von Christoph Marischla
aus telegraph 120 | 121
Nachdem Deutschland nahezu ganz Europa und weitere Teile der Welt mit einem Krieg überzogen hatte, der Lebensraum für eine durch Selektion und Ausrottung zu schaffende Rasse von Ariern bieten sollte, hat eine Allianz der größten (verbliebenen) Militärmächte die Bestie im Herzen Europas niedergerungen. Wegen der renitenten Hingabe des Volkes an Führer und Faschismus auch über die offensichtliche militärische Niederlage hinaus mussten hierzu weite Teile Deutschlands in Schutt und Asche gelegt werden. Die Siegermächte und Frankreich besetzten daraufhin Deutschland und erörterten, wie ein „nie wieder“ zu realisieren wäre. Der deutsche Faschismus hatte dermaßen schrecklich gewütet, dass nach dem Zweiten Weltkrieg ein einmaliger Konsens über die Notwendigkeit zur Bändigung nationalstaatlicher Macht herrschte.
In diesem Kontext ist die Gründung der Vereinten Nationen mit ihrem weitgehenden Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 zu verstehen. Die Staaten allgemein sollten weniger und Deutschland im ganz Besonderen sollte nie wieder fähig sein, einen Krieg zu führen. Dies galt als Voraussetzung für die Gründung eines neuen deutschen Staates und die Bedingungen, die von den Alliierten hierfür gestellt wurden, waren weise gewählt und ein zivilisatorischer Fortschritt: Deutschland sollte über keine Armee verfügen dürfen, seine für Rüstung brauchbare Industrie internationalisiert werden; eine möglichst föderale Ordnung und die im alliierten Polizeibrief festgelegte strikte Trennung von geheimdienstlichen und polizeilichen Machtmitteln einen neuen starken Staat in Deutschland verhindern.
Doch nach dem Sieg über Deutschland begannen die ideologischen Gräben zwischen den Westalliierten und Russland schnell wieder aufzubrechen und versetzten die Westmächte unter Zeitdruck. Der eilige Aufbau eines westdeutschen Staates konnte auf die teilweise im Nationalsozialismus groß gewordene deutsche Elite nicht annähernd verzichten und diese setzte von Anfang an – wenn auch bedacht und vorsichtig – darauf, die Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sowjet-Kommunismus für sich zu instrumentalisieren, um Souveränität zu gewinnen. Hierfür wurde sogar die Teilung Deutschlands in Kauf genommen, durch das folglich die „Systemgrenze“ verlief und sich verhärtete – ein willkommener Anlass für die Gründung des Bundesgrenzschutz 1951 als Aufbauorganisation der Bundeswehr, die 1955 offiziell ins Leben gerufen wurde. Ebenso wie das 1951 gegründete Bundeskriminalamt wurden diese Organisationen im Kontext des eskalierenden Konfliktes zwischen Ost und West unter Rückgriff auf ehemals nationalsozialistische Seilschaften aufgebaut.
Deutschland war zugleich zum Frontstaat im potentiellen Krieg zwischen NATO und Warschauer Packt geworden als auch zum ideologischen Vorzeigeprojekt des Kapitalismus, der hier seine hässliche Fratze nicht zeigen durfte. Ausdruck dessen war eine von den USA und den anderen Westmächten bezuschusste soziale Marktwirtschaft, in der Demokratie und Menschenrechte – die längst zu ideologischen Waffen gegen den real existierenden Sozialismus mutiert waren – weit mehr als in anderen Ecken der Welt gewahrt waren. Die atomare Aufrüstung, die drohte, jedwede Kriegshandlung an der innerdeutschen Grenze zu einem Atomkrieg zu eskalieren, ging einher mit einer scharfen Trennung zwischen einem latenten Kriegszustand mit äußerst beschränkten Befugnissen deutscher Sicherheitskräfte und der zentralstaatlichen Bundesstrukturen und einem Verteidigungsfall der durch die NATO definiert und ausgelöst worden wäre und die Sicherheitskräfte weitgehend deren Kommando untergeordnet hätte. Die westdeutschen Regierungen bauten unter diesen Beschränkungen ihren Einfluss durch Einbindung in internationale Organisationen und Bündnisse wie die Europäische Gemeinschaft, die Westeuropäische Union und die NATO aus und konnte dabei wichtige Erfahrungen für die Interessendurchsetzung mittels „Soft Power“ und politischer Integration sammeln, die in der Global Governance nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes (zunächst) von großer Bedeutung waren. Militärisch wurde die Bundeswehr zwar auf höchstem technischem Niveau aufgerüstet und auch eine entsprechend hochwertige Rüstungsindustrie aufgebaut, tatsächlich blieb sie jedoch bis 1989 jedenfalls außerhalb der NATO-Strukturen strukturell angriffsunfähig. Hierauf achteten trotz aller Integration in gemeinsame politische und militärische Strukturen auch die Nachbarstaaten genau, die auch der Wiedervereinigung Deutschlands zunächst skeptisch gegenüberstanden, als sich hierfür die historische Gelegenheit bot.
Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung war der 2+4-Vertrag, der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet wurde. Er beendete die Befugnisse der Siegermächte in den beiden deutschen Teilstaaten und stellte somit die volle Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, der daraufhin die DDR angeschlossen wurde, her. Als Quasi-Friedensvertrag dokumentiert er eine historisch einzigartige Durchsetzungsfähigkeit der unterlegenen ehemaligen Kriegspartei – Deutschlands – und eine kaum nachzuvollziehende Kompromissbereitschaft der UDSSR, die ihre Vorstellung eines weitgehend entmilitarisierten und neutralen Deutschlands nicht durchsetzen konnte. Als einzige ehemalige Siegermacht musste sich die UDSSR auf ein verbindliches und sehr nahe liegendes Datum für einen vollständigen Truppenabzug 1994 verpflichten. Einziges Zugeständnis an die UDSSR war hingegen, dass keine Atomwaffen und keine ausländischen Truppen auf dem Gebiet der DDR stationiert werden dürften – eine Vereinbarung, die nicht nur durch bei der Verlegung US-amerikanischer Truppen über den Flughafen Halle/Leipzig ignoriert wird, sondern durch die NATO- und EU-Osterweiterung weitgehend zur Makulatur wurde. Alle weiteren Zugeständnisse, auf die sich Deutschland als Bedingung für die „Einheit“ verpflichten musste, stellten Selbstverständlichkeiten dar – wie der Verzicht auf weitere Gebietsansprüche – oder zugleich Zugeständnisse an die anderen Siegermächte, die nach wie vor Angst vor einem starken Deutschland hegten: Ein Verzicht auf ABC-Waffen, eine Obergrenze für den Umfang der deutschen Armee auf 370.000 Soldaten und eine Vertiefung der Europäischen Integration. Bedingungen, die im neuen sicherheitspolitischen Umfeld, das mit dem anschließenden Kollaps der UDSSR und der Auflösung des Warschauer Paktes keine Beschränkung für ein neues deutsches Großmachtstreben darstellten.
So ermöglichte gerade die – aufgrund des Fehlens jeglicher militärischer Gegner ohnehin nahe liegende – Truppenreduzierung der Bundeswehr die nötigen Einsparungen, um diese zu einer modernen, einsatz- und angriffsfähigen Armee auszubauen. Die strukturellen Veränderungen, Rüstungsprogramme und Investitionen, die hierfür notwendig sind, werden meist überschätzt. So verfügte die Bundeswehr zu Beginn der 1990er Jahre nahezu über keine Kapazitäten zum strategischen Transport, weil eine Verlegung von Truppen, Waffen und sonstigem militärischem Material ins Ausland schlicht nicht vorgesehen war und entsprechende Kapazitäten von den Nachbarstaaten und Siegermächten auch nicht toleriert worden wären. Die Kooperation mit der in Halle/Leipzig ansässigen SALIS GmbH sowie die geplante Anschaffung von zunächst 72 Militärtransporten A400M sollen hier Abhilfe schaffen. Ähnliches gilt etwa für die Marine, die nur über Schiffe verfügte, die in Küstennähe kurzzeitig einsatzfähig sind. Um die langfristige Präsenz auf den Weltmeeren zu gewährleisten, sind hingegen so genannte Einsatzgruppenversorger notwendig, von denen ein einziger nahezu eine halbe Milliarde Euro kostet. Kaum ein Waffensystem der Bundeswehr war seinerzeit verlegbar und darüber hinaus dem sich herauskristallisierendem strategischen Umfeld – geprägt durch asymmetrische Konflikte – angemessen. Auch die Satellitenaufklärung Deutschlands und der Bundeswehr zur Abbildung weit entfernter Gelände und damit eine Grundvoraussetzung für eigenständige militärische Interventionen lag weit hinter den Fähigkeiten der Verbündeten und der ehemaligen Gegner zurück, bis sich die Bundeswehr mit dem System SAR-Lupe das leistungsfähigste Satellitensystem der Welt beschaffte – in heutigen Konflikten eine Möglichkeit, sich die taktische Führung in multinationalen Einsätzen bei Bedarf jederzeit anzueignen. Deutschland stellt mit dem 2005 eingerichteten Kommando Operative Führung Eingreifkräfte in Ulm eines von drei verlegbaren Einsatzhauptquartieren, die der EU für Militäreinsätze zur Verfügung stehen und das der asymmetrischen Konfliktlage angepasst bereits Strukturen zur Einbindung polizeilicher und ziviler Eingreifkräfte bereitstellt. Offiziell verfügt die Bundeswehr bis heute über keinen Auslandsgeheimdienst, kein Lagezentrum und keinen Generalstab. Entsprechende Strukturen waren zwar bereits vor der „Einheit“ vorhanden, wurden aber in der Folge massiv ausgebaut. Auch Spezialeinheiten für Operationen hinter den feindlichen Linien wurde erst 1996 das Kommando Spezialkräfte in Dienst gestellt. Die genannten Entwicklungen vollziehen sich im Rahmen der so genannten „Transformation der Bundeswehr“ für die 2004 eigens das Zentrum für Transformation der Bundeswehr eingerichtet wurde. Dieses stellt bei jeder Gelegenheit klar, dass diese Transformation eine kontinuierliche Anpassung an ein sich permanent wandelndes „Sicherheitsumfeld“ darstellt und damit weltweit zugleich zur modernsten Strategie beiträgt als auch das Völkerrecht und das Konfliktgeschehen prägt (Bsp. Zivil-Militärische Zusammenarbeit).
Erfahrungen in Auslandseinsätzen und mit der Einsatzvorbereitenden Ausbildung – für die mittlerweile neue und deshalb auch hochmoderne Übungszentren geschaffen wurden (GÜZ) – mussten langsam angesammelt werden. Dass alle rechtlichen Widersprüche bis heute nicht aus dem Weg geräumt sind, zeigt beispielsweise der Einsatz in Afghanistan: Wenn ein deutscher Soldaten einen Zivilisten tötet, soll das Strafrecht nicht zur Anwendung kommen, sondern das Kriegsvölkerrecht, doch das setzt voraus, dass man sich im Krieg befindet, was das Grundgesetz nicht zulässt. Es wird deshalb vermutlich bald eine „Schwerpunktstaatsanwaltschaft“ in Potsdam eingerichtet die das deutsche Strafrecht für Soldaten in einer den „kriegsähnlichen“ Zuständen in Afghanistan „angepassten“ Form zur Anwendung oder besser noch: zur Nicht-Anwendung bringen wird – gleich neben dem de facto Generalstab, der seine Unabhängigkeit gegenüber der politischen Führung am 4. September 2009 unter Beweis stellte.
Doch auch in Deutschland herrscht – im Grunde seit 2001 – der „Quasi-Verteidigungsfall“. Leitsatz hierbei ist das Dogma der vernetzten Sicherheit, dass „innere und äußere Sicherheit nicht mehr zu trennen“ sei. Und tatsächlich hat sich in Deutschland durch das weltweite militärische Engagement die Gefahr von Anschlägen erhöht. Um das militärische Engagement aufrechterhalten zu können, müssen Anschläge besser verhindert und ihre Folgen begrenzt werden. Der Terroranschlag wurde zum Paradigma des Katastrophenschutzes, der folglich auch den Einsatz der Bundeswehr im Inneren umfasst. Die entsprechenden Strukturen sind mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) geschaffen worden sowie mit den Beauftragten der Bundeswehr für Zivil-Militärische Zusammenarbeit, die 2007 in den Rathäusern kreisfreier Städte, allen Regierungspräsidien und Landratsämtern Büros bezogen, um auf alltäglicher Ebene die Unterstützung der zivilen Behörden durch die Bundeswehr zu gewährleisten. Ihnen unterstehen hierzu auch Landes- und Verbindungskommandos, die sich aus Reservisten rekrutieren und im Krisenfall in Uniform und Befehlskette für Ordnung sorgen sollen. Die Mobilisierung der Reserve ist eines der markantesten Symptome für den Quasi-Verteidigungsfall und eine Einladung an rechtskonservative Kreise verdeckte Milizen für den Ernstfall aufzustellen.
Von der Industrie und dem deutschen Finanzkapital erfahren diese Entwicklungen entsprechenden Zuspruch. Der von Commerzbank und der 1. Panzerdivision des Heeres initiierte Celler Trialog zwischen Politik, Militär und Wirtschaft forderte eine Initiative zur “Förderung der Reservisten in Industrie und Forschung, zur Vertiefung der persönlichen Kontakte und zur Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit”.
Eklatanter noch sind aber die Entwicklungen im Bereich der angeblichen Prävention. Das 2004 gegründete Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) negiert das Trennungsgebot des alliierten Polizeibriefes, der bis heute als Voraussetzung für die Gründung der BRD bindender Verfassungsgrundsatz ist, vollständig. Hier sind Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Zollkriminalamt und Vertreter der Landeskriminalämter ebenso vertreten wie die Geheimdienste wie das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst und der Militärischem Abschirmdienst sowie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Bundeswehr, durch ähnliche Einrichtungen auf Länderebene, Verbindungsbeamte in den entsprechenden Landesämtern (und ausländischen Geheimdiensten, Polizei- und Militärstrukturen) wurde hiermit zugleich die föderale Struktur der Sicherheitsorgane wie auch die Trennung exekutiver und investigativer Befugnisse aufgehoben. Eine Entwicklung, die – wenn auch unter nicht vergleichbaren Bedingungen – durchaus mit der Gründung des Reichssicherheitshauptamtes vergleichbar ist. Erschreckend ist in diesem Kontext, dass mit dem Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration (GASIM) eine ganz ähnliche Struktur gegründet wurde, die auf jegliche Bezugnahme zum Terrorismus verzichtet und ihre nachrichtendienstliche Tätigkeit nicht einmal mehr mit Straftaten zu begründen braucht.
Auch mit den anderen Beschränkungen des 2+4-Vertrages – so sie überhaupt noch Beachtung finden – konnte Deutschland ähnlich produktiv umgehen, insbesondere mit der Vertiefung der europäischen Integration als auch mit der Anerkennung der bestehenden Grenzen. Warum sollten Grenzen noch infrage gestellt werden, wenn doch die öffentliche Ordnung der Nachbarstaaten diktiert werden kann? Die Bedingungen für den EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten und für ihre Aufnahme in die Euro-Zone wurden weitgehend in Deutschland ersonnen und ihre Umsetzung von diesen Staaten (bzw. ihren neuen Eliten) nachgerade als Zeichen ihrer neu gewonnenen Unabhängigkeit von Russland akzeptiert.
Das 1990 von Deutschland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden unterzeichnete Schengener Durchführungsabkommen wurde 1999 Teil des „Acquis Communautaire“, einer kaum zu überblickenden Sammlung von Gesetzen, deren Einführung für die neuen EU-Mitgliedsstaaten verpflichtend waren und ihre öffentliche Ordnung – nicht nur im Bereich der Sicherheit, sondern auch der Wirtschaftsordnung – auf Dauer festschrieb. In Verbindung mit den Abkommen von Schengen und Dublin, wo die deutsche Drittstaatenregelung ihre europäische Umsetzung erfuhr, führte diese unweigerlich zum Entstehen von Lagerwelten an den Außengrenzen Europas. Ähnliches erreichte die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 mit dem erst 2005 unterzeichneten Vertrag von Prüm, der die europäische Polizeikooperation regelt.
Seit der Erweiterung der EU setzt sich Deutschland innerhalb dieser beständig für eine weitere Vergemeinschaftung ein, welche nicht weniger bedeutet, als das die Nationalstaaten Kompetenzen an die von Deutschland (und Frankreich sowie teilweise Großbritannien) dominierten europäischen Institutionen abgeben. Hierzu verfolgte sie zahlreiche Strategien und gründete sie mehrfach, Kraft ihrer Dominanz, neue, informelle Foren und Institutionen wie die „Trio-Ratspräsidentschaft“ oder die „Future-Group“ zur Ausarbeitung der europäischen Sicherheitsarchitektur. Den durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden zum Erliegen gekommenen Verfassungsprozess wieder belebte die deutsche Ratspräsidentschaft durch ihre „Berliner Erklärung“, die einen konkreten Fahrplan für die Verabschiedung des Vertrags von Lissabon beinhaltete, der letztlich auch eingehalten werden konnte. In diesem findet das von Deutschland vorangetriebene „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ seine militärische Entsprechung in der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ derjenigen Mitgliedsstaaten, die sich sicherheitspolitisch besonders engagieren wollen und zukünftig auf EU-Kapazitäten im Verteidigungsbereich auch ohne die Zustimmung der anderen Regierungen zugreifen können sollen.
Der Vertrag von Lissabon wiederum wurde vom Bundesverfassungsgericht so massiv uminterpretiert, dass einige bereits von einem „Vertrag von Karlsruhe“ sprechen. Alle anderen Regierungen mussten diese Interpretation hinnehmen oder nahmen sie erst gar nicht wahr, um den Ratifikationsprozess nicht in letztem Augenblick zu gefährden. Als „Glanzstück der Rechtsgeschichte“ wurde dieses Karlsruher Urteil zu Lissabon von deutschen Staatsrechtlern gefeiert, weil es eben festlegte, dass der Vertrag nicht für alle Staaten gleich gilt, dass das deutsche Verfassungsgericht und der deutsche Bundestag auch weiterhin europäische Kompetenzverschiebungen und Gesetzesverfahren stoppen, dass das deutsche Verfassungsgericht den Europäischen Gerichtshof übertrumpfen kann. In der alltäglichen Politik wird man hiervon wenig spüren, denn die verläuft ja ohnehin nach deutschen Vorstellungen, für Ausnahmefälle hat sich Deutschland aber hiermit die Möglichkeit reserviert, die Souveränität für sich zu beanspruchen.
In Großbritannien weisen zahlreiche Europaskeptiker bereits seit längerem darauf hin, dass sich die EU bisweilen wie eine Umsetzung der Expansionspläne des deutschen Finanzkapitals und nationalsozialistischer Raumplaner liest. Vordenker des „Lebensraums im Osten“ hätten diesen zunächst nicht primär militärisch, sondern durch Infrastrukturprogramme, zusammenhängende Währungs- und Wirtschaftsräume über „zentrale Orte“ erschließen wollen und eine deutsche Großraumordnung für Europa gefordert. Der übereilte, kriegerische Versuch hierzu hat Deutschland demnach in seinen Expansionsplänen zunächst zurückgeworfen, die mittlerweile aber im Rahmen der Europäischen Union weitgehend realisiert seien. Viele dieser Kritiker schießen dabei weit über das Ziel hinaus und überbewerten etwa die Tatsache, dass bereits 1942 deutsche Raumplaner und Industrielle eine „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ forderten und sich Konzerne wie die I.G. Farben und die Dresdner Bank in ihrer Unternehmensstruktur bereits auf eine solche einrichteten. Von einer ausreichenden Sensibilität zeugt jedoch auch das im Mai 1999 unter deutscher Ratspräsidentschaft verfasste und in Potsdam veröffentlichte Europäische Raumentwicklungskonzept (EUREK) keinesfalls, das zahlreiche Rückgriffe auf national-konservative und nationalsozialistische Raumordnungskonzepte erkennen lässt und konkrete „raumentwicklungspolitische Vorbereitung der Erweiterung der Union um die elf Beitrittsstaaten“ benennt.
Dass die EU in ihren neuen und zukünftigen Mitgliedsstaaten vor allem durch den Bau neuer Infrastrukturprojekte – insbesondere Autobahnen – in Erscheinung tritt und dass diese zu einem immensen Anteil von deutschen Planern entwickelt wurden, kann sicherlich kaum überraschen. Tatsächlich wird aber beispielsweise auch in der Entscheidung der Außen- und Verteidigungsminister zu einem EU-Militäreinsatz in Bosnien und Herzegowina (2004/570/GASP) unter Artikel 1 („Aufgaben“) festgehalten, dass der EUFOR-Einsatz „Teil des allgemeinen Europäischen Raumentwicklungskonzepts (EUREK) in Bosnien und Herzegowina“ ist. Dass also die Europäische Raumentwicklung heute auch wieder Soldaten und Protektorate beinhaltet, mag dann doch erschüttern.
Das aktuell größte diskutierte Infrastrukturprojekt wird wiederum von einem Konsortium aus Münchener Rück, Deutsche Bank, Siemens, E.ON und RWE vorangetrieben und vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt wissenschaftlich begleitet: DESERTEC. Von Senegal bis Eritrea sollen entlang der gesamten nordafrikanische Küste sowie in weiten Teilen der Sahara Wind- und Solarkraftwerke gebaut und mit einem Hochspannungs-Übertragungsnetz mit Europa und untereinander verbunden werden, um bis 2050 10–25 % des europäischen Strombedarfs zu bedienen. Ein deutscher Energiekommissar (Öttinger) wurde dazu passend ernannt, um die hierfür notwendige politische und finanzielle Unterstützung durch die EU zu gewährleisten. Natürlich müssen in den betreffenden Ländern zunächst die entsprechenden wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden und natürlich wird das auch Militärinterventionen, Sicherheitssektorreformen und die Ausbildung von Sicherheitskräften beinhalten. Natürlich muss auf diese neue Abhängigkeit auch mit einer entsprechenden NATO-Strategie reagiert werden, welche die Unterbrechung der Energiezufuhr als Angriff definiert und somit Interventionen des Bündnisses in den betreffenden Staaten ermöglicht.
Die militärischen Strategien der Europäischen Union sind bereits auf solche begrenzten Interventionen zum Schutz kritischer Infrastrukturen gegen Rebellengruppen (EU-Battlegroups) oder Proteste und Sabotage (European Gendarmerie Force, EGF) ausgerichtet. Deutschland stellt dabei nur einen kleinen Teil der beteiligten Truppen, ist aber bei den Komponenten Aufklärung und Führung stets dominant beteiligt. Insbesondere aber strebt Deutschland gegenwärtig an, den Posten des Stellvertreters der Hohen Vertreterin für die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik im neuen Europäischen Auswärtigen Dienst zu besetzen. Während diese vorwiegend mit repräsentativen Aufgaben betraut ist, wäre es somit ein Vertrauter der Bundesregierung, der im Hintergrund sämtliche außenpolitischen Instrumente der Europäischen Union, von der Entwicklungs- über die Visa- und Migrationspolitik bis hin zu geheimdienstlichen und militärischen Missionen koordiniert. Ein wahres Meisterstück der deutschen Dialektik von Niederlage aus Größenwahn und Großmachtstreben.
Christoph Marischka ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI)
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