Bisheriger Verlauf – Entwicklungstendenzen – Wahrnehmung von unten
von Karl Heinz Roth
aus telegraph 120 | 121
Vor gut zwei Jahren – im August 2007 – erreichte die aktuelle Weltwirtschaftskrise mit dem Kollaps der internationalen Geldmärkte einen ersten Höhepunkt. Aber erst als im September 2008 in den USA die beiden größten Hypothekenbanken, der weltgrößte Versicherungskonzern und zwei hochrangige Investmentbanken zusammenbrachen, wurde vielen Menschen bewusst, dass die Entwicklung unmittelbare Folgen für ihre soziale Situation haben konnte. In diesen Wochen geriet das gesamte kapitalistische Weltsystem ins Wanken. Es wurde sichtbar, dass die Zyklen und Krisen der Kapitalakkumulation das gesellschaftliche Leben bestimmen. Auch wird immer heftiger um die Frage gerungen, wer für die sozialen Kosten und die immensen Ausgaben für die Rettungspakete und Stimulierungsprogramme der öffentlichen Haushalte aufkommen soll, die in der ersten Phase der Krise gestartet wurden.
I. Die erste Phase der aktuellen Weltwirtschaftskrise
Die erste Weltwirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts begann um die Jahreswende 2006/2007 als Struktur– und Überkapazitätskrise der Kraftfahrzeugindustrie und als Hypotheken– und Immobilienkrise in der Transatlantikregion. Dabei kamen vier Faktoren zum Tragen, die sich gegenseitig verstärkten. Im Gefolge der Hypothekenkrise brach erstens in den USA der Massenkonsum zusammen. Dies führte zu einer Schrumpfung der globalen Exportmärkte. Zweitens weitete sich die Hypotheken– und Immobilienkrise auf die internationalen Finanz– und Kreditmärkte aus. Es kam drittens zu einem massiven und lang anhaltenden Abzug der Kapitalvermögen und Investmentfonds aus den Schwellen– und Entwicklungsländern. Viertens wurden in allen Zweigen der gewerblichen Wirtschaft Überkapazitäten offen gelegt, die zum akuten Verfall der Gewinne führten und von den Unternehmensleitungen mit Investitionseinschränkungen und Massenentlassungen beantwortet wurden. Diese vier ineinander greifenden Phänomene führten seit dem Frühjahr 2008 zu einem globalen Schwelbrand. Die Talsohle der Krise wurde im April/Mai 2009 erreicht. Bis jetzt wurden Kapitalvermögen und Einkommen im Volumen von mindestens 30 Billionen US–Dollar vernichtet.
In einer ersten Zwischenbilanz können wir festhalten, dass es sich um eine typische Krisenkonstellation des industrialisierten Kapitalismus handelte: Der akut zutage getretenen Überakkumulation des Kapitals steht eine massive Unterkonsumtion gegenüber, die in dem Augenblick manifest wurde, als es den privaten Haushalten der globalen Unterklassen nicht mehr gelang, ihre seit Jahren gesunkenen Realeinkommen durch Kreditaufnahme und Verschuldung auszugleichen.
Hinter dieser Entwicklung standen indessen tiefere strukturelle Ursachen, die aus dem großen Zyklus der 1970er Jahre bis 2007 herrührten. Erstens waren die neuen Massenbedürfnisse und Lebensstile den prekären Arbeitsverhältnissen des Post–Fordismus unterworfen. Dies wurde zweitens durch die Tatsache erleichtert, dass im Bereich der Informatik neue Basisinnovationen entwickelt wurden, die weltweit für eine Strategie der Unterbeschäftigung genutzt werden konnten. Drittens hatten sich neue Netzwerkunternehmen herausgebildet, die Wertschöpfungsketten weltweit reorganisierten und nach den Standorten mit den niedrigsten Arbeitskosten auszurichteten. Parallel dazu hatten viertens die Kapitalvermögensbesitzer die Globalisierung der Finanzmärkte vorangetrieben und das bisherige Regime der moderat und mittelfristig ausgelegten Gewinnschöpfung durch ein Konzept der beschleunigten Profitmaximierung ersetzt. Fünftens hatte sich der informelle Kolonialismus zu einem offenen Kolonialismus der Protektorate und der Bildung von Reservaten zur Kontrolle der Massenarmut des Südens gewandelt. Von erheblicher Bedeutung war sechstens das Aufkommen einer neuen Weltwirtschaftsachse zwischen Peking und Washington, bei der sich die klassischen Schuldner–Gläubiger–Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie umkehrten. Von besonderer Bedeutung war schließlich die Herausbildung einer Beziehung zwischen Umweltzerstörung und Öko–Kapitalismus. In den vergangenen Jahrzehnten waren die natürlichen Ressourcen in einem nie da gewesenen Ausmaß inwertgesetzt worden.
Doch zurück zu den Tatbeständen der aktuellen Krise. Die politischen Klassen der Nationalökonomien und der internationalen Institutionen reagierten massiv. Seit dem Sommer 2007 schnürten sie in der Transatlantikregion Rettungspakete zur Stützung einzelner Finanzkonzerne, die als „systemwichtig“ galten. Darauf folgten ab September 2008 gewaltige nationale und supranationale Stabilisierungsprogramme, und bis Ende März 2009 erreichten die öffentlichen Mittelzuschüsse zur Rettung des Finanzsektors ein Volumen von neun Billionen US–Dollar.
Von großer Bedeutung waren die Aktivitäten der Zentralbanken. Seit dem Sommer 2007 mobilisierten sie mehrere hundert Milliarden Dollar zur Stabilisierung der internationalen Geld– und Interbankenmärkte. Darauf folgten koordinierte Aktionen zur Senkung der Zinssätze, die schließlich gegen Null tendierten. Anschließend kauften viele Notenbanken Wertpapiere und Staatsanleihen auf, um die Geld– und Kapitalmärkte mit zusätzlicher Liquidität zu überschwemmen und die Kreditsperre der Banken auszugleichen. Auch der Internationale Währungsfonds wurde in das Krisenmanagement eingeschaltet und enorm aufgewertet. Er wurde ermächtigt, eine Reihe von Staatsbankrotten – etwa in Island, der Ukraine, in Ungarn, den Baltischen Staaten und Pakistan – durch die Vergabe von Überbrückungskrediten zu moderieren.
Seit November 2008 liefen in den großen Nationalökonomien der Triade (USA, Japan und Europa) sowie der führenden Schwellenländer China und Russland fiskalpolitische Konjunkturprogramme an. Sie sollten die private Kapitalbildung durch Investitionen in die Infrastruktur ankurbeln. Besonderes Aufsehen erregten die Aktivitäten mehrerer Regierungen zur Stützung des zusammengebrochenen Automobilsektors, wobei Frankreich und Spanien als Vorreiter agierten. Es wurden umfangreiche Subventionen und Überbrückungskredite gewährt, Abwrackprämien vergeben und Zuschüsse zur Stabilisierung der Eigenkapitalbasis mobilisiert. Sie ermöglichten harte Restrukturierungsmaßnahmen, die durch Staatsbeteiligungen am Aktienkapital und die Umwandlung des Lohnverzichts der drastisch abgeschmolzenen Belegschaften in gewerkschaftliche Aktienfonds abgesichert wurden.
Aus der Gesamtperspektive bleibt festzuhalten, dass die Akteure der Regulationssysteme in der ersten Phase der aktuellen Weltwirtschaftskrise ein gewaltiges Anti–Krisenprogramm auflegten, das auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzte und alle historischen Vorläufer deutlich in den Schatten stellte.
Ein weiteres markantes Phänomen der ersten Krisenphase bestand darin, dass die Rettungsprogramme zeitweilig mit weit reichenden Absichtserklärungen zu sozialpolitischen Reformen verbunden waren. In diesem Kontext ist auch der Versuch der im Januar 2009 angetretenen Obama–Administration zu sehen, in den Vereinigten Staaten eine umfassende Gesundheitsreform einzuführen. Als Kernstück war dabei die Implementierung einer öffentlichen Krankenversicherung für alle US–Bürgerinnen und –Bürger vorgesehen, deren operatives Kapital im Umfang von knapp 900 Milliarden Dollar innerhalb von zehn Jahren durch eine Zusatzbesteuerung der Spitzeneinkommen sowie Rationalisierungs– und Kostensenkungsprogramme in der Versicherungs– und Pharmabranche aufgebracht werden soll. Hinzu kamen weit reichende Reformversprechen auf internationaler Ebene. Im April 2009 verständigten sich die Staats– und Regierungschefs der G20–Gruppe auf umfassende Maßnahmen zur Regulierung des globalen Finanzsektors. In diesem Kontext stärkten sie die Position des IWF, der als koordinierende Exekutivinstanz aktiv werden sollte. Sein Eigenkapital wurde um 500 Milliarden Dollar auf 750 Milliarden Dollar aufgestockt. Die G20–Gruppe stand zu dieser Zeit ersichtlich unter dem Konkurrenzdruck seitens einer Expertenkommission der Vereinten Nationen, die unter Leitung des Ökonomen Joseph E. Stiglitz mit sehr viel weiter reichenden Reformvorschlägen aufwartete, etwa der Ablösung des US–Dollar durch ein neues Weltgeld, der Etablierung einer globalen Behörde zur Kontrolle der Finanzmärkte und der Einführung eines globalen Kreditfonds.
II. Die aktuelle Situation und die voraussichtliche weitere Entwicklung
Zweifellos gibt es inzwischen markante Erholungszeichen. Viele Nationalökonomien der Triaderegion stabilisieren sich auf niedrigem Niveau; dazu gehören vor allem Frankreich, Deutschland, die Schweiz und die Vereinigten Staaten. Einige große Schwellenländer – vor allem China und Brasilien – scheinen wieder zu den hohen Wachstumsraten der Vorkrisenjahre zurückzukehren, und vor allem in China könnten sich die öffentlichen Konjunkturprogramme zur Stimulierung des Straßen– und Autobahnbaus mit dem Aufschwung der Kraftfahrzeugindustrie zu einer ausgesprochenen Motorisierungskonjunktur zusammenfügen.
Entsprechend wittern die Kapitalvermögensbesitzer Morgenluft. Aus den finanzpolitischen Rettungspaketen sind hunderte Milliarden US–Dollar auf die Geld– und Kapitalmärkte geflossen. Die weltweiten Aktienkurse haben sich deutlich erhöht und inzwischen wieder die Hälfte des Vorkrisenstands erreicht. Ähnliche Tendenzen sind auch auf den Rohwaren– und Devisenmärkten zu beobachten. Vor allem die Preise der Industriemetalle haben wieder angezogen, und auf den Devisenmärkten sind die Renditejäger wieder unterwegs.
Diesen Erholungszeichen stehen jedoch gewichtige aktuelle und strukturelle Gegentendenzen gegenüber. Aktuell befindet sich die Weltwirtschaft in einer anhaltenden Preisdeflation. Der Preisverfall hat sein Epizentrum in Japan und wird vor allem durch die sinkenden Masseneinkommen und die Stagnation des Welthandels aufrecht erhalten. Des Weiteren befinden sich strategische Wirtschaftssektoren in einer anhaltend tiefen Krise. Hier ist vor allem auf den Transport– und Transportmittelsektor hinzuweisen. Der weltweite Containerumschlag hat sich halbiert. Alle großen Reedereien schreiben rote Zahlen. Weltweit entwickelt sich eine tiefe Hafen– und Schiffbaukrise. Auch die Fluggesellschaften und die Flugzeugindustrie bekommen die Krisenfolgen zu spüren, und die Kraftfahrzeugindustrie der entwickelten Zentren hat nach dem Auslaufen der Abwrackprämien wieder mit Umsatzeinbußen zu kämpfen. Aber auch der Massenkonsum der Vereinigten Staaten ist als mittelfristiger Wachstumsmotor ausgefallen. Selbst wenn sich die wirtschaftliche Erholung weiter konsolidieren sollte, wird die weltweite Massenerwerbslosigkeit zunächst weiter zunehmen, den Niedergang der Masseneinkommen aufrecht erhalten und den Abbau der Überkapazitäten in wichtigen Industriesektoren verzögern. Selbst im Finanzsektor ist die Krise noch keineswegs ausgestanden. Die gewerblichen Immobilien– und Hypothekenmärkte sind keineswegs stabilisiert.
Alle diese Phänomene werden durch eine gewaltige Verschuldung der öffentlichen Haushalte überlagert, die vor allem die Nationalökonomien der entwickelten Zentren – Japan, Europa und die Vereinigten Staaten – erfasst hat. Das Volumen der jährlichen Neuverschuldung schwankt dabei zwischen sechs und vierzehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Noch bedenklicher nehmen sich inzwischen die Gesamtschulden der öffentlichen Haushalte aus, sie erreichen inzwischen in der Euro–Zone 60 bis 70 Prozent und in Japan, Großbritannien und den Vereinigten Staaten ein Mehrfaches des jeweiligen realen Bruttoinlandsprodukts. Das Gesamtvolumen der weltweiten Staatsverschuldung beläuft sich inzwischen auf zwölf bis dreizehn Billionen US–Dollar. Davon entfallen allein auf die Vereinigten Staaten nach offiziellen Angaben 4,3 Billionen Dollar. Allein in der ersten Phase der aktuellen Krise haben die Vereinigten Staaten somit hinsichtlich des deficit spending alle historischen Vergleichsmaßstäbe gesprengt. Können derart gewaltige Staatschulden überhaupt noch auf dem üblichen Weg – durch Steuererhöhungen und Reduktion der Sozialausgaben – gelugt werden? Viele Vordenker der internationalen think tanks bezweifeln dies inzwischen. Sie sprechen sich immer offener für eine Strategie der kontrollierten Hochinflation aus, um die Masseneinkommen auf dem kalten Weg der beschleunigten Geldentwertung weiter zu reduzieren und die Staatsschulden geräuschlos abzubauen.
Zusätzlich müssen wir auch die strukturellen Gegentendenzen beachten. Die bizarre und inzwischen als Chimerica bezeichnete Symbiose zwischen China und den Vereinigten Staaten kann mittelfristig nicht durch ein anderes Wachstumsmodell ersetzt werden. Im Gegensatz zu den Verheißungen der Propagandisten eines Grünen New Deal sind nirgends Basisinnovationen in Sicht, die ausgehend von der Entwicklung ökologischer Technologien einen neuen globalen Wachstumsschub auslösen könnten. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Erholungs– und Depressionsregionen werden sich weiter verstärken. Und schließlich ist völlig ungewiss, welches Weltwährungssystem auf die sich ihrem Ende zuneigende Ära der globalen Leitwährung US–Dollar folgen wird. Beim sorgfältigen Abwägen der hier in groben Umrissen skizzierten Erholungs– und Krisentendenzen drängt sich der Schluss auf, dass wir am ehesten mit einer langen Depression zu rechnen haben. Wir werden uns auf eine mehrjährige deflationäre Periode des großen Zyklus einzurichten haben, die durch niedrige Preise, sinkende Einkommen, stagnierende Gewinne und Investitionen, forcierte Unternehmenszusammenschlüsse, sprunghafte Produktivitätssteigerungen und anhaltende Massenerwerbslosigkeit geprägt sein wird.
Ein weiteres Charakteristikum der im April–Mai 2009 begonnenen zweiten Krisenphase ist das Abbröckeln der strukturellen Reformversprechen, mit denen die gewaltigen Rettungspakete einige Monate lang verbunden waren. Die Anläufe der G20–Gruppe zur Bändigung der Kapitalvermögensbesitzer sind auf einige kosmetische Operationen zur Stillegung der so genannten Steueroasen reduziert worden. Die weitergehende Reformperspektive der UN–Kommission um Joseph Stiglitz ist marginalisiert. Auch die Regierungen der großen Nationalökonomien machen keine Anstalten zu ernsthaften Eingriffen: Die zeitweilig diskutierte Aufspaltung der transnationalen Finanzkonzerne wurde vertagt – sie durchlaufen im Gegenteil einen rasanten Konzentrationsprozess. Diese Entwicklung begünstigt die Rückkehr zur extremen Risikobereitschaft, denn die Regierungen können die neuen Mammutinstitute aus Gründen der Systemerhaltung noch weniger als bisher bankrott gehen lassen.
Das sind nur die wichtigsten Beispiele. Die trügerischen und labilen Erholungszeichen der letzten Monate scheinen ausgereicht zu haben, um die strukturellen Reformkonzepte wieder von den Rettungs– und Stabilisierungspaketen abzukoppeln.
Diese Entwicklungstendenzen stehen mit einer Neu–Ausrichtung der internationalen Machtpolitik in Zusammenhang. Die Welthegemonie der Vereinigten Staaten von Amerika neigt sich seit längerem ihrem Ende zu, aber dieser Prozess hat sich seit Krisenbeginn erheblich beschleunigt. Wir sind inzwischen Zeugen einer multipolaren Blockbildung, die neue wie alte imperialistische Regionalzentren hervorbringt. China kontrolliert inzwischen nicht nur die Märkte Südostasiens, sondern bringt auch die Rohstoffsektoren Australiens, der Pazifikregion und des subsaharischen Afrika unter seine Kontrolle. Um die neuen Rohstoffrouten und –Zentren militärisch zu sichern, baut die Zentralregierung die Kriegsmarine massiv aus und reorganisiert ihre Landstreitkräfte, um sie auf Auslandseinsätze vorzubereiten. Die brasilianische Regierung hat einen strategischen Rüstungspakt mit Frankreich geschlossen, um die vor der Atlantikküste neu entdeckten Erdöl– und Erdgasvorkommen durch die Aufrüstung der Marine und Luftwaffe zu sichern. Auch Indien rüstet massiv auf, um die Handels– und Transportrouten des Indopazifik und der ostafrikanischen Küste unter Kontrolle zu bringen. In Russland wiederum war der militärisch–industrielle Komplex seit Krisenbeginn ein Eckpfeiler der antizyklischen Staatsintervention. Währenddessen entdeckten auch die Vereinigten Staaten ihren lateinamerikanischen „Hinterhof“ neu: Der in Kolumbien beginnende Wiederaufbau strategischer Militärbasen löste in Lateinamerika umgehend eine neue Aufrüstungswelle aus. Angesichts dieser unzweideutigen Tendenzen wollte auch die Europäische Union nicht zurückstehen. Sie initiierte in ihren Kernländern eine verschwiegene Aufrüstungswelle, die mit der Schwarzmeerregion als dem nächsten Expansionsziel korreliert ist. Über alle diese bedrohlichen Entwicklungstendenzen diskutiert kaum jemand. Sie werden derzeit noch durch die asymmetrische Kriegskoalition der USA mit ihrem Focus Afghanistan überlagert.
Es gibt jedoch auch Gegentendenzen, die die sich abzeichnende Entwicklung deutlich von den Prozessen der imperialistischen Blockbildung in den 1880er/1890er und 1930er Jahren unterscheiden. Auf ihrer jüngsten Gipfelkonferenz in Pittsburgh etablierten sich die Regierungen der G20–Gruppe als neues Koordinationszentrum des Weltsystems. Sie beließen es dabei keineswegs nur bei Absichtserklärungen, sondern werteten den IWF zu einem Exekutivorgan auf, das als perspektivische Welt–Zentralbank wirtschaftliche Ungleichgewichte ausgleichen und als lender of last resort zum Abbau der gigantisch angewachsenen Devisenreserven der großen Schwellenländer beitragen soll. Angesichts der schon im April 2009 erfolgten Aufstockung des Eigenkapitals und der Sonderziehungsrechte des IWF sind diese Beschlüsse durchaus ernst zu nehmen. Gegenwärtig kann niemand voraussagen, ob wir tatsächlich einer Ära des kollektiv koordinierten Imperialismus entgegengehen, dessen Umrisse Karl Kautsky schon vor über 90 Jahren skizziert und als Ultra–Imperialismus bezeichnet hatte. Und sollte es der G 20–Gruppe tatsächlich gelingen, die immer stärker zutage tretenden Rivalitäten der multipolaren Großmächte auszugleichen, dann bliebe immer noch die Frage offen, wie lange diese Konstellation Bestand hat. Erst gegen Ende der kommenden langen Depression wird sich entscheiden, ob es sich bei dieser Konstellation nur um ein Übergangsphänomen handelte, bis sich ein neues hegemoniales Zentrum etablierte, oder ob sie von längerer Dauer sein wird.
III. Krisenerfahrungen aus der Perspektive von unten
Für das globale Multiversum der Erwerbsabhängigen, Erwerbslosen und Pauperisierten birgt keine der möglichen Auswirkungen der aktuellen Weltwirtschaftskrise positive Aspekte. Es ist mit Programmen zur Krisenbekämpfung konfrontiert, die sich ihrer strukturellen Reformkomponenten weitgehend entledigt haben. Die globalen Unterklassen müssen sich auf einen Krisen–Keynesianismus einrichten, der sich aller sozialpolitischen Konzessionen an die Stabilität der Masseneinkommen und das Beschäftigungswachstum entledigt hat.
Für die globalen Unterklassen der Erwerbsabhängigen, Erwerbslosen und Pauperisierten brachte die seit der Jahreswende 2006/2007 über sie hereingebrochene Krise teilweise traumatische, teilweise aber auch paradoxe Erfahrungen. Gegenwärtig ist es trotz aller Anstrengungen noch nicht möglich, diese Erfahrungshorizonte auch nur annähernd zu umreißen. Es scheint lediglich festzustehen, dass sich die im vorangegangenen Zyklus in Gang gekommene Auflösung der Dreiteilung des Weltsystems – Zentren, Semiperipherie und Peripherie – auch hinsichtlich der Arbeits–, Einkommens– und Ernährungsverhältnisse weiter beschleunigt. Die Massenarmut ist keineswegs mehr nur ein Phänomen des globalen Südens, sondern dringt zunehmend auch in die Schwellenländer und die Triaderegion vor. Umgekehrt vermochten die fest beschäftigten Teile der Weltarbeiterklasse in allen Weltregionen ihr Einkommensniveau einigermaßen zu halten, während die erwerbslos Gewordenen aufgrund des im Vorzyklus erfolgten Abbaus der sozialen Sicherungssysteme rasch zu den langfristig Un– oder Unterbeschäftigten aufschlossen. Parallel dazu beschleunigte die Krise die Ausweitung der prekären Arbeitsverhältnisse in allen ihren Schattierungen. Selbst in den großen Nationalökonomien Japans, der Vereinigten Staaten und Europas haben die unbefristeten und einigermaßen gesicherten Arbeitsverhältnisse den Charakter eines dominierenden „Normalarbeitsverhältnisses“ verloren. Gemeinsam ist den globalen Unterklassen des Weiteren, dass sie auch in den Konstellationen der großen Schwellenländer und der Triaderegion mit Einkommensverlusten durchschnittlich zwischen fünf und fünfzehn Prozent konfrontiert sind. Das erste Jahrzehnt des zweiten Millenniums sieht das globale Multiversum der Erwerbsabhängigen, Erwerbslosen und Pauperisierten in dieser Hinsicht unzweifelhaft in der Position des sozialökonomischen Verlierers.
Insgesamt dominiert somit trotz einiger markanter Gegentendenzen weltweit der soziale Abstieg. Vor allem die laufenden statistischen Überblicke der UN–Organisationen dokumentieren diesen Trend. Den Schätzungen des International Labour Office (ILO) zufolge wird die Zahl der weltweit Erwerbslosen bis Ende 2009 um 40 bis 60 Millionen Menschen zunehmen – der Ausgangssockel der globalen Erwerbslosigkeit umfasste schon zu Krisenbeginn 239 Millionen Menschen. Noch dramatischer sind die aktuellen Berichte der Welternährungsorganisation (FAO), die von einem Anstieg der Zahl der chronisch Unterernährten und Hungernden um 160 bis 200 Millionen auf 1,02 Milliarden Menschen ausgeht. Das aber besagt, dass gegen Ende dieses Jahres eine Milliarde Menschen in rechtlosen, extrem unterbezahlten und gesundheitsschädlichen Gelegenheitsjobs gegen ihren Hunger und ihre Obdachlosigkeit ankämpfen. Das Ausmaß einer derart rapide zunehmenden Massenverelendung überschreitet das gewöhnliche Vorstellungsvermögen. Aber auch der Historiker steht ihm fassungslos gegenüber, denn die aktuelle Weltwirtschaftskrise ist das krasse Gegenstück zu den Hunger– und Subsistenzkrisen der vorindustriellen Ära, die durch Getreidemissernten ausgelöst und insofern typische Unterproduktionskrisen waren. Heute leidet aber auch die Weltlandwirtschaft an Überkapazitäten, und die Preise für landwirtschaftliche Rohstoffe sind drastisch gefallen. In den durch die Welthandelskrise besonders getroffenen Depressionsgebieten herrscht jedoch Hochinflation, und deshalb schlägt sich der Niedergang der Weltagrarpreise nicht in den realen Lebensmittelpreisen nieder. Seit der Preisexplosion vom Sommer 2008 verharren sie noch immer zu einem Viertel über dem Vorkrisenniveau.
Wenden wir uns abschließend einer Region zu, die in arbeits– und sozialpolitischer Perspektive bislang vergleichsweise glimpflich durch die Krise gekommen zu sein scheint – der Euro–Zone. In ihr ist die durchschnittliche Erwerbslosigkeit bis Oktober 2009 auf 9,7 Prozent der erwerbsabhängigen Gesellschaftsgruppen angestiegen, es waren also 15,3 Millionen Menschen betroffen. Die Bandbreite zwischen den einzelnen Nationalökonomien ist jedoch erheblich: In den Niederlanden waren zu diesem Zeitpunkt 3,5 Prozent abhängig Beschäftigte erwerbslos, in Spanien dagegen 19,3 Prozent.
Deutschland befindet sich in einer Mittelposition. Es gab im Herbst 2009 etwa 3,2 Millionen behördlich registrierte Erwerbslose, das waren 7,7 Prozent aller Erwerbsabhängigen. Die Zahl der KurzarbeiterInnen erreichte in der gleichen Zeitspanne 1,4 Millionen, während sich das Spektrum der BezieherInnen des offiziellen Existenzminimums nur geringfügig erweiterte. Dabei gab es jedoch fließende Übergänge zu den arbeitenden Armen des Niedriglohnsektors, die inzwischen 20 Prozent der gesamten erwerbsabhängigen Bevölkerung ausmachen. Darüber hinaus verfügt auch in Deutschland nur noch knapp die Hälfte der abhängig Beschäftigten über einen unbefristeten Arbeitsvertrag und eine einigermaßen hinlängliche soziale Absicherung gegen die Wechselfälle ihres Daseins. Dieser erstaunliche Wandel der Arbeits– und Sozialverhältnisse ist jedoch im Gegensatz zu vielen anderen Nationalökonomien erst jüngsten Datums. Noch vor acht Jahren hätte sich niemand eine derart rasante Sozialdemontage vorstellen können. Da ihre entscheidenden Etappen schon vor Krisenbeginn durchgesetzt worden waren, fiel es den herrschenden Eliten nicht schwer, die seit 2008 einsetzenden Krisenfolgen durch die Verlängerung der Kurzarbeiterregelung abzufedern und ihre Maßnahmen zugleich so zu dimensionieren, dass die Mechanismen der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse auf die Kernbelegschaften ausgedehnt wurden. Das Kurzarbeitergeld dient nicht nur als soziales Ventil zur Begrenzung der Massenerwerbslosigkeit, sondern auch als Spaltungs– und Disziplinierungsinstrument. Der soziale Abstand der Kernbelegschaften zu den Prekären (Leiharbeiter und befristet Beschäftigte) und den Erwerbslosen wird zwar aufrecht erhalten, zugleich werden aber die in die Kurzarbeit Geschickten in eine Reservearmee umgewandelt. Der soziale Alltag der in Deutschland lebenden Erwerbsabhängigen, Erwerbslosen und Pauperisierten ist stark durch diese Sozialtechniken der Klassenfragmentierung geprägt.
Es ist seit der Jahreswende 2008/2009 üblich geworden, die Kernbelegschaften gegen die Leiharbeiter und befristet Beschäftigten auszuspielen; so wurden kürzlich die mit dem Umbau eines Seeschiffs beschäftigten fest angestellten Arbeiter eines Werftunternehmens auf „Kurzarbeit Null“ geschickt, und eine Leiharbeitsfirma erledigte diese Aufgabe mit weniger als der Hälfte ihrer Arbeitskräfte innerhalb der Vertragsfrist. Wer Kontakte mit Arbeiterinnen und Arbeitern aus der Großindustrie hat, erlebt wöchentlich mit, wie die Belegschaften der verschiedenen Konzernstandorte gegeneinander ausgespielt werden. Und er/sie wird Zeuge eines zermürbenden, „sozialverträglich“ moderierten Abstiegs, bei dem um abgestufte Entlassungsschübe, kompensatorische Abfindungen, Frühverrentungen und die Überstellung der Ausgesonderten in gewerkschaftlich gesteuerte Transfergesellschaften gefeilscht wird. Der Unterschied zur sozialen Härte und Direktheit der Krisenerfahrungen der US–amerikanischen Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter ist überdeutlich, und zwischen diesen beiden Konstellationen und den Krisenerfahrungen des Proletariats der Schwellen– und Entwicklungsländer liegen nochmals Welten. Aber wer möchte behaupten, dass die am deutschen Beispiel skizzierte sozialpartnerschaftliche Variante der Klassenfragmentierung und Entsolidarisierung das kleinere Übel darstellt? Wenn wir die mentalitätsspezifischen Aspekte des Sich–Wegduckens, der Entsolidarisierung und des Hoffens darauf, dass es nur die Anderen treffen möge, bedenken, dann sind Zweifel durchaus angebracht. Durch diese Überlegungen sollen die Erfahrungen proletarischer Ausweglosigkeit oder die in den Vereinigten Staaten um sich greifenden Prozesse der psychosomatisch individualisierten Krisenverarbeitung jedoch nicht verharmlost werden. Der subalterne Habitus des Multiversums der Unterklassen hat viele Gesichter. In Krisenzeiten entwickelt er sich besonders kräftigt und differenziert sich in immer neuen Facetten aus.
Karl Heinz Roth ist Sozialforscher, Historiker und Arzt, Mitarbeiter der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts und Mitherausgeber der Zeitschrift Sozial.Geschichte. Er lebt in Bremen. Karl Heint Roth ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema Soziale Bewegungen, Arbeiterbewegung, Repression und zum Nationalsozialismus.
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