein Bruder dort Jugendarbeit leiste. Bestätigen konnten dies die Zuständigen allerdings ebensowenig wie die Jugendprojekte in der Republik Irland, für die Liam Adams gearbeitet hat und die sein Bruder gewarnt haben will. Brendan Dineen vom Clonard Youth Centre sagte nach der Durchsicht aller relevanten Akten, es hätten keine Belege gefunden werden können, dass wegen Liam Adams irgendeine Besorgnis geäussert worden wäre.
Im Beechmount Community Project arbeitete Liam Adams von November 2004 bis Mai 2006. Gerry Adams behauptet, er habe seinen Bruder überzeugt, diesen Job aufzugeben, sobald er davon erfahren habe. Das Beechmount Community Projekt befindet sich nur wenige Schritte von Gerry Adams Wohnhaus sowie vom Pressezentrum von Sinn Féin entfernt. Auch im Beechmount Community Project war Gerry häufig zu Gast. Im Juni 2005 enthüllte er dort ein Wandgemälde von Jugendlichen. Ein Foto davon war im Zentralorgan von Sinn Féin, »An Phoblacht/Republican News«, abgebildet. Anfang Juni 2005 beschrieb sich Liam Adams im Rahmen einer Kampagne gegen das Schnüffeln von Kleber gegenüber den Belfaster Medien als »Beechmount community worker«. Und ein paar Monate später stand sein Name wieder in der Zeitung, warb er doch für ein Cross-Community-Jugendprojekt, um rumänischen Waisenkindern zu helfen. Im November 2005 fuhr er nach Rumänien und wurde anschließend für in Belfast erscheinende Zeitungen interviewt. Und sein Bruder Gerry, der immerhin Parlamentsabgeordneter für Westbelfast ist, will von all dieser medialen Aufmerksamkeit für seinen in der Jugendarbeit tätigen Bruder nichts mitbekommen haben? Áine Tyrell erklärte, sie habe ihren Onkel Gerry mehrfach darauf hingewiesen, dass ihr Vater in Belfast mit Kindern und Jugendlichen arbeite. Er habe ihr geantwortet, dies sei eben Liams Art das wiedergutzumachen, was er ihr angetan habe. Eileen Calder vom Zentrum für vergewaltigte Frauen wirft Gerry Adams vor, das Ansehen seiner Familie und seiner Partei habe stets Vorrang vor dem Wohlergehen seiner Nichte gehabt.

1987 war Áine Tyrell von ihrer Mutter Sally zur nordirischen Polizei, der damaligen Royal Ulster Constabulary (RUC), und zu Onkel Gerry begleitet worden. Diesem wurde mitgeteilt, dass ein polizeiliches Gutachten Áine Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihren Vater erhärteten. Gerry Adams fuhr mit seiner Schwägerin und seiner Nichte nach Donegal zu seinem Bruder. Der bestritt die Vorwürfe. Als Áine an ihren Vorwürfen festhielt, so berichten Familienmitglieder, soll Gerry wutenbrannt gesagt haben: »Es ist, als versuchte man herauszufinden, wer die Äpfel vom Karren gestohlen hat.«

Der ehemalige IRA-Mann Gerry Bradley berichtet in seinem Buch »Insider«, dass die IRA sich in den 1980er Jahren im Rahmen der »civil administration« von IRA/Sinn Féin, einer Art Alternativpolizei, um alles gekümmert habe. Lediglich bei Kindesmißbrauch seien die Leute zur Polizei gegangen, wenn auch die »civil administration« oftmals schneller beim Täter gewesen sei. Áine jedenfalls wurde bedrängt, ihr Anzeige bei der RUC zurückzuziehen. Suzanne Breen schrieb in der »Sunday Tribune«: »Áine zeigte die angeblichen Vergewaltigungen 1987 bei der RUC an. Wenn der britische Geheimdienst MI5 nicht ohnehin davon Kenntnis hatte, dann wusste er jetzt von Liam Adams’ Taten. Dem britischen Geheimdienst bot sich eine perfekte Gelegenheit, Details öffentlich werden zu lassen, um Gerry Adams, dem einflußreichsten Sinn Féin- und IRA-Mann in Irland, zu schaden. Er tat es nicht, und viele Republikaner fragen sich, warum er es nicht tat. Zudem haben wir die Reaktionen aus der IRA. Eine ehemaliger Gefangener sagte: ›Liam Adams kam ungestraft davon, während die IRA Frauen an Laternenpfähle gebunden, geteert und gefedert hat, nur weil sie sich mit britischen Soldaten verabredet hatten.‹ Warum wurde Liam Adams geschützt, während andere vermeintliche Sexualtäter von der IRA verstümmelt oder ermordet wurden?« 1995 hatte Gerry Adams den mißbrauchten katholischen Jungen und Mädchen in Nordirland geraten, nicht zur RUC zu gehen, da die Polizei Anzeigen für ihre eigenen militaristischen Zwecke mißbrauchen würde. Der Adams’sche Rat implizierte wohl, dass sich die republikanische Bewegung der Sexualtäter annehmen würde. Im Fall von Gerrys Nichte Áine konnte davon allerdings nicht die Rede sein.
Zwischen 2002 und 2007 bedrängte Áine Tyrell Ihren Onkel Gerry, ein Treffen mit ihrem Vater zu arrangieren. Der Onkel hielt sie mit Ausflüchten hin, so dass sie 2007 erneut zur Polizei ging. Anfang März 2009 hat sich Liam Adams der Polizei in Dublin gestellt. Er wurde vom Gericht gegen Kaution und Meldeauflagen auf freien Fuß gesetzt, nachdem er beteuert hatte, nicht schuldig zu sein.

Bereits Mitte Januar 2010 hatte die »Sunday Tribune« über weitere Mißbrauchsfälle berichtet. Frauen aus zwei der bekanntesten republikanischen Familien hatten gegenüber der Zeitung geschildert, wie sie von Republikanern vergewaltigt worden sind und wie diese Vergewaltigungen von Gerry Adams, Sinn Féin und der IRA vertuscht und die Täter geschützt wurden. Eine Großnichte des einstigen IRA-Stabchefs Joe Cahill war im Alter von 16 Jahren von einem prominenten IRA-Mann in Westbelfast vergewaltigt worden. Und die Tochter eines früheren Belfaster IRA-Kommandanten war physisch, psychisch und sexuell von einer Frau mißbraucht worden, die in der Sinn-Féin-Hierarchie weit oben steht. Beide Frauen erklärten, Gerry Adams seien die Details ihres Mißbrauchs bekannt, er habe allerdings nichts für sie unternommen.

Gerrys Partei Sinn Féin glaubt, den Fragen, die sich aus diesen Mßbrauchsfällen ergeben, ausweichen zu können, indem sie die Vorwürfe als Propaganda von »republikanischen Dissidenten« bezeichnet. Zu deren Denunziation bei der Polizei hatten führende Mitglieder der irischen »Linkspartei«, wie Sinn Féin hierzulande gerne im linken Lager bezeichnet wird, ohnehin schon vor längerer Zeit aufgerufen. Während des Sinn-Féin-Parteitages, der Anfang März 2010 stattfand, hatte Gerry Adams gar die Chuzpe, unter Berufung auf die Osterproklamation von 1916 die Unterstützung aller Kinder der Nation zu fordern. Für den Schutz der Kinder seien alle verantwortlich, und er müsse in der Verfassung garantiert werden.
Der ehemalige IRA-Mann Anthony McInytre riet Gerry Adams: »Mach es wie die Bischöfe und folge ihnen dahin, wohin sie gegangen sind – in den Club der Ehemaligen.« McIntyre führte weiter aus: »Die Haltung von Adams ist wenig überraschend. Wie heisst es doch in dem Lied über den Baum am Ufer? Er lässt sich nicht bewegen. Was als Strategie eines langen Krieges begonnen hat, ist zum Phänomen einer langen Führerschaft geworden, die in Westeuropa ohne Beispiel ist. Die starken Männer der afrikanischen und zentralamerikansichen Politik sind das Modell, dem die Adams-Herrschaft am meisten ähnelt.

Es steht ausser Frage, dass er sich als hartnäckig erwiesen hat, die Macht in einer sich ändernden Welt zu behaupten, in der nahezu alles anders ist, der Führer von Sinn Féin aber der Gleiche geblieben ist. Die meisten anderen Parteiführer rund um den Globus sind von der Bildfläche verschwunden, um Platz für neue Gesichter und neue Ideen zu machen. Doch nicht in Sinn Féin, wo die permanente Führerschaft ein Glaubensgrundsatz zu sein scheint.
Der jahrelang eifrig in Sinn Féin kultivierte Persönlichkeitskult ist so ausgeprägt, dass nicht der Hauch eines Zweifels aus den Reihen der Partei zu hören war. Die Führungsmitglieder, einschließlich der gewählten Repräsentanten, scheinen nicht als Aktivisten in die Geschichte eingehen zu wollen, die aus politisch-strategischen Gründen die IRA gegen Vorwürfe verteidigt haben, sie habe Banken überfallen und jene getötet oder gekidnappt, an denen sie Anstoß nahm, sondern als auf einer Stufe mit den irischen Bischöfen stehende Schwindler, die der Meinung waren, der Schutz einer politischen Karriere solle über der Notwendigkeit stehen, einer vergewaltigten und gepeinigten Frau Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen.« Oder ihrem verstorbenen IRA-Genossen Brendan Hughes. Aber das ist eine andere Geschichte.

Jürgen Schneider ist Autor, Übersetzer und Irland-Experte, er lebt in Düsseldorf.

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