Bücherschau

von Jochen Knoblauch
aus telegraph 120 | 121

Der Frühling ist nun endlich da. Den Büchern – unter anderem – ist es egal welche Jahreszeit gerade herrscht, aber mir als Leser wünsch ich endlich wieder, kurzärmelig am offenen Fenster, lesen zu können. Aber das wird schon. Und gute Bücher, respektive Bücher zu interessanten Themen gibt es zu Hauf. Selbst wenn ich in letzter Zeit immer mal wieder – besonders in literarischer Hinsicht – auf Bücher älteren Datum zurückgreife (mal wieder Camus, Sartre und Arno Schmidt gelesen, oder eines meiner ersten Leseerlebnisse: Gullivers Reisen), so bringen doch auch die neuen Produktionen immer noch genügend interessantes hervor. Und einiges davon, welches mir in der letzten Zeit zwischen die Finger geraten ist, möchte ich hier vorstellen:

Anarchismus
Errico Malatesta (1853-1932), der Zeit seines Lebens sich immer scheute seine Erinnerungen selbst aufzuschreiben – er hatte einfach keine Zeit dafür – muß wohl schon zu Lebzeiten damit gerechnet haben, dass sich diesem Thema eben jemand anderes annimmt: Piero Brunello / Peitro di Paola (Hg.); Errico Malatesta – ungeschriebene Autobiographie. Edition Nautilus Hamburg 2009 / OKt. / 222 S. / 16,90 Euro. Höchst spannend, da Malatesta noch zu jener Garde des ArbeiterInnen-Anarchismus gehörte, für die ihre Überzeugung nicht nur Ehrensache, sondern auch Lebensgefährlich war. Ein ausgezeichneter Geschichtsunterricht über den internationalen Anarchismus.

Und geschichtlich geht es auch weiter: Hans Jürgen Degen; „Die Wiederkehr der Anarchisten“. Anarchistische Versuche 1945-1970. Verlag Edition AV Lich (Hessen) / OKt. / 517 S. / 24,50 Euro. Schade an diesem sehr umfangreichen – an Material und Seiten – Werk ist nur, dass z.B. die SBZ, bzw. DDR hier gar nicht vorkommt, sowie weite Teile des Neo-Anarchismus im Westen. Trotzdem bietet das Buch einen bisher einmaligen Einblick in den Nachkriegsanarchismus, der bisher kaum beachtet worden ist. Flüssig geschrieben mit haufenweise Quellen, die kaum bekannt sind.

Und noch mal Geschichte: Zwar nicht explizit anarchistisch, aber für jedeN AntifaschistIn und Libertäre unbedingt empfehlenswert: Hellmut G. Haasis; Den Hitler jag ich in die Luft. Der Attentäter Georg Elser. Edition Nautilus Hamburg 2009 („Vollständig neu vom Autor überarbeitete Ausgabe auf der Grundlage der Buchausgabe von 1999 bei Rowohlt Berlin.“) OKt. / Abb. / Register / 383 S. / 19,90 Euro. Dieses Buchgehört eigentlich als Pflichtlektüre an jede Schule. Es ist eine Schande, dass bis heute von der Gesellschaft dem Georg Elser nicht die Achtung entgegengebracht wird, die er verdient.

Dokumentarisch mit aktuellen Bezügen bleibt auch das Buch: Brigitte Sändig (Hg.); „Ich revoltiere, also sind wir.“ Nach dem Mauerfall: Diskussion um Albert Camus’ „Der Mensch in der Revolte“. Verlag Graswurzelrevolution Nettersheim 2009 / OKt. / 191 S. / 14,90 Euro. Ein Stück Trauerarbeit: Hätten wir nach der so genannten Wende 1991 es bloß geschafft ein wenig mehr Camus in die Köpfe der Menschen zu bringen… Aber was nicht ist, sollte vielleicht noch werden.

Nicht nur historisch, sondern fundamentalistisch: Zwei Neuerscheinungen zum Thema Max Stirner. Paul Jordens; Max Stirner – Einführung in ein Mißverständnis. Verlag Max-Stirner-Archiv / edition unica Leipzig 2008 / Reihe: Stirneriana 33 (Hg. Kurt W. Fleming) / Illustrationen: Michael Blümel / OKt. / 102 S. / 14,90 Euro. Ehrlich gesagt kann ich es nicht mehr hören, dass es „Mißverständisse“ um Stirner gibt, zumal sein Werk „Der Einzige und sein Eigentum“ seit 1844 immer wieder beachtenswerte Neuauflagen erfährt. Entweder wird er verstanden oder nicht. Trotzdem hat Jordens eine kleine aber feine Einführung abgeliefert, die u.U. mal vorher gelesen werden sollte.
Dazu passend gehört, dass jetzt nach über 160 Jahren endlich eine Ausgabe mal erscheint die etwas erklärender aufgemacht ist, als immer nur der Reprint. Max Stirner; Der Einzige und sein Eigentum. Ausführlich kommentierte Studienausgabe. Hg. von Bernd Kast. Verlag Karl Alber Freiburg/München 2009 / OKt. / 452 S. / 49 Euro. Sicher, diese Ausgabe ist wirklich nur – schon aufgrund des Preises – etwas für die Beinharten. Aber unbestritten ist, dass Bernd Kast als Stirner-Kenner hier eine wichtige und gute Arbeit geleistet hat.

Und um nicht gänzlich in der Vergangenheit zu versinken, sei hier noch auf ein wichtiges Buch des sog. „Neuen“ Anarchismus verwiesen: Gabriel Kuhn (Hg.); Vielfalt, Bewegung, Widerstand. Texte zum Anarchismus. Unrast Verlag Münster 2009 / OKt. / 141 S. / 13 Euro. Na gut, vielleicht stehe ich noch etwas auf dem Kriegsfuß mit diesem Begriff vom „Neuen Anarchismus“, aber die Publikationen in den letzten Jahren bringen durchaus interessantes und überlegendwertes hervor. Der Autor und Aktivist Gabriel Kuhn – inzwischen mit Einreiseverbot in die USA belegt – gehört zu jenen Internationalisten, die die unterschiedlichen sich neu formierenden anarchistischen Szenen, besonders in den USA, aber auch in Asien, sehr gut kennt und mit kritischem Blick beurteilen kann. Ein Autor, von dem wir hoffentlich noch einiges zu lesen bekommen, und der – unter anderen – die Diskussionen vorantreiben kann.

Feminismus
Ohne die Frauen geht nischte. Besonders das Thema Anarcha-Feminismus scheint in den letzten Monaten wieder etwas verstärkt in Bewegung gekommen zu sein. Passend dazu ein historischer Rückblick: Birgit Schmidt; Das höchste Ehrgeizideal war, für Freiheit und Volk gehängt zu werden. Russische Revolutionärinnen. Verlag Edition AV Lich (Hessen) OKt. / 96 S. / 11,80 Euro. Dieser sehr martialische Titel sollte nicht abschrecken. Eine wirklich interessante, wenn auch zu kurze Einführung zu den Frauengestalten der vor-bolschewistischen Ära in Russland, die vor allem durch Jüdinnen geprägt war, von denen wir bisher noch viel zu wenig wissen.

Musik
Um Judentum im weitesten Sinne geht es auch bei dem Buch: Steven Lee Beeber; Die Heebie-Jeebies im CBGB’s. Die jüdischen Wurzeln des Punk. Aus dem Englischen von Doris Akrap. Ventil Verlag Mainz 2008 / OKt. / zahlr. Abb. / Register / 299 S. / OKt. / 17,90 Euro. Irgendwie ein Knaller. Mit fast messianischem Eifer versucht Beeber hier dem Punk jüdische Wurzeln zu geben. Ob Joey Ramone, Lou Reed, Richard Hell, Blondie oder Suicide bis zu John Zorn werden hier Geschichten um die Entstehung des Punk in New York skizziert. Interessant ist sicherlich die These, dass die zweite Generation nach dem Holocaust – als eben nicht betroffenen Generation – so heftig reagieren musste, wie eben diese frühen, fast selbstzerstörerischen Punks. Für meinen Geschmack etwas viel Spekulation in den einzelnen Geschichten, aber wahnsinnig interessant.

Piraterie
Da gibt es doch tatsächlich (Erwachsenen-)Nachrichten für Kinder, wo vor einiger Zeit behauptet worden ist, dass es nun wieder Piraten gäbe, und die seien ziemlich böse. Die können einem wirklich jeden Fasching versauen. Wer sich aber davon nicht abschrecken lassen will sollte unbedingt das folgende Buch lesen: Peter Lamborn Wilson; Piraten, Anarchisten, Utopisten. Mit ihnen ist kein Staat zu machen. Karin Kramer Verlag Berlin 2009 / OKt. / Abb. / 170 S. / 19,80 Euro. Für meinen Geschmack etwas umständlich geschrieben, aber genau passend in unsere Zeit: Christliche Seefahrer, die eine alternative darin sehen, zum Islam überzutreten, weil hier mehr Freiheit herrscht. Ich persönlich wusste bisher wenig von der mittelalterlichen, maurischen Republik Salé, jenem Eldorado für freiheitsliebende Christen unter der Flagge der Piraten und des Islam.

Literatur
Als Fan des Schweizer Autors P.M. bin ich natürlich verpflichtet noch auf folgende kleine Schrift hinzuweisen: P.M.; Ewiges Leben. Kurzfassung. Ein Schlüssel zu P.M.’s gnostischem Roman AKIBA. Paranoia City Verlag Zürich 2009 / OGeh. / 32 S. / 3 Euro (5 SFr.). Ich bin mir selbst noch nicht so ganz sicher, was ich von P.M.’s Theorie der Unsterblichkeit halten soll, aber sicher hat er recht damit, dass der Kampf ums Paradies zu wichtig ist, um diese Utopie der Religion zu überlassen. Und keine Angst, esoterisch ist er auch nicht geworden.

Gedichte scheinen wieder im Kommen zu sein, jedenfalls sind mir in den letzten Monaten gleich mehrere in die Hände gefallen, von denen ich hier auf dieses aufmerksam machen möchte: Egon Günther; hegt traum kerne. Gedichte. Medien streu c/o Peter Engstler Ostheim/Rhön 2009 / OKt. / 50 S. / 10 Euro. Egon Günther kannte ich zuvor nur als Übersetzer – etwa bei der Edition Nautilus – aber er scheint auch ein hervorragender Maler, und eben auch Dichter zu sein. Seine recht eindringlichen Gedichte haben mir gut gefallen. Nix knalliges, nix extravagantes, kein Großstadtgejammere, sondern individuell und politisch. Sehr schön.

Und noch was für die Gescheiten unter den Abenteuerlustigen: Mathias Brandstädter / Mathias Schönberg (Hg); Neue „BT-Mitteilungen“. Studien zu B. Traven. Karin Kramer Verlag Berlin 2009 / OKt. / 240 S. / 24,80 Euro. Hier melden sich diverse Traven-KennerInnen zu Wort, in Erinnerung an seinen 40. Todestag. Für Fans des „gespenstigen“, aber recht politischen Abenteuer-Schriftstellers sicherlich ein Muß. Dazu sollten mit der Zeit auch die hiesigen FreundInnen des zapatistischen Aufstandes kommen, da einige der Traven-Romane ja genau hier spielen und die Problematiken ja bereits 50 Jahre zuvor schilderten.

So, das war es dann mal wieder. Euch allen ein schönen Frühling. Lest schön und immer dran denken: Bücher sind gute Freunde, selbst wenn sie einem meistens den Rücken zu kehren.

Jochen Knoblauch ist Buchherausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Anarchismus, er lebt in Berlin.

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