von Joel Schalit
aus telegraph 120 | 121
»Israel ist weder Europa noch der Nahe Osten«, schrieb die Person. »Alle moralischen Kategorien, mit welchen man dich zur Anwendung auf Länder dieser Regionen trainiert hat, werden nicht greifen.« Klarer konnte der Kommentator nicht sein. Der sich selbst als amerikanischer Soldat bezeichnende, der derzeit seinen Dienst bei den Israel Defense Forces (israelischen Armee) ableistet traf diese Feststellung im Rahmen einer Kritik gegenüber einer Journalistin, die in einem Artikel ihre Unterstützung für eine Antikriegsdemonstration in Tel Aviv bekundet hatte.
Die Feststellung wirkte ein wenig am Ziel vorbei, besonders angesichts der Tatsache, dass er den Artikel schlichtweg für die Ablehnung des Krieges hätte angreifen können, in diesem Fall der ›Operation Gegossenes Blei‹ (Operation Cast Lead), der einen Monat andauernden israelischen Offensive im Gazastreifen, die im Dezember 2008 begann. Stattdessen schweifte der Kommentator ab und zog über, das was seiner ansicht nach problematischwar her, der Weltanschauung der Journalistin. Sie kritisiere Israel, weil sie vom »Ausland« sei. Wäre sie von »hier«, hätte sie es verstehen müssen.
Die Vorstellung, dass »Local Knowledge« (»lokales Wissen«), um den Titel eines bahnbrechenden Werkes des Anthropologen Clifford Geertz zu zitieren, der Schlüssel zum Verständnis der moralischen Gerechtigkeit der israelischen Aktionen gegenüber den Palästinensern sei, ist nicht neu. Jahrzehntelang haben Befürworter der jüdischen Immigration in das historische Palästina mit der »lokalen Erfahrung« argumentiert, um zu erklären, warum das jüdische Leben letztlich dem in der Diaspora überlegen sei. Das Geschenk der Freiheit, in dem Land, ist eine transformative Erfahrung, über die man nicht ohne aliyah (wörtlich: der Aufstieg; Bezeichnung für die Einwanderung nach Israel; d. Ü.) oder Immigration verfügen kann.
Unglücklicherweise ist die gleiche Argumentationsweise hinsichtlich der Vorzüge jüdischer Immigration zu einem der am häufigsten gebrauchten rhetorischen Muster der Rationalisierung der Notwendigkeit militärischer Gewaltanwendung gegenüber Palästinensern geworden. Nur diejenigen, die im Land leben, können wirklich verstehen, warum solche Aktionen zu rechtfertigen sind. Jeder, der sich anschickt, sie zu verurteilen, muss sich offensichtlich eines nicht-israelischen Moralkodex bedienen, da er nicht über die selbstverständliche nationale Erfahrung verfügt, um in der Lage zu sein deren Legitimation anzuerkennen.
Das Problematische an der Äußerung des Kommentators ist, dass er sich keine Zeit nahm, um herauszufinden, dass die Autorin des von ihm kritisierten Artikels in Wirklichkeit eine israelische Journalistin war. Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass die IP-Adresse des von diesem Kommentator benutzten Computers (argwöhnisch wie ich bin, habe ich sie überprüft) zeigte, dass dieser »Soldat« sicht nicht etwa in Israel befindet und dort seinen Armeedienst tut, sondern irgendwo in Brooklyn vor einem PC sitzt. Es bestand zwar keine Möglichkeit seine nationale Identität zu bestimmen, doch die Selbstbezeichnung »Israeli« entsprang mehr einer ideologischen Haltung, als dass sie auf eine tatsächliche Identität verwiesen hätte.
Für diejenigen, die für jüdische Periodika arbeiten, ist so etwas mehr als gewöhnlich. Besonders im Nachrichtenbereich will jeder Kritiker von Artikeln, in denen die israelische Regierungspolitik wenigstens ein bisschen beanstandet wird, einen glauben machen, dass er »pro-israelischer« ist als es die Israelis selbst sind. Dies trifft besonders für Nicht-Israelis zu. Es kann in Wirklichkeit sehr schwierig sein, in diesem Mix einen »Israeli« ausfindig zu machen. Dennoch, war es gerade die philosophische Haltung dieses Kommentators, mit seiner Hervorhebung der außerhalb Israels herrschenden fundamentalen Unkenntnis des Landes, war unglaublich aufschlussreich.
Der Kommentator war augenscheinlich einer, dem eine »pro-israelische« Organisation ein paar Argumente geliefert hatte, damit er diese gegen im Internet veröffentlichte Artikel, in denen Kritik an Israels Offensive im Gazastreifen zum Ausdruck kam, in Anschlag nehmen konnte. Beauftragt, allen klar zu machen, dass sie »schlichtweg nichts verstanden haben«, hatte der offensichtlich intelligente Freiwillige seine Instruktionen derart durcheinander gebracht, dass er Israels Platz auf der Welt buchstäblich als nicht existent erklärt hatte. Die Außenwelt könne Israel nicht beurteilen, sich keiner allgemein gültigen moralischen Vorgaben bedienen, da das Israel ihrer Vorstellungen nicht existiere.
Das Problem ist, dass der Kommentator unbewusst der Unfähigkeit Ausdruck verlieh, mit dem »tatsächlich existierenden Israel« in Verbindung zu treten, ist doch das, was sie wollen etwas, das mit ihrer religiösen Fantasie von diesem Land korrespondiert. Die linke israelische Journalistin, die über israelische Proteste gegen den Gaza-Krieg berichtet, ist damit nicht gemeint. Die einzige Weise, in welcher diese Person, das zu diesem Zeitpunkt stattfindende Blutvergießen rationalisieren konnte, bestand in der Aussage, es ereigne sich jenseits seines Verstandeshorizonts, und dem sie es auf die Vorstellungswelt der Linken projizierte, als gäbe es keine progressiven Möglichkeiten, Israel zu verstehen.
Dies ist, ist zusammengefasst, die philosophische Problematik, die den Kern meines Buches Israel vs. Utopia bildet. Der Zweck des Buches ist die Demystifizierung der Existenz Israels als ein Fetischobjekt in den Köpfen nicht in Israel lebender Juden und rechter Unterstützer des Landes, deren erster Antrieb es ist, eine israelische Realität -durch In Abrede Stellen der Möglichkeit eines Verständnisses überhaupt- zu negieren. Dies gilt besonders für die Zugrundelegung »westlicher« Maßstäbe, wenn in Wirklichkeit Israel ebenso sehr Teil des »Westens« ist wie des Nahen Ostens. Israel mag tatsächlich für eine einmalige Konstellation globaler kultureller Kräfte stehen. Doch der jüdische Staat existiert nicht außerhalb der Macht der Vernunft. Israel kann und muss ihr unterliegen, wie schmerzhaft es auch sein mag.
Meine Gründe für diese Argumentation sind genauso persönlicher wie ideologischer Natur. Ich bin so sehr Israeli wie ich ein progressiver Mensch bin. Einen Widerspruch zwischen diesen Identitäten sehe ich nicht. Aus diesem Grund kontrastiere ich in meinem Buch das Gedachte mit dem tatsächlich existierenden Israel meiner eigenen Erfahrung, als Kind einer Familie, die sich bereits 1882 in Palästina niederließ. Ich behaupte, dass das militärische Eingreifen der Vereinigten Staaten im Nahen Osten nach und nach die Fantasien des Landes von einem anderen Amerika in der Levante demystifiziert hat, und ich behaupte, dass sich in den USA die Sichtweise Israels langsam »europäisiert«, offensichtlich in der gleichen Hinsicht wie betreffend der westlichen imperialen Ambitionen in der Region.
So hoffnungsvoll es auch klingen mag, in Israel vs. Utopia geht es darum, dass es womöglich bereits zu spät sein könnte; dass vor allem, die durch eine mehr als vierzigjährige amerikanische Unterstützung entfesselten Kräfte, zu den schlimmsten Tendenzen in Israel geführt haben. Dennoch sage ich nicht, wie so viele Kritiker des Landes, Israels Zerstörung voraus. Ich bezweifle jedoch, dass es ihm jemals möglich sein wird, eine wirklich multikulturelle, säkulare Demokratie zu werden. Und ich schreibe insofern die angemessene Schuld den Amerikanern zu, die geholfen haben, diese Realität zu sichern, wie unerwünscht diese Version von Israel gegenwärtig in Washington DC auch sein mag.
Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Schneider.
Joel Schalit lebt als Autor und Redakteur in Berlin. Er publizierte bislang vier Bücher und schrieb für diverse Periodika, darunter Alternet, France 24, The Guardian, The San Francisco Bay Guardian und XLR8R. Schalits fünftes Buch, Israel vs. Utopia, erschien im Oktober 2009 bei Akashic Books.
Schalit war Redaktionsleiter des in Berkeley erscheinenden Magazins Tikkun, Mitherausgeber des mehrmals ausgezeichneten Punk Planet, Redakteur bei Allvoices und in den 90er Jahren Co-Direktor des legendären Online-Journals Bad Subjects. Derzeit ist er Onlineredakteur des jüdischen Periodikums Zeek (New York).
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