Dem Sozialisten Robert Havemann zum 100. Geburtstag

von Marko Ferst
aus telegraph 120 | 121

Robert Havemann war ein Sozialist mit kritischem Geist und entwickelte sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt zu einem Ökologen. Havemann inspirierte durch sein unerschrockenes Handeln die Oppositionsbewegung in der DDR. 2010 wäre er hundert Jahre alt geworden. Er stritt für einen „Berliner Frühling“, eine grundlegende Reform der Politbürokratien. Eine zweite revolutionäre Umwälzung hin zu einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz sei notwendig. Er forderte, der Artikel 27 der DDR-Verfassung, das Recht auf freie Meinungsäußerung, müsse endlich verwirklicht werden. Diesen Aspekt wird man bei der größten Demonstration gegen die spätstalinistischen Zustände in der DDR am 4.11.1989 in hervorgehobener Form wiederfinden.
Havemann will in der DDR Opposition durch Oppositionsgruppen oder Oppositionsparteien zulassen. Die Abgeordneten der Volkskammer hätten in freier Rede ihre Gedanken auszuführen, ohne dafür bestraft zu werden und die Redemanuskripte zuvor genehmigen zu müssen. Für jedes Mandat in der Volkskammer wären mehrere Kandidaten aufzustellen. Die Wahlentscheidung solle nicht nur zwischen der einen oder anderen Partei möglich sein. Es müsse mindestens auch die Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Personen geben. In Grunde geht Havemann hier bereits über das westdeutsche Wahlsystem hinaus, berücksichtigt Forderungen, wie man sie bei dem Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim findet.
Er empfiehlt, die Diskussion, wie mehr sozialistische Demokratie erreicht werden kann, massenhaft zu führen im privaten Freundeskreis, in den Betrieben, der Partei und anderen Massenorganisationen, an den Schulen und Universitäten. Havemann spricht bereits in einer Vorlesung von 1963 davon, die Menschen dürfen in der DDR nicht konfektioniert werden, man darf sie nicht den behördlich genehmigten Ansichten unterwerfen. Wer die Folgen einer umfassenden uneingeschränkten Information fürchtet, zieht dadurch gerade unheilvolle Entwicklungen an. Havemann fordert später, es müsse in der DDR die wirkliche Freiheit der Presse hergestellt werden. Notwendig seinen eigene Zeitungen, die frei informieren können, nicht unbedingt westliche Presseerzeugnisse.

Die Ordnungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts teils das mittlere und das östliche Europa prägten, speziell auch die DDR, charakterisiert Havemann als sozialistischen Feudalismus und schränkt zugleich ein, dies sei eigentlich eine widersinnige Bezeichnung. Man habe es mit einem Staat mit absolut pyramidaler Hierarchie zu tun. An der Spitze stehe ein Mann mit fast absolutistischer Herrschaftsmacht. Darunter gibt es stufenförmig einander untergeordnete Herrschaftsebenen. Diese Ebenen würden belegt von „Großfürsten, Fürsten, Grafen und Landvoigten“. In der DDR sieht Havemann das Diktat einer Clique von Parteifunktionären am Werk, eine Parteibürokratie.

Havemann macht sich stark für die Option, die SED zu reformieren. Eine legale Gründung eines kommunistischen Bundes in der DDR wie sie Rudolf Bahro in der „Alternative“ vorschlägt, sieht er nicht als hilfreich an, wobei Bahro einen Wandel in der SED nicht ausschließt. Eine illegale Gründung würde nur die Arbeit der Staatssicherheit erleichtern, so Havemann. Sorge hat er auch, daß sich dort eine rein ideologische Gegenpartei herausbildet, die unter Umständen mit verschärftem Anspruch auftritt, Avantgarde und elitäre Kaderpartei zu sein. Diese Gefahr sieht er, wenn eine entspanntere Lage in der DDR ein solches Projekt zulassen würde. Allerdings in einem anderen Text, der früher entstanden ist, dokumentiert Havemann noch einen anderen Blickwinkel. Wenn die SED aufgelöst würde, dann müßte man einen Bund der Kommunisten gründen, aber man sollte das anders nennen, die Bezeichnung wäre nicht glücklich. Wohl auch die Erfahrung von 1968 in Prag läßt ihn eher auf Opposition in der bestehenden Partei setzen. Zwar sieht er die Partei durch zahlreiche Lobhudler und Karrieristen zersetzt, doch fühlt er sich mit den Genossen auch verbunden. Da ist kein unversöhnlicher Gegner, den man bekämpfen muß, so wie es die Nazis gewesen sind. Freilich ist die SED-Obrigkeit ihm gegenüber keineswegs versöhnlich eingestellt, als sie ihn mehr als zwei Jahre unter Hausarrest in Grünheide stellt, seine Bibliothek und seine Arbeitsmittel einzieht und ihm überdies 10.000 Mark Strafe für ein im Westen publiziertes Buch in Rechnung stellt.

Robert Havemann will in der DDR keine Parteienherrschaft nach westlicher Spielart etablieren. Ein nur marginal auf den Wirtschaftsprozeß Einfluß nehmendes Parlament, das im Grunde die Herrschaftsstrukturen der etablierten Plutokratie nicht in Frage stellt, schien ihm eine Farce zu sein. In jedem Fall existiert für ihn in den westlichen Staaten ein zu begrenztes Demokratiemodell. Darin trifft er sich mit den Kritikern auf der anderen Systemseite, wie etwa Erich Fromm, der demokratische Strukturen auch für den Bereich der Wirtschaft forderte. Rudolf Bahro, der andere wichtige DDR-Kritiker, wird dies trotz des östlichen Systemumbruchs 1989 bis zu seinem Lebensende ähnlich einschätzen und zeigte in „Logik der Rettung“ viele Aspekte auf, die auf eine grundlegende Reform im Westen zielen.

Die Produktionsverhältnisse in der DDR beschreibt Havemann als staatsmonopolistisch, von sozialistischem Anstrich könne keine Rede sein. Dabei würde der Staatsmonopolismus im Kapitalismus vermutlich effektiver funktionieren als in den politbürokratischen Ländern. Havemann hält es für notwendig, daß die Werktätigen alle Rechte des Eigentümers erhalten. Durch sie würde bestimmt werden, wie der Gewinn des Unternehmens zu verwenden wäre. Zugleich will er die Werktätigen entscheiden lassen, wieviel an Produktionsanlagen erneuert, ergänzt und erweitert werden soll. Gleiches gilt für die Frage, wieviel finanzielle Mittel man für die Einführung neuer Technologien, zur Erweiterung oder Spezialisierung des Sortiments der erzeugten Produkte und für soziale Einrichtungen sowie kulturelle Leistungen aufgewendet werden sollen. Bestimmt werden muß überdies wieviel die Arbeiter zum eigenen Verbrauch erhalten. Klar markiert Havemann, bei diesen tiefgreifenden Veränderungen ginge es um eine endgültige Wandlung von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen Produktionsweise. Dies erfordere auch vielfältige und strukturelle Umwälzungen im gesellschaftlichen Überbau. Er sieht dies nicht mit einem vorgefaßten Plan vollziehbar, sondern betont, es ginge um einen permanenten Prozeß. Einzuwenden bleibt, es wäre aber notwendig gewesen sich Rechenschaft abzulegen, wie eine Politökonomie lebenspraktisch gestaltet sein könnte, die die Werktätigen in reale Eigentümerrechte eingesetzt hätte.

Ziel einer sozialistischen Ökonomie könne nicht sein, sagt Havemann, immer mehr Produktion aufzubauen und den Konsum der Menschen zu erhöhen. Statt dessen müsse die notwendige Arbeitszeit ständig gesenkt werden. Die Individuen sollten selbst entscheiden, in welchen Lebensabschnitten sie wieviel Zeit arbeiten. Sie sollten Zeit gewinnen, um sich mehr Wissen anzueignen, Kunst kennen und verstehen zu lernen und selbst als Lehrende in verschiedenen Bereichen tätig zu werden.

Havemanns letztes Werk „Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg“ dürfte neben Rudolf Bahros „Alternative“ zu einem der interessantesten politischen Bücher gehören, das in der DDR entstanden ist. Den verschiedenen Weltmächten empfahl Havemann, einseitig mit militärischer Abrüstung zu beginnen, um ein atomares Inferno abzuwenden. Er hielt in dem Band weder die östlichen noch die westlichen Systeme für fähig, auf Dauer eine zukunftsfähige Gesellschaft zu sichern. Havemann thematisierte die ökologische Zivilisationsproblematik 1980 wie kein anderer Autor aus der DDR. Nur Wolfgang Harich hatte in „Kommunismus ohne Wachstum“ erstmals die Frage nach den ökologischen Grenzen für die östlichen Systeme aufgeworfen, leider nicht ganz frei von stalinistischen Zügen. Havemann sah, die ökologische Krise entwickelt sich allmählich zu einer existentiellen Herausforderung für die Menschheit.
Eine utopische Reise in eine umweltgerechte Zukunftsgesellschaft ist darüber hinaus nur von ganz wenigen Autoren weltweit versucht worden. Ein ähnliches Experiment stellt die Reisereportage „Ökotopia“ von Ernest Callenbach aus den USA dar mit eher anarchistischem Ansatz. Die Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Zielkonflikte beider Entwürfe zu vergleichen ist äußerst spannend.

In Havemanns Zukunft angekommen, gehören die Autolawinen der Vergangenheit an. Man lebt viel bescheidener, aber man lebt gut. Nur noch zehn Prozent des einstigen Energiebedarfs werden benötigt. Die Produkte wechseln nicht mit der nächsten Mode ihr Gesicht und halten viel länger als unsere Güter. Sie sind auf extreme Langlebigkeit getrimmt. Rüstungsindustrie und Werbung sind abgeschafft. Erneuerbare Energien sind zu finden, seine atomaren Fusionskraftwerke wird man hoffentlich nicht mehr bauen. Viele Produktionsprozesse laufen vollautomatisiert in wenigen Zentren auf dem Planeten ab. Zu fragen ist, ob nicht die meisten Güter umweltgerecht nur regional herzustellen sind?

Lebenslanges Lernen und selbst ausgeübte Kultur und Kunst spielen in seinem Zeitsprung eine viel größere Rolle als heute. Es geht nicht um Zensurenlernen oder das Lernen, um als Arbeiter eingepaßt zu funktionieren. Freie Bildung soll angeeignet werden. Das braucht keine Zensuren, Diplome und andere Titel. Frauen nehmen in Utopia wieder eine stärkere Rolle ein. Von einem neuen Matriarchat ist die Rede, das in vielerlei Hinsicht keine einfache Wiederholung des historischen sei. Offensichtlich sind die jahrtausendelang verfestigten patriarchalen Strukturen, doch vakant bleibt bei ihm, wie sich dies substantiell auflösen läßt bis in die zivilisatorischen Tiefenschichten hinein.

In Havemanns utopianischer Gesellschaft gibt es keinen Staat mehr, keine Regierung, kein Militär und keine Polizei. Die Menschen sind so emanzipiert und selbstorganisiert in der Gesellschaft aktiv, daß diese Einrichtungen nicht mehr nötig sind. Nur noch erforderlich ist die Verwaltung von Sachen. Die ökologische Transformation wird, meine ich, nicht ohne gravierende staatliche Lenkung funktionieren. Auch in Zukunft wird der staatliche Rahmen nicht gänzlich abgeschafft werden können. Da scheint Havemann etwas zuviel kommunistischer Euphorie erlegen zu sein. Gänzlich verscherzen wird er sich die Sache mit den heutigen politischen Funktionsträgern, weil er das Geld abschaffen will, ein Schritt der sich auch mit seinen eigenen wirtschaftspolitischen Aussagen im „Morgen“ äußerst schlecht verträgt – einer korrigierten Preispolitik in der DDR.

Havemann hielt den Wachstumszwang kapitalistischer Gesellschaften für ein zentrales Problem. Eine ökologische Rettung der Zivilisation würde jedoch stark schrumpfende Industriegesellschaften erfordern. In Politik und Programmatik der heutigen Parteien sucht man vergeblich nach solch unbequemen Wahrheiten. Nach dem Scheitern des Kopenhagener Klimagipfels – in den letzten Jahren stieg der globale Ausstoß an Treibhausgasen weltweit rasant an – da könnte Havemann recht behalten: Ohne eine ausbeutungsfreie, ökologische Gesellschaft droht die Barbarei. Der Untergang der Maya oder des altägyptischen Reiches durch großregionale natürliche Klimaänderungen zeigt in den archäologischen Befunden – dies ist wörtlich zu nehmen.

In Utopia sei Nicht-Haben der Reichtum. Das Leben ist nicht mehr ein Kampf um das Haben von Sachen und Menschen. Ziel ist es auch sich selbst zu verändern, stärker das hohe Leben ohne Handeln, ohne Absicht einzuüben. Genügsamkeit und Verzicht wären keine Tugenden, sondern die Voraussetzung aller Lebensfreude. Havemann verstand ökologische Zukunftsforschung als eine kritische Auseinandersetzung mit der Welt in der wir leben. Man möge mithelfen und weiterdenken, damit ein vielfarbigeres Bild entstehen kann, neue Ideen hinzukämen. Die Ökologische Plattform bei der LINKEN legte aktuell den Band „Morgen“ neu auf, so ist er wieder im Buchhandel verfügbar. Bedauerlich ist, das der ökologischen Impuls von Havemann oder auch Rudolf Bahros „Logik der Rettung“ nur sehr begrenzt auf Resonanz gestoßen ist.

In den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten muß die Zivilisation ökologisch grundlegend umgestaltet werden. Gelingt dies nicht, werden die klimatischen Brüche dies zu wesentlich schlechteren Konditionen erzwingen, womöglich in totalitär entgleisten Gesellschaften. In dem Band „Wege zur ökologischen Zeitenwende“ zeigte ich zusammen mit Rudolf Bahro und Franz Alt auf, wie weit die Kluft zwischen realem politischen Handeln und den notwendigen Weichenstellungen bereits klafft. Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und Alternativmodelle, so wie das Havemann exemplarisch vorführte, dürften ein knappes Gut bleiben. Das er dabei Gesellschaftsformen favorisierte, die nicht einen Pol auf Kosten des anderen entwickeln, trägt dazu bei, daß nur seine Regimekritik, die er an der DDR übte, öffentlich gewürdigt wird, weniger jedoch seine konkreten Änderungsvorschläge. Könnte er heute noch politisch aktiv sein, würde er manche Sicht von einst vermutlich modifizieren. Ich glaube aber kaum, er wäre seinem Freund Wolf Biermann und dessen aktuelleren Essay gefolgt, soweit sie nicht berechtigt SED-Unrecht anprangern. Das Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen hätte er sich nicht nehmen lassen.

Marko Ferst, geboren 1970. 2004 Abschluß des Studiums der Politischen Wissenschaften an der FU-Berlin, von 1990 bis 1997 hat er die Vorlesungsreihe „Sozialökologie“ an der Berliner Humboldt-Universität besucht, die von Rudolf Bahro geleitet wurde. 1994 die Ökologische Plattform (Die Linke) mitbegründet. Er veröffentlichte die Lyrikbände „Umstellt. Sich umstellen“ (2005) und „Republik der Falschspieler“ (2007). Zusammen mit Beiträgen von Franz Alt und Rudolf Bahro erschien der Band „Wege zur ökologischen Zeitenwende“ (2002). Im selben Jahr gab er den Band „Erich Fromm als Vordenker“ zusammen mit der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft heraus. 2007 publizierte er „Täuschungsmanöver Atomausstieg?“
www.umweltdebatte.de


© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph